Predigt zum vorletzten Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag) im Berliner Dom (2. Korinther 5, 1-7)
19. November 2000
Denn wir wissen: wenn unser irdisches Haus, diese Hütte,
abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut,
ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.
Denn darum seufzen wir auch und sehnen uns danach,
dass wir mit unserer Behausung, die vom Himmel ist,
überkleidet werden, weil wir dann bekleidet und nicht nackt
befunden werden.
Denn solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert,
weil wir lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden wollen,
damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.
Der uns aber dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist
gegeben hat.
So sind wir denn allezeit getrost und wissen:
solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn;
denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.
(1) „Denn wir wissen“, sagt Paulus und: „wir sind alle Zeit getrost“.
Die Heilige Schrift will uns locken zur Gewissheit: Leben ist stärker als der Tod.
Unsere irdische Hütte, das provisorische Zelt wird abgebrochen. Gottes Bau ist ewig.
Sterben, das ist Umzug aus dem Vorläufigen ins Endgültige.
Das sterbliche Gehäuse, unser Leib wird vergehen. Dann wird freigelegt, was unsere eigentliche Bestimmung ist.
„Denn wir wissen“, sagt Paulus. Wer kann das schon sagen? Die Anschauung ist dagegen. Wenn Menschen von uns gehen, die uns lieb sind, dann sind wir doch ratlos. Wir selber tragen die Spuren der Vergänglichkeit an uns, je älter wir werden, desto deutlicher. Darum können wir das kaum sagen: Wir sind alle Zeit getrost.
Gewiss, wir erleben auch Menschen, die einverstanden sind mit ihrem Sterben, meistens ist das Ergebnis eines Reifeprozesses.
Manchmal gibt es im Menschen auch die Sehnsucht nach Sterben, wenn die Mühsal des Lebens zu groß scheint. Aber gewöhnlich haben wir die Sehnsucht nach dem Umzug nicht. Wir kleben am Leben.
Darum ist die Gewissheit des Apostels so bewundernswert. Denn er ist eingestellt – allezeit – auf das, was mit Sicherheit eintritt: das Ende der irdischen Existenz.
Aber Paulus entfernt sich damit nicht aus der Realität des Lebens. Er weiß, wie schwer das Leben sein kann.
Gerade unter dem Eindruck des unabwendbaren Sterbens sagt Paulus:
„Wir seufzen - voller Bedrängnis“. Er schließt sich und uns ein.
Wir wissen eben nicht alles. Gerade, was den Übergang angeht von diesem Leben in jenes, sind wir voller Ungewissheit, ratlos, und beschwert.
Wir leiden an den Trennungen, wir klagen über die Schmerzen, wenn Krankheit und Sterben uns liebe Menschen entreißen.
Wir stehen davor, vor dem Übergang. Nackt und leer ist das Sterben.
Es ist nicht nur die Trennung, der Riss, der uns zu schaffen macht; es ist auch die Ungewissheit vor dem, was uns bevorsteht.
Manche Menschen freilich stellen sich den Übergang sehr glatt vor. Es gibt eine Menge von Büchern mit Berichten über Grenzerfahrungen angesichts des Todes. Sie erzählen von Klang- und Lichterlebnissen, die Menschen hatten, an der Schwelle des Todes. Das könnte die Gedanken ans Sterben erleichtern. Aber die, die von der Leichtigkeit berichten und von Schönheit, Ruhe und Licht, sind zurückgekehrt. Die wirkliche Realität des Todes hatte sie noch nicht erfasst. Denn das eigentliche Problem des Todes ist wohl nicht der biologisch-materielle Prozess. Der Tod ist die Stunde der Wahrheit über uns. Unser Leben wird gewogen, vielleicht auch gewertet nach Übereinstimmung von Wort und Tat. Die Masken und Hüllen fallen ab, die eigenen Konten gelten nicht mehr. Das ICH schrumpft auf seine wahren Ausmaße.
Totengedenken ist daher meistens verhüllend. Über die Toten reden wir Gutes. Diskret vermeiden wir, über die Blößen zu sprechen. Das ist keine Heuchelei, wenn wir es bisweilen auch so empfinden. Uns steht es nicht zu, zu urteilen. Wir selber schrumpfen ja auch und bleiben immer zurück hinter dem, was wir sein sollten. Darum steht der Dank im Vordergrund beim Abschied von Menschen.
Mit dem Tod vergeht alles Aufgeblasene und Aufgetragene.
Nackt und bloß und unansehnlich sind wir. Das ist der eigentliche Schrecken des Todes, wenn nichts mehr bleibt, was wir noch ändern können.
(2) Es wäre schön - so ersehnt es mancher -, wenn zwischen Leben vor dem Tod und dem Leben danach ein einfacher Übergang wäre. Religiöse Entwürfe, die heute Konjunktur haben, entsprechen oft solcher Sehnsucht und sind deshalb für manchen attraktiv. Am schönsten, man hätte das Ewige schon in sich und der Tod könnte Befreiung sein vom eigenen Kreislauf.
Aber so ist es uns nicht gesagt.
Der Schrei des Gekreuzigten, die Qualen der Verlassenheit, sind vor das Leben gestellt. Auch das Leben, von dem Paulus weiß, das er mit einem festen Bau vergleicht, liegt erst hinter dem Seufzen und Klagen; es beginnt erst nach der Erfahrung von Rat- und Sprachlosigkeit. Wir müssen hindurch, durch das Sterben. Darum dürfen die Augen vor dem Abgrund nicht verschließen, der zwischen dem Leben jetzt und dem versprochenen liegt.
(3) Wir können aber auch nicht ständig in diesen Abgrund blicken. Wir würden das nicht aushalten oder wir würden abstumpfen. Wir könnten unser jetziges Leben nicht bestehen, wenn wir uns ständig auf sein Ende fixieren ließen.
Deshalb ist es gut, Tage des Gedenkens zu haben wie in diesen Novembertagen. Sie sind dazu da, auf die Realität unserer Sterblichkeit hinzuweisen. Damit relativiert sich manches, was wir so wichtig nehmen und womit wir wichtig tun. Und wir können dann den Alltag anschließend wieder neu ausrichten.
Heute ist Volkstrauertag, der Tag, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken.
An Vielen geht dieser Tag vorüber, ohne dass sie bewegt werden. Für die, die noch unmittelbare Erlebnisse des Krieges hatten, ist es besonders wichtig, einen solchen Gedenktag zu haben. Wer Tod und Zerrissenheit durch Gewalt und Bomben und Geschosse, durch verbrecherische Verfolgung erfahren hat, wird diesen Tag als hilfreich empfinden. Das Gedenken trägt zur Heilung bei.
In unserem Land leben wir nun seit 55 Jahren ohne Krieg. Die meisten haben die unmittelbare Erfahrung des Krieges nicht gemacht. Aber auch für sie ist der Tag wichtig, sie können sich einfühlen, sie können sensibel werden, ob sie die langen Reihen der Kriegsfriedhöfe sehen bei Verdun, in den Vogesen, in den Ardennen und der Normandie oder die Gedenkstätten in Plötzensee oder Auschwitz; ob sie Bücher lesen über diese Zeit oder Filme sehen darüber.
Zwei Weltkriege haben ihre Todesernte gefordert.
Sensibel können wir auch werden im Blick auf die unzähligen Menschen, die gegenwärtig unter Krieg und Gewalt zu leiden haben, im Kongo und Uganda, in Angola, wo die Bürgerkriege sich endlos hinziehen; in Israel und Palästina, wo die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft immer wieder zerbricht.
Freiheit und Gerechtigkeit sind hohe Güter. Sie geraten immer wieder unter die Interessen der Diktatoren und der Geschäftsmacher, und Millionen müssen leiden.
Last uns die Hände falten, gerade an diesem Tag. Die Sehnsucht nach Frieden in den Herzen der Menschen möge sich erfüllen. Die Abgründe des Hasses mögen sich schließen. Dass wir nicht ablassen, uns für Frieden einzusetzen und für Gerechtigkeit und Humanität.
(4) Und dann ist der Trost des Apostel für das Sterben, das nackt und einsam macht; Trost, der die Sehnsucht nach Leben in Gemeinschaft stillt:
Paulus sagt, wir werden nicht nackt sein, sondern überkleidet, damit das Sterbliche verschlungen werde vom Leben.
Das ist ein Bild für den gewaltigen Vorgang der Auferweckung. Die Brücke über den Abgrund ist geschlagen.
Der Geist Gottes ist die Anzahlung, die Vorauszahlung. Er tröstet uns aus jener Welt herüber.
Die Zukunft kommt uns entgegen. Wir müssen nicht rennen.
Wir sehen die Dinge, wie Jesus sie sieht: Der Tod ist nicht die Leere, nicht das Nichts, nicht das Letzte. Der Übergang von hier nach dort ist ER. Wir schauen es noch nicht, aber wir können uns öffnen für den Glauben. Da steht ER, der Auferweckte. An Gottes statt steht er vor uns, und steht an unserer statt als Lebendiger vor Gott. Damit wir nicht vergehen.
ER ist unser Beurteiler, ER sieht uns ganz, auch im kümmerlichen Rest unserer Existenz, ER sucht das Verlorene, ER liebt die Heimkehrenden.
Alle Bilder sind ungenügend, wir stammeln immer nur. Aber wir müssen ja das Geheimnis des Todes nicht lüften, denn wir wissen, Gott wird es recht machen mit uns.
Wir fallen nicht ins Nichts, sondern in seine Hände.
Mehr können wir nicht sagen, mehr brauchen wir nicht zu wissen.
(5) Dieser Trost will nicht betäuben, sondern befreien. „Wir sind getrost“, sagt der Apostel.
Paulus hat sogar Lust, daheim zu sein.
Mir fällt das meistens schwer zu sagen, denn ich habe noch Lust zu leben. Aber es gibt die traurigen Stunden, die depressiven.
Dann können wir getrost sein und jeden Tag als Geschenk nehmen, so mühsam er auch scheint; können ihn leben als Chance des Reifens und Wachsens.
Die Hoffnung gibt dem Leben hier und jetzt schon Kraft, und wir können dieses Leben bestehen.
Noch sind wir weit entfernt von der Welt, die von Christus durchdrungen ist. Noch sind unsere Schritte der Nachfolge so zaghaft und stolprig. Aber das Wort des Lebens lässt uns in diesem Leben schon Schritte tun. „Wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen“, sagt Paulus – gleichsam um die Unzulänglichkeit unserer Erkenntnis zu erklären. Aber er sagt es auch so: „Wir wandeln zwar nicht im Schauen, aber im Glauben, um die Kraft zu benennen, die uns schon jetzt trägt.“
Wir können dankbar sein für die Stärkungen, die wir empfangen, dankbar für die, die mit uns gehen. Dankbar für die, die vor uns waren, die uns aufgezogen und uns begleitet haben. Sie sind immer noch in unserer Nähe, wenn wir ihre Nähe wirklich spüren wollen. Wir leben mit der großen Zukunft Gottes. Die Heilige Schrift will uns locken zu der Gewissheit: Das letzte Wort hat nicht der Tod, sondern der lebendige Christus.