Predigt im Festgottesdienst zu Weihnachten
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Am 25.12.2019 in der Matthäuskirche in München
Titus 3,4-7
4 Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,
5 machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist,
6 den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland,
7 damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben seien nach der Hoffnung auf ewiges Leben.
Liebe Gemeinde,
warum entwickelt Weihnachten eine solche Faszinationskraft? Warum war es auch dieses Jahr wieder so, dass die Weihnachtsmärkte voll waren – und nicht nur wegen des Einkaufs, sondern auch wegen der Gemeinschaft beim zwanglosen Zusammenstehen mit anderen Menschen in gelöster Atmosphäre? Ich weiß nicht, ob das nur ein zufälliger Eindruck ist, aber da, wo ich es erlebt habe, schien die Atmosphäre heiterer, irgendwie friedlicher als man das bei einem normalen Großeinkaufstag kennt.
Und warum sind jetzt an Weihnachten auch die Kirchen wieder voll – und das in einer Zeit,
in der die Glaubenstraditionen in den Familien nicht mehr selbstverständlich weitergegeben werden und auch Kirche nicht mehr einfach „dazugehört“, sondern, manchmal ja mit guten Gründen, auch viel Gegenwind bekommt? Warum kann das alles dem Weihnachtsfest nichts anhaben?
Ich glaube, die Antwort liegt genau in den Worten des Titusbriefes, die wir gerade gehört haben. Die Worte klingen wegen ihres lehrhaften Charakters auf den ersten Blick ein wenig spröde und fremd. Aber gleichzeitig treffen sie etwas, wonach wir uns in der Tiefe unserer Seele sehnen.
Von der Freundlichkeit Gottes hören wir da. Von Gottes Menschenliebe. Und von der Seligkeit, die sie in uns wirkt. Und dann ist von der Barmherzigkeit die Rede, auf die wir vertrauen dürfen. Von der Erneuerung, die wir im Heiligen Geist erfahren. Und die Sätze enden mit dem Hinweis auf die Gnade Jesu Christi und die Hoffnung, sogar die Hoffnung auf ewiges Leben. Freundlichkeit, Liebe, Seligkeit, Barmherzigkeit, Gnade, Hoffnung, Erneuerung. Könnte es einen kraftvolleren, einen erfüllenderen, einen heilsameren Horizont für unser Leben geben als diesen? Genau das ist der Horizont, in den uns Weihnachten stellt. Genau das ist der Horizont, der sich öffnet, wenn wir die Weihnachtsgeschichte hören.
Es macht einen Riesenunterschied für unser Leben! Es macht einen Riesenunterschied für die Welt! Denn der Horizont der Wirklichkeit, der wir jeden Tag begegnen, scheint ja so oft ein ganz anderer zu sein. Wer morgens aufsteht, sieht vielleicht erstmal nicht Freundlichkeit, sondern ein ziemlich genervtes Familienmitglied, das genau zur gleichen Zeit duschen will. Und wer dann die Zeitung aufschlägt oder das Morgenmagazin anschaltet, hört oder liest nicht viel, was Nährstoff für Hoffnung wäre, sondern Meldungen über einen Bombenangriff im Jemen mit zig Toten, über eine neue Twitterbotschaft des amerikanischen Präsidenten, die einen Handelskrieg verursachen könnte, über ein weiteres gekentertes Flüchtlingsboot im Mittelmeer mit vielen vermissten Menschen und vielleicht auch über eine neue Expertise des Weltklimarates, die zeigt, dass der Klimawandel noch viel schlimmer ist als wir dachten.
Und wer dann ins Büro kommt, merkt vielleicht auch nicht viel von Liebe, sondern vor allem von der Konkurrenz darüber, wer bei dem Kampf um die Beförderung der Gewinner ist. Und am Abend ist das Gefühl vielleicht nicht Seligkeit, sondern eher Müdigkeit, vielleicht sogar Niedergeschlagenheit.
Mit der Weihnachtsstimmung hätten all diese sehr alltäglichen Dinge sehr wenig zu tun, wenn da nicht diese von den Tiefen des Alltags so prallvolle Weihnachtsgeschichte wäre. Wenn sie nicht von lauter Leuten handeln würde, die auch zu kämpfen hatten. Eine junge unehelich schwanger gewordene Frau, ihr Verlobter, der vermutlich ziemlich verwirrt ist über das, was da passiert ist, Hirten, die in der nächtlichen Kälte ausharren müssen und vermutlich viel mehr nach Schaf als nach Chanel gerochen haben: Das ist die Welt, in die hinein die größte Hoffnungsbotschaft kommt, die die Welt je gesehen hat. Gott wird Mensch. Er bleibt nicht irgendwo da draußen in einem Himmel, der am Ende doch sehr weit weg ist. Sondern er kommt mitten in die Welt hinein und wird zum Bruder der Menschen, gerade derer, die zu kämpfen haben. Und sagt: Dein Leben hat ein Ziel. Und dieses Ziel ist nicht die Dunkelheit, sondern das Licht.
Diese Botschaft berührt bis zum heutigen Tag Reiche wie Arme, sie fasziniert Junge wie Alte, sie erreicht Glückspilze wie Pechvögel. Sie lässt selbst Menschen nicht kalt, die mit Religion eigentlich gar nichts anfangen können. Und sie verbindet Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten, denn Gott ist nicht zuerst Deutscher oder Chinese, Amerikaner oder Afrikaner geworden, sondern einfach Mensch.
Was ist das Geheimnis dieser Faszination? Ich glaube, das Geheimnis der Faszination von Weihnachten ist seine unschlagbare Antwort auf die beiden großen Fragen des Lebens: Was gibt meinem Leben Sinn? Und wie soll ich leben?
Die meisten Menschen stellen sich diese beiden Fragen. Gerade die Sinnfrage drängt auf eine religiöse Antwort hin. Deswegen gehören deutlich mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung einer organisierten Religion an. Sich in der Meditation, im Gebet oder im Gottesdienst einer Realität zu öffnen, die höher ist als unser Verstand erfassen kann, und diese höhere Realität vielleicht auch Gott zu nennen, das hat eine starke intuitive Plausibilität.
Und ähnlich ist es bei der anderen Frage: Wie soll ich leben? Die meisten Menschen würden, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht, sofort zustimmen, dass es so etwas wie moralische Leitplanken für das Leben braucht, dass auch eine Gesellschaft solche Leitplanken braucht, damit die Menschen einigermaßen gut zusammenleben können. Egoismus als Lebensprinzip zerstört den Einzelnen, aber auch die Gesellschaft. Also hat sich in der Geschichte der Zivilisation so etwas wie ein moralischer Kanon entwickelt, der in den jeweiligen Kulturkreisen durchaus auch unterschiedlich ist, insgesamt aber hohe Übereinstimmungen enthält. Das Tötungsverbot gehört dazu. Aber auch bestimmte Gebote zum menschenfreundlichen Umgang mit Sexualität oder Gebote zum Schutz der Armen und Schwachen.
Wir brauchen solche moralischen Leitplanken. Die meisten Menschen wissen das auch sehr genau. Das Problem ist deswegen nicht die Moral, sondern das Problem ist der Moralismus. Das Problem ist das „Du sollst“, „du musst“ und „Du darfst nicht“. Das Problem ist, dass wir die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen gemacht bekommen und irgendwann in dem Gefühl leben, dass alles, was Spaß macht, verboten wird. Das Problem ist, dass wir in dem Versuch ein guter Mensch zu werden, unsere Selbstachtung verlieren, weil wir merken, dass wir die hohen moralischen Maßstäbe nicht erfüllen, weil wir nicht immer den Nächsten lieben, weil wir nicht immer das ökologisch Richtige tun, weil wir uns nicht immer friedlich verhalten.
Mancher flüchtet sich dann in eine religiöse Innerlichkeit, in eine Spiritualisierung, die endlich frei macht von all den moralischen Ansprüchen. Oder er prangert schon den störenden Hinweis auf moralisches Versagen, etwa auf die Pflicht zur Rettung von Menschenleben im Mittelmeer, als Moralismus an.
Weil beides falsch ist: die Moralisierung und die reine Spiritualisierung, deswegen ist die Weihnachtsbotschaft so faszinierend. Denn sie weist den Weg zu einem Leben in Freiheit. Dieses Leben in Freiheit beschreiben die Worte aus dem Titusbrief: „Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig – nicht um der Werke willen, die wir in Gerechtigkeit getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben seien nach der Hoffnung auf ewiges Leben.“
Du musst nicht erst ein guter Mensch werden – so deute ich diese Worte -, denn tief drinnen bist du es schon. Weil Gott selbst Mensch geworden ist. Weil derjenige, der dich geschaffen hat, als Bruder an deine Seite gekommen ist, weil er dich bedingungslos liebt, weil er dir die Liebe so reichlich in dein Herz gießt, dass sie überfließt zu deinem Nächsten.
Wenn das wirklich stimmt, liebe Gemeinde, dass Gott in dem Kind in der Krippe Mensch geworden ist, uns durch seine Liebe inspiriert, dann sind uns nicht nur moralische Leitplanken geschenkt worden, die ein gutes Leben ermöglichen, sondern dann ist uns die Kraftquelle, danach zu handeln, gleich mit dazu geschenkt worden. Wenn wir auf das Christuskind schauen, tief in der Seele die Beziehung zu ihm spüren, seine Liebe spüren, dann wird seine Liebe auch durch uns strahlen. Seine unerschöpfliche Liebe gibt uns die Kraft für die Welt. Seine Gegenwart macht uns frei, frei von Angst, frei vom Festkrallen an den Sorgen, frei von innerer Verkrümmung. Das ist die Faszination von Weihnachten!
Wo wir sie empfinden, da sind all die notwendigen eindringlichen Rufe zum Handeln in den großen Fragen der Zeit nicht mehr moralistische Mahnungen, sondern Rufe in die Freiheit.
Geht mit euren Mitmenschen so um, wie ihr selbst auch behandelt werden wolltet!
Tretet ein für die Armen in Deutschland und in der ganzen Welt, weil ihr selbst ein besseres Leben habt, wenn ihr es nicht gegen die anderen lebt, sondern mit ihnen!
Überwindet die Kultur der Anprangerung, Empörung und Abwertung in den sozialen Medien, weil ein Leben in Achtung und Respekt das viel bessere Leben ist!
Macht euch auf zu einem neuen Lebensstil, der aufhört, die Natur zu zerstören, weil so oft mehr Einfachheit auch mehr Genuss bedeutet.
Und hört auf immer zu meinen, dass ihr zu kurz kommt, weil der größte Glücksfaktor die Dankbarkeit ist.
Und schließlich: traut euch, zu hoffen, grenzenlos zu hoffen! Denn Gott ist Mensch geworden. Der Heiland der Welt ist geboren. Die radikale göttliche Liebe hat menschliche Gestalt angenommen und inspiriert Menschen auf der ganzen Welt. Sie wird ihren Weg in die Herzen nehmen. Und irgendwann den ganzen Erdkreis füllen.
Deswegen, liebe Gemeinde, gibt es wirklich allen Grund, dass wir uns in diesen Tagen von ganzem Herzen „Frohe Weihnachten!“ zurufen. Deswegen können wir aus tiefster Seele das singen, was wir auch am Ende unseres Gottesdienstes heute wieder singen werden:
Welt ging verloren. Christ ist geboren. Freue dich o Christenheit!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN