Predigt am 1. Weihnachtstag in der Neustädter Marienkirche in Bielefeld (Lukas 2, 15-20)
25. Dezember 2002
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen.
Liebe Gemeinde,
die Weihnachtsgeschichte, so wie Lukas sie erzählt, haben wir eben gehört. Diese Geschichte von der Geburt Jesu ist keine Geschichte wie jede andere. Sie ist etwas Besonderes. Unendlich viele Bilder wurden von ihr gemalt, viele von uns kennen den Wortlaut auswendig. Viele Bilder steigen auch in uns auf, Erinnerungen und Gedanken, Stimmungen der Kindheit. In dieser Geschichte ist all das zusammengefasst, was wir mit dem Weihnachtsfest verbinden. Alles mögliche im Weihnachtsgottesdienst kann ausgetauscht oder verändert werden, die Weihnachtsgeschichte aber gehört unbedingt dazu, weil sie in vertrauten und schlichten Worten das aussagt, was Grund unserer weihnachtlichen Freude ist: die Geburt Jesu in Bethlehem.
Heute morgen sind wir durch den Predigttext aufgefordert, den Weg der Hirten von den Feldern nach Bethlehem noch einmal mitzulaufen oder besser: diesen Weg mitzuerleben, nachzuspüren. Denn die Distanz ist eigentlich keine räumliche Trennung zwischen dem Ort, an dem die Hirten ihrer Arbeit nachgehen, und dem Geschehen im Stall von Bethlehem. Hätten sie nicht eine Vision gehabt, das Erscheinen der Engel, dann hätten sie auch nichts bemerkt, nichts Besonderes an dem Ereignis im Stall wahrgenommen. Die Hirten folgen ihrer Vision, sie gehen dem nach, was sie wie in einem Traum gesehen haben. Und so ist ihr Weg zum Stall ein Weg dorthin, wo die Vision von der Menschwerdung Gottes wahr werden soll. Ihr Weg ist ein Weg auf der Suche nach dieser weihnachtlichen Wahrheit.
Ich lese aus Lukas 2 die Verse 15 bis 20:
„Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.
Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.
Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.
Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten.
Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.
Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“
Die Hirten sehen mit eigenen Augen, was die Engel ihnen verheißen hatten. Aber: Ist diese erbärmliche Szene in einem Viehstall denn wirklich so verheißungsvoll? Was soll denn aus so einem Kind werden? Und bei Lichte besehen ist die Weihnachtsgeschichte eine einzige große Enttäuschung. Rettergestalten, wie wir sie uns wünschen, müssten schon übermenschliche Kräfte haben. Sie müssten Tyrannen entmachten, den Frieden dauerhaft sichern. Sie müssten die Hungernden satt machen und Medikamente für unheilbare Krankheiten zur Hand haben. Sie müssten den Wert des Menschen in den Mittelpunkt stellen, ihn mit Arbeit und Lohn versorgen. Vielleicht wünschen wir uns ja auch, dass so eine Rettergestalt die wirtschaftliche Situation in unserem Land auf neue Bahnen setzt. Ich bin mir sicher, dass gerade in diesem Jahr unser Weihnachtsfest für viele Menschen nicht nur ein Fest der Freude ist, sondern auch Tage der Sorge und Unruhe im Blick auf die Zukunft. Da ist und bleibt auch in diesen Tagen die Sorge um den Arbeitsplatz, die Enttäuschungen über die erfolglose Suche in den vergangenen Monaten. All das wird ja in diesen Weihnachtstagen nicht aus unseren Gefühlen und Gedanken gestrichen und geht mit in das neue Jahr. Ich bin gerade in den vergangenen Tagen und Wochen mit den Sorgen um Arbeit und Wohl der Menschen in unserem Land in massiver Weise konfrontiert worden. Und ich kann die Weihnachtsgeschichte nur hören und verstehen, indem ich diese Sorgen mitnehme auf meinen Weg zur Krippe. Auf der Suche nach der weihnachtlichen Wahrheit lassen mich die Nöte der Menschen nicht los, sie gehen mit und sind mit den Hirten auf dem Weg zur Krippe. „Ich komme bring und schenke dir, was du mir hast gegeben“ [wird im GD gesungen].
Im Blick auf unsere Wünsche ist die Weihnachtsgeschichte ernüchternd und enttäuschend. Nichts von den Rettergestalten, wie wir sie bräuchten und sie uns wünschten, ist dort in der Krippe zu sehen.
Die Rückseite aber dieser Enttäuschung ist eine Befreiung. Von den Täuschungen werden wir durch die Befreiung befreit. Befreit werden wir, die Welt unverblümt und ungeschönt wahrzunehmen. In diesem Sinne ist die Weihnachtsgeschichte eine heilsame Enttäuschung, die uns in ernüchterndes Staunen versetzen kann.
Der Heiland, der am Anfang seines Lebens in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe liegt, nimmt es mit dem Unheil der Welt anders auf, als unser Herz es sich wünscht. Die Weihnachtsbotschaft verkündet einen Retter, der buchstäblich noch in den Windeln steckt. Medizinisch gesprochen behandelt Gott unsere Welt sozusagen homöopathisch. Es ist die kleine Dosis, die die Veränderung bewirkt. Es sind nicht die himmlischen Heerscharen, die wie ein Antibiotikum Schlag auf Schlag ins blutige Weltgeschehen eingreifen und Recht und Gerechtigkeit mit Macht und Gewalt herstellen. Deshalb ist Weihnachten auch nicht die Zeit der großen und gewaltigen Worte, sondern eher der leisen Töne, solcher Tone, die wir anschlagen, wenn wir ein neugeborenes Kind in den Armen halten. Zu Weihnachten wird eher geflüstert als geschrieen, eher gesummt als laut gesungen. Die Nacht der Geburt Jesu ist eine stille Nacht, eine heilige Nacht.
Auch der Ort, in den die Hirten von den Engeln geschickt werden, wo sie dann das Kind und seine Familie finden, ist ein eher unscheinbarer und verschlafener Ort. Jerusalem, das ist die Stadt der Könige, die Hauptstadt, in der es Mauern und Tempel gibt, Priester und Ordnungen und Traditionen, an die ein Herrscher anknüpfen könnte. Aber Bethlehem, diese kleine Stadt war doch schon immer eine Stadt der Hirten, der Ungebildeten und Tagelöhner, kein Ort der großen Politik, sondern ein Ort des alltäglichen Lebens, der sogenannten kleinen Leute. Auch als diese Stadt schon einmal im Blickpunkt der Geschichte stand, wird sie als Ort erwähnt, in dem Gott einen bis dahin unscheinbaren Menschen auserwählt. Es ist die Heimat Davids, des späteren großen Königs Israels. In der Heimatstadt Davids soll der erwartete Retter zur Welt kommen. Als der Prophet Samuel in die Stadt kam, um den kommenden König zu salben, hat er die stattlichen und großen Söhne Isais überschlagen müssen, um schließlich an den kleinen Hirtenjungen David – den jüngsten Sohn Isais - zu geraten. Denn nur die Menschen sehen auf die Schönheit des Äußeren, Gott aber sieht das Herz an. So heißt es in der Erwählungsgeschichte Davids, und es ist zugleich die Jahreslosung für das kommende Jahr. Wir nehmen sie mit in das neue Jahr, die Erwählungen in Bethlehem und den gütigen Blick Gottes in das Innere von uns Menschen. Jesus als ein Spross Isais wird mit seiner Geburt in Bethlehem bewusst in die Familiengeschichte Davids aufgenommen, und darin scheint schon im Kind in der Krippe seine kommende Königsherrschaft auf.
Wenn das Kind von Bethlehem groß ist, wird es uns lehren, im Unscheinbaren das Große zu sehen. Er wird die Armen selig preisen und die, die nach der Gerechtigkeit hungern. Es wird sich nicht blenden lassen von äußerem Reichtum, sondern wird den Menschen ins Herz sehen und dort die Sehnsüchte und Leidenschaften erkennen, um wahre menschliche Größe zu finden. Seine Königsherrschaft wird beginnen, wo Menschen der göttlichen Liebe vertrauen und diese Welt mit Worten und Taten der Liebe zu verändern beginnen. Das alles wird nicht mit der Macht der himmlischen Heerscharen einhergehen, sondern mit der Sanftmut dessen, dem schon eine Geburt auf der Seite der Pracht und der Stärke verwehrt blieb.
Sind wir heute, die wir die Geburtsgeschichte und das Schicksal Jesu Christi kennen, zusammen mit den Hirten der Wahrheit der biblischen Botschaft ein Stück näher gekommen? Die Hirten gehen wieder fort vom Stall und werden zu ersten Boten der weihnachtlichen Freude. Wie viel Gehör man ihnen geschenkt hat, können wir nicht ermessen. Der Wahrheit können wir auf die Spur kommen, wenn wir in der Nachfolge dieses sanftmütigen Königs bleiben, seine Worte uns zu Herzen nehmen und der Welt, so wie sie heute ist, das Evangelium des menschgewordenen und menschenfreundlichen Gottes nicht vorenthalten, ja, es ihr zuweilen entgegensetzen. Dazu gebe Gott uns seinen Segen, er stärke uns mit seiner Gegenwart, lade uns ein an seinen Tisch, damit wir in diesen Weihnachtstagen und darüber hinaus aus seiner Kraft leben.