Predigt im Gedenkgottesdienst für Jochen Klepper (Röm. 13,11-12)

08. Dezember 2002

Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16)   

Liebe Gemeinde!

Am 27. November 1937 schreibt der Schriftsteller und Kirchenlieddichter Jochen Klepper wie fast jeden Tag ein oder zwei Verse aus der Bibel als Motto für diesen Tag in sein Tagebuch. An diesem Samstag vor dem 1. Advent sind es zwei Verse aus dem Römerbrief des Paulus:

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (Röm. 13,11-12)

Diese wenigen Zeilen lassen den Kirchenlieddichter in den folgenden Adventstagen des Jahres 1937 nicht mehr los. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung in diesen Zeiten nationalsozialistischen Unrechts, zwischen dunkler Nacht und Morgenlicht bewegt sich sein Gemütszustand. Mit Hanni, einer Jüdin, verheiratet, droht ihm immer wieder Schreibverbot und ihr die gesellschaftliche Isolation. Zugleich hat er mit seinem in diesem Jahr veröffentlichten Roman über den Preußenkönig „Der Vater“ einen enormen Erfolg. Aber ständig muss er um gnädige Sondergenehmigungen bitten; hat den endgültigen Ausschluss aus der Schrifttumskammer und damit das existenzielle Aus immer wieder vor Augen. „... meine Seele ist krank“ schreibt er am 16. Dezember in diesen bedrückenden Adventstagen, „nicht an der ‚Zeit’ - am eigenen Menschsein.“ Dunkelheit  und Stille umgibt den angefochtenen Dichter. „Den ganzen Tag wird es nicht hell. ... Wieder bittere Nachrichten aus Palästina. Wer es kann, wandert nach Amerika weiter.“ schreibt er einen Tag später. Aber zur Flucht kann er sich nicht entschließen. Zu sehr hängt er an seinem Vaterland.

Hin und her gerissen zwischen Aufbegehren gegen das Unrecht, verbunden mit der Angst um seine Frau und sein Stiefkind, und seinem preußischen Patriotismus, bleibt er in Deutschland bis es für ihn und die Seinen zu spät ist, bis zum gemeinsamen Tod. Heute vor fast genau 60 Jahren, am 10. Dezember 1942 sieht er für sich und die seine Familie keinen Ausweg mehr in dieser dunklen menschenverachtenden Zeit. Die endgültige Ablehnung einer Ausreise für seine Familie nach Schweden und das totale Schreibverbot haben sein Leben zerstört. Alles ist aus. Da ist kein Licht in dunkler Nacht; jedenfalls nicht auf dieser Welt, nicht in dieser Zeit. Aber selbst in dieser schweren Stunde sucht der verzweifelt Halt in seinem Glauben: „Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun - ach, auch das steht bei Gott - Wir heute nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ so lauten die letzten Zeilen in seinem Tagebuch. Das alles verschlingende Nichts hat bei Jochen Klepper nicht das letzte Wort.

Ein Hilferuf in absoluter Not. Ein Aufschrei aus Tiefe, aus der Finsternis, ein Flehen um Rettung, wie wir es vorhin auch im heutigen Wochenpsalm gehört und gebetet haben. In aller Verzweiflung doch getragen von der Treue Gottes, dass er die Dunkelheit vertreibe und es endlich hell und warm werde.

Ich möchte den 60. Todestag von Jochen Klepper, dem Kirchenlieddichter des 20. Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts der Dunkelheit, zum Anlass nehmen, sein Adventslied „Die Nacht ist vorgedrungen“ (EG 16) ins Zentrum meiner Predigt zu stellen. Dies ist auch ein Ausblick auf seinen 100. Geburtstag im März des kommenden Jahres.

In den Adventstagen des Jahres 1937 ist Jochen Klepper in seinem Denken immer wieder zu diesen beiden Versen des Römerbriefes zurückgekommen.

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (Röm. 13,11-12)

Und am Vorabend des 4. Advent hat er dann diese Worte des Paulus zu einem Adventslied, oder wie er sagt, zu einem Weihnachtslied verarbeitet: „Die Nacht ist vorgedrungen“.

Die Zeit erkennen, darum geht es in diesem Lied. Will man sich der kraftvollen und fortschreitende Bewegung dieses Liedes aussetzen, diesem Ineinander von Gottes Zuwendung und des Menschen Antwort, will man der inneren Dramatik dieser fünf Strophen nachspüren, dann ist ein kleines Wort hilfreich. Es hat nur drei Buchstaben, aber es kommt in fast jeder der Strophen einmal vor. Nur in der letzten Strophe ist es dann entbehrlich geworden. Es ist das Wort „nun“. Vielleicht achten sie darauf, wenn wir jetzt nacheinander die einzelnen Strophen gemeinsam singen. Ich bitte sie nun die erste Strophe zu singen.

Singen von EG 16,1

Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.

Das Rufen des Menschen aus tiefster Bedrängnis und Not, sein Schreien aus der Dunkelheit des Terrors der Lager wie hier in Dachau oder der Finsternis scheinbar allmächtiger Despoten, die einfach Menschen verschwinden lassen, dieser Aufschrei in der Finsternis von Menschenrechtsverletzungen wird hier zum Weckruf. Die Stricke und Banden, die die Menschen fesseln, die zerreißen.  Die Nacht der Verlassenheit, von Gott und den Menschen, die hat ein Ende. Licht scheint auf am Ende des Tunnels. Was uns da widerfährt, das kann und darf uns nicht gleichgültig lassen. Nun, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, wenn die Stunde des Lichts da ist, die ersten Strahlen unser Gesicht erhellen, nun sind wir gefragt. Wenn das Licht unsere Augen öffnet, dann will auch unser Mund reden. Wahrlich ein Weckruf aus der Nacht und Dunkelheit unserer Gottvergessenheit. Gott hat uns nicht vergessen. Froh dürfen, ja sollen wir mit einstimmen. Aller Not zum trotz. Wir sind nicht allein. Das fröhliche Lob Gottes ist unsere Antwort. Ein frohmachendes „Dennoch“ spricht aus dieser ersten Strophe.

Was sind nun die Waffen des Lichts, von denen Paulus spricht. Nun, wenn wir die Zeit erkannt haben, ist es das Vertrauen allein auf Gottes Kraft. Er, der Schöpfer, der Licht und Finsternis geschieden hat, der wird auch unserer Dunkelheit ein Ende bereiten. Im Lichte des Advent können wir fröhlich in dieses Lob Gottes einstimmen.

Denn Gottes Licht erhellt jede Dunkelheit, nichts kann es aufhalten. Es scheint grenzenlos. Lassen sie uns die zweite Strophe singen.

Singen von EG 16,2

Dem alle Engel dienen,
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.

Gott selbst greift hier ein. Ihm sind wir nicht einerlei. Eine Zeitenwende wird mit diesem zweiten „nun“ markiert. Der Herrscher wird zum Kind und Knecht. Damit, mit dieser Umwertung aller Werte, ist es ein für alle mal geschehen. Gott selbst wird bis zum Kreuz für sein Recht einstehen. Er selbst schafft Recht, das Recht, das eigentlich wir ihm schuldig sind. Er tritt für uns ein, tritt an unsere Stelle. Nur unser Glauben an dieses unscheinbare Kind wird von uns eingefordert. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Gott selbst teilt unser Schicksal mit uns. Ob hier in Dachau vor 60 Jahren oder ob heute in Algier. Ob in Tschetschenien oder in Jerusalem. Gott bleibt bei den Geschundenen dieser Welt. Und auch bei den Mördern und Tätern. Auch von ihnen lässt er nicht. Da gibt es keine dunklen Ecken, in die man sich verkriechen kann. Sein Licht reicht soweit wie seine grenzenlose Liebe zu den Menschen.

Gott selbst erkennt uns. Dieses nun, diese Zeitenwende steht unverrückbar fest. Darauf können wir uns verlassen. Das Heil ist jetzt da, wie Paulus schreibt. Nun ist es geschehen. Nun ist Gottes Gnade in unsere Welt eingebrochen.
Wir brauchen nur dem hellen und warmen Licht zu folgen. Mit den Worten der dritten Strophe machen wir uns auf den Weg.

Singen von EG 16,3

Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.

Gott hat sich mit uns armseligen Menschen unzertrennlich verbunden. Wir müssen uns nur auf den Weg machen, dann können wir es mit eigenen Augen sehen, es mit eigenen Ohren hören. Diese Wende zum Guten, die ist kein Traum. Diese Wende ist real. Nicht im Machtzentrum, nicht in den Fernsehstudios und Talkshows der Prominenten; sondern am Rande der Gesellschaft, unscheinbar im Stall ist sie geschehen. Mit Ochs und Esel als Zuschauer. Dieses Heil, es lässt sich begreifen, wahrlich sogar mit den Händen greifen. Es ist keine Theorie vom besseren Leben. Es will Praxis sein. Es kann gelebt werden, weil Gott eben mit uns geht, auch wenn der Weg noch so steinig ist.

Dabei markiert dieses dritte „nun“ etwas endgültiges. Nun gibt es kein zurück mehr. Auf Seiten Gottes ist alles klar. Auf seiner Seite bleibt dieser Bund bestehen. Von allem Anfang an und für immer.

Wahrlich etwas Beruhigendes. An uns ist es nun, sich in Bewegung versetzen zu lassen. Damit wir die Zeit erkennen, wie Paulus schreibt.

Damit leugnet Klepper keinesfalls die fortdauernden Leiden der Menschen. Leid und Schuld sind ihm nur allzu vertraut in seiner bedrohten Situation. Die Dunkelheit der Nacht, die Mächte und Gewalten der Finsternis werden immer wieder eindringen in unser Leben. Angst und Furcht drohen dann wieder über uns zu herrschen. Das „nun“ der dritten und der vierten Strophe stellt sich aber quer zu dieser kleinmütigen Angst, die das Licht scheut. Lassen sie uns jetzt die vierte Strophe singen.

Singen von EG 16,4

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.

Aber, und das ist für Klepper entscheidend, letztlich, nun, wie er schreibt, haben die dunklen Mächte selbst keine Macht mehr über uns. Nun wandert mit allem der Stern der Gotteshuld. Dieses vierte „nun“ spricht von der Verlässlichkeit der Zeitenwende schon im jetzt und hier. Diese „nun“ ist von Dauer!
Es geht darum, nicht selbst eine heile Welt zu bauen, einen neuen und vollkommenen Menschen züchten zu wollen. Diese Hybris vom neuen Menschen, der sich selbst rettet, was natürlich nur auf Kosten der Mitmenschen geht, hat im vergangenen Jahrhundert in Deutschland schon zweimal zu menschenverachtenden Terror geführt.

Dieses „nun“ von Jochen Klepper, diese Waffen des Lichts, von denen Paulus spricht, sie sind menschenfreundlich, weil von Gott geschenkt.

Liebe Gemeinde, ein vierfaches  „nun“ hat uns durch dieses Adventslied bisher begleitet, uns auf die zarte und doch klare Spur von Gottes leuchtender Zuwendung gebracht [Hinweis auf die leuchtenden Kerzen des Adventskranzes]. Das rufende „nun“ der ersten Strophe, dieser Weckruf. Das „nun“, das die plötzliche Wende markiert, wo etwas mit uns, zu unserem Wohl geschieht in der zweiten Strophe. Und dann das „nun“ der endgültigen und unzerbrechbaren Treue Gottes zu uns in der dritten Strophe.  Darauf können wir heute, in dieser Welt bereits bauen. Von dieser Verlässlichkeit, dieser lichtvollen Begleitung spricht das „nun“ in der vierten Strophe. Das Licht, der Morgen, der Neubeginn ist von Dauer.

Und „nun“ wollen wir die fünfte und letzte Strophe gemeinsam singen.

Singen von EG 16,5

Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.

Das richtende Handeln Gottes steht „nun“ plötzlich im Zentrum dieser Strophe und am Schluss dieses Adventsliedes. Wer durch das vierfache „nun“ gegangen ist, sich hat wachrufen lassen, mit klarem Blick und offenem Ohr die Wende wahrgenommen hat, sich aufmacht, zu den Menschen und sich dabei von Gott getragen weiß, der ist angekommen. Der Advent ist zu Ende. Alle vier Kerzen leuchten dann und erhellen die Dunkelheit. Nun wird das Urteil gefällt. Alle „nun’s“ sind nun an ihr Ende gekommen.

Das der Mensch am Ende, im letzten Gericht von Jesus Christus selbst, also von dem, der ihn treu begleitet hat, gerichtet werden wird, ist kein Schrecken, sondern eine dem Menschen, eine uns widerfahrende Wohltat. Denn das Gegenteil wäre wirklich schrecklich und bedrohlich. Es wäre ein Ausdruck von Gottverlassenheit, wenn Gott nicht über uns urteilen würde. Dann würde die Weltgeschichte und jede persönliche Lebensgeschichte ins Leere laufen, würde im Nichts verschwinden, so wie Diktatoren Menschen einfach verschwinden lassen. Und so wäre die Weltgeschichte selbst das Weltgericht. Jeder wäre sein eigener Richter. Nicht nur eine absurde, sondern auch eine schreckliche, eine unmenschliche Vorstellung. Denn das hieße, dass am Ende die Siegreichen über ihre eigenen Untaten zur Gericht sitzen müssten. Ein Triumph der Gewalt wäre die Folge, wenn am Ende die Mörder über ihre Opfer zu richten hätten. Das Ausbleiben das göttlichen Gerichts wäre der schreckliche Ausdruck göttlicher Gleichgültigkeit uns Menschen gegenüber.

Das Gericht, von dem Jochen Klepper hier spricht, ist eben kein dunkler Schatten, der schon jetzt auf unser hier und heute fällt. Sondern das Gericht Gottes ist ein Licht, das hier und heute auf uns scheint, unseren Lebensweg erleuchtet.

Es ist das Gericht des Jüngsten Tages. Wir sollten dieses Sprachbild des „Tages“ ernst nehmen. Das Gericht wird zu Tage bringen, was geschehen ist. Dieses Gericht scheut das Licht des Tages nicht. Kein Dunkel und auch nicht das Zwielicht der Lüge taugen dann zum verstecken. Nur Nachts sind alle Katzen grau.

Gottes Licht bringt Klarheit in unsere Welt. In diesem Licht wird der Mörder den Anblick seiner Opfer aushalten können und das Opfer seinen Anblick als eines begnadeten Verbrechers ertragen können müssen. Gnade heißt ein solches Licht. Ein Licht, welches das Dunkel überhaupt erst als Dunkel identifizierbar macht.

Damit wir die Zeichen der Zeit erkennen:

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (Röm. 13,11-12)

Amen.