Neuer Schwung für die Jugend Europas
Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Weißbuch der Europäischen Kommission "Neuer Schwung für die Jugend Europas"
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Vorwort
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre Jugendwerke und -einrichtungen begrüßen die Initiative der Europäischen Kommission, mittels des im November 2001 vorgelegten Weißbuches zur Jugend einen neuen Rahmen für die Jugendpolitik auf europäischer Ebene zu schaffen. Die EKD verfolgt die Entwicklungen der europäischen Jugendpolitik mit großem Interesse. Sie gestaltet sie insbesondere durch die Tätigkeit der Evangelischen Jugendarbeit, der Jugendbildungsarbeit und der Jugendsozialarbeit aktiv mit.
Vor dem Hintergrund christlicher Grundüberzeugungen nimmt die EKD zum Weißbuch und zum vorausgegangenen Konsultationsprozeß Stellung.
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Jugend im europäischen Diskurs
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Der Konsultationsprozess, der dem Weißbuch zur Jugendpolitik auf europäischer Ebene voranging, war Teil einer grundlegend neuen Politik der Kommission. Sie hat viele Akteure bis hin zu den Jugendlichen selbst in die Vorarbeiten zum Weißbuch einbezogen. Die evangelischen Jugendorganisationen erwarten, dass die Organe der Europäischen Union auch nach Abschluss der Konsultation den Dialog über eine kohärente Jugendpolitik in einem offenen Prozess führen werden.
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Die europäische Jugendpolitik muss künftig drei Erkenntnisse berücksichtigen:
Die demographische Entwicklung in Europa läßt Jugend zu einer Minderheit werden. Dies hat weitreichende Folgen für ihre aktive Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen. Jugend muß in partizipatorischer Hinsicht mittelfristig um ihren Platz in der Gesellschaft fürchten.
Laut Umfragen stehen Jugendliche Europa überwiegend gleichgültig gegenüber. Die EKD betrachtet die gemeinschaftliche Jugendpolitik als eine Chance, Jugendliche von der Wichtigkeit des europäischen Einigungsprozesses zu überzeugen, die Identifikation Jugendlicher mit der Europäischen Union zu fördern und sie an der Gestaltung der Zukunft Europas zu beteiligen.
Die EKD und ihre Verbände, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihrem internationalen Wirken entsprechend zu den Multiplikatoren der europäischen Idee gehören, nehmen dabei eine Mitverantwortung wahr.
Jugendliche betrachten die bevorstehenden Veränderungen der Europäischen Union teilweise mit großer Verunsicherung. Es besteht die Notwendigkeit, die Chancen des Einigungs- und Erweiterungsprozesses für Jugendliche sichtbar zu machen, damit sie sich mit der Idee eines großen, vereinigten Europas identifizieren können.
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Das Weißbuch und die Situation Europas
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Die EKD begrüßt den Ansatz des Weißbuches, Jugend für die neue Gestalt Europas zu gewinnen und ihre Rolle in der Debatte um die Zukunft Europas zu stärken. Sie unterstützt den Vorschlag der Kommission, durch den Ausbau der Partizipation Jugendlicher, die Verbesserung der Information Jugendlicher, den Ausbau der Freiwilligenarbeit und die Qualifizierung des Wissens über Jugendliche (Jugendforschung) Jugend für Europa zu begeistern.
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Die EKD unterstützt grundsätzlich das Anliegen, die Grundlagen für die Koordination der Jugendpolitik in Europa zu verbessern und eine kohärente Jugendpolitik in Europa zu entwerfen. Sie stimmt der Ansicht zu, dass Jugendpolitik als Querschnittspolitik zu gestalten ist. Im Hinblick auf die europäische Integration wird ein solches jugendpolitisches Verständnis immer wichtiger.
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Die Erweiterung der Europäischen Union, die wachsende Einheit der EU-Mitgliedsstaaten und der sukzessive Wandel des politischen Charakters dieses Staatenbündnisses erfordern, sich neu über die Grundlagen dieser Gemeinschaft zu verständigen. Demokratische Grundrechte wie die Freiheit und Gleichheit aller Bürger und Bürgerinnen können als Basis einer europäischen Gesellschaft verstanden werden.
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Wenn die Ansprüche des Weißbuches, Jugendliche an der Gestaltung Europas zu beteiligen und ihre Belange in allen politischen Fragen zu berücksichtigen, gelingen sollen, bedarf es konkreter politischer Maßnahmen. Die EKD hält es für notwendig, eine glaubwürdige Vision eines nicht nur ökonomisch erfolgreichen Europas, sondern auch eines liberalen, demokratischen und sozial-gerechten Europas zu entwickeln. In dieser Vision müssen die Heranwachsenden ihren Platz finden und an dessen Ausgestaltung müssen sie mitwirken können. Es geht letztlich darum, gerade auch mit der jungen Generation, Europa eine Seele zu geben.
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Das Weißbuch äußert sich nur an wenigen Stellen konkret zur Gestalt einer europäischen Jugendpolitik. Insbesondere konzentriert sich die EU-Kommission darauf, die Einrichtung von Internetportals anzukündigen. Aus Sicht der EKD ist dieses Instrument allein wenig geeignet, den Jugendlichen Europa näher zu bringen. Vielmehr bedarf es realer positiver Erfahrungen interkulturellen Lernens in Austausch- und Modellprojekten, wie sie das Programm JUGEND in vielfältiger Weise fördert. Die evangelische Jugendarbeit, die Jugendsozialarbeit und gesellschaftspolitische Jugendbildung in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten bieten hierfür geeignete Sozialräume mit der nötigen Infrastruktur. Europäische Politik sollte die Erfahrungen, die Kontinuität und die Kompetenzen von Jugendorganisationen künftig stärker nutzen und fördern.
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Zivilgesellschaft und Partizipation
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Der dem Weißbuch vorangegangene Konsultationsprozeß machte deutlich, daß die europäische Politik die zivilgesellschaftlichen Kräfte zunehmend als Akteure wahr- und ernstnimmt. Die EKD begrüßt dies. Sie beanstandet jedoch, dass zahlreiche Beiträge lediglich in den Anhang des Weißbuches aufgenommen wurden. Es genügt nicht, Jugendliche nur zu hören. Vielmehr setzt sich die EKD dafür ein, dass Jugendliche an politischen Entscheidungsfindungsprozessen direkt beteiligt werden. Die europäische Politik muss für Jugendliche partizipatorisch geöffnet werden und transparent sein. Dafür müssen geeignete Strukturen bereitgestellt werden.
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Die EU-Kommission muss auch im Jugendsektor die zivilgesellschaftlichen Organisationen stärker in politische Entscheidungsfindungsprozesse integrieren. Im Jugendsektor muss vor allem die Öffnung bestehender Organisationen für bisher noch nicht integrierte Jugendliche (im Weißbuch sogenannte "nicht-organisierte" Jugendliche) gefördert werden. Das offene Mitgliedsverständnis und die offene Zugangsmöglichkeit evangelischer Jugendorganisationen auch für nicht-konfessionell gebundene Jugendliche ist beispielhaft für solche Integrationsprozesse.
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Die EKD kritisiert, dass das Weißbuch den Bereich des vielfältigen ehrenamtlichen/bürgerschaftlichen Engagements Jugendlicher nicht ausreichend würdigt. Angesichts einer vielfältigen Kultur in den verschiedenen Mitgliedsländern wäre eine Darstellung und Differenzierung dieser Vielfalt für die zukünftige Diskussion hilfreich gewesen. Indem das Weißbuch im Zusammenhang mit dem bürgerschaftlichen Engagement Jugendlicher vorrangig den "Europäischen Freiwilligendienst – EVS" in den Blick nimmt, vernachlässigt es die Wahrnehmung des Ausmaßes des Engagements Jugendlicher in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.
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Europa braucht eine stärkere Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Neben den Medien übernehmen zivilgesellschaftliche Organisationen und die Kirchen dabei die wichtige Rolle der Vermittlung. Diese ist umso bedeutender, als Jugendliche über den bloßen Informationsgehalt auf den relationalen Aspekt der Informationsübermittlung angewiesen sind.
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Strukturen und Prozesse
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Im Weißbuch schlägt die Kommission die offene Methode der Koordinierung als neuen Rahmen für die Zusammenarbeit in Jugendfragen im Bereich der Europäischen Union vor. Dieses Steuerungsinstrument verfolgt das Ziel, eine interventionistische Politik (Eingriffe und Vorgaben von oben) durch ein beteiligungsorientiertes Modell zu ersetzen, das einen offenen Diskurs pflegt und verschiedene gesellschaftliche und politische Ebenen in den Prozess der politischen Zielfindung und der Realisierung einbindet. Die EKD begrüßt diesen demokratischen Ansatz, der Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Effektivität und Kohärenz als Grundsätze öffentlichen Handelns gewährleisten soll.
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Die Ausgestaltung der offenen Methode der Koordinierung im Weißbuch Jugend zeigt jedoch einen Mangel im Hinblick auf die demokratische Legitimation dieses Verfahrens: Zum einen ist dem Europäischen Parlament lediglich eine überwachende Funktion zugewiesen. Das Parlament müsste jedoch bereits in die Entwicklung der Ziele eingebunden sein. Zum andern ist die Partizipation Jugendlicher und ihrer Jugendorganisationen als zivilgesellschaftliche Akteure nicht vorgesehen.
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Die EKD äußert die Sorge, dass sich die EU-Kommission mit der Einführung der offenen Methode der Koordinierung im Weißbuch Kompetenzen im Bereich der Jugendpolitik verschafft, die nach Einschätzung der EKD über die Bestimmungen in den Artikeln 149 und 150 EGV hinaus gehen. Dieses Verfahren versetzt die Kommission in die Lage, Impulse und Anreize im Bereich der Jugendpolitik zu setzen.
Die EKD setzt sich dafür ein, dass die Europäische Union in einen offenen Dialog über die Kompetenz der EU im Bereich der Jugendpolitik eintritt. Dabei ist insbesondere die Frage zu klären, ob sich aus den Inhalten des Weißbuchs nicht die Notwendigkeit einer EU-Vertragsänderung ergibt.
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Werte
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Die EKD hätte sich gewünscht, dass sich das Weißbuch zur Wertedebatte differenzierter geäußert hätte.
Europa braucht aber gerade um der Jugendlichen willen eine breite und differenzierte Wertedebatte. Nur dadurch kann sich ein gemeinsamer europäischer Wertekanon als Fundament, Motor und Garant des europäischen Einigungsprozesses entwickeln. Eine europäische Jugendpolitik muss einen Rahmen schaffen, der vielfältige Gelegenheitsstrukturen zur Auseinandersetzung mit Werten ermöglicht. Instrumente zur Unterstützung von Jugendorganisationen und jugendkulturellen Bewegungen müssen entwickelt werden, denn diese vermitteln Werte und ermöglichen die Aneignung von Werten und die Identifikation mit ihnen. Vor allem stellen Kirchen und Jugendorganisationen Gelegenheitsmilieus dar, in denen konkrete Erfahrungen mit Werten gemacht werden können. Kirchen und Jugendorganisationen leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Wertfindung und damit für die Zukunft der europäischen Gesellschaft.
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Bildung, Beschäftigung und soziale Integration
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Die EKD begrüßt die Forderung des Weißbuches, Bildungsinhalte stärker an den Bedürfnissen und Interessen junger Menschen zu orientieren. Sie setzt sich dafür ein, Zugangsbarrieren abzubauen und Segregationen im Bildungsbereich zu vermeiden, um Ausgrenzungsprozessen entgegenzuwirken.
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Die EKD teilt die Einschätzung des Weißbuches, dass die außerschulische Jugendbildung eine unschätzbare Bedeutung für den Erwerb der in einer Wissensgesellschaft benötigten sozialen, politischen und kulturellen Kompetenzen hat. Nach Ansicht der EKD muss die Jugendarbeit darin unterstützt werden, allen jungen Menschen einen Zugang zum non-formalen Lernen zu verschaffen.
Hinsichtlich der non-formalen Bildungs- und Beteiligungsmaßnahmen sind konkrete Möglichkeiten der Anerkennung zu entwickeln, hinsichtlich der formalen Bildungs- und Beteiligungsmaßnahmen darüber hinaus auch Möglichkeiten der Zertifizierung. Dabei sollte die Förderung und Anerkennung des ehrenamtlichen/bürgerschaftlichen Engagements prioritär sein, damit das EU-Ziel einer "wissensbasierten Gesellschaft" mit dem Aufbau einer sozial-gerechten Gesellschaft einhergeht.
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Nach Einschätzung der EKD thematisiert das Weißbuch die Schwierigkeiten von Jugendlichen mit erhöhten "Zugangsproblemen" nur unzureichend. Die langjährigen Erfahrungen der Einrichtungen und Fachorganisationen der Jugendsozialarbeit für und mit "benachteiligten" Jugendlichen in Europa haben keinen Eingang in den Forderungs- und Umsetzungskatalog des Weißbuchs gefunden. Dies ist angesichts der engagierten Beteiligung dieser Organisationen an entsprechenden Aktionsprogrammen zu bedauern.
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Der dem Weißbuch zugrundegelegte Arbeits- und Bildungsbegriff ist in seiner ökonomischen und funktionalen Ausrichtung einseitig. Das Weißbuch bleibt an dieser Stelle hinter der Diskussion über die umfassende Bedeutung des von der EU angekündigten Aufbaus einer Wissensgesellschaft zurück.
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Die EKD begrüßt die Entscheidung der Kommission, die Anliegen Jugendlicher in den Politikbereichen Bildung, lebenslanges Lernen, Mobilität, Beschäftigung, soziale Integration, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verstärkt zu berücksichtigen. Sie setzt sich dafür ein, die Belange von Jugendlichen auch im Blick auf die Folgen der Globalisierung zum Gegenstand europäischer Politik zu machen. Die Globalisierung muss zum Thema einer umfassenden jugendpolitischen Diskussion gemacht werden, die für Jugendliche und zivilgesellschaftliche Akteure durch Konsultation und Partizipation geöffnet werden muss.
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Die EKD begrüßt, dass das Weißbuch Armut und soziale Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen thematisiert. Sie setzt sich dafür ein, dass die Kommission den Aufbau eines sozial-gerechten Europas und speziell die Bekämpfung von Armut und Bildungsbenachteiligung über die Maßnahmen des Aktionsprogramms zur Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung hinaus als jugendpolitischen Auftrag wahrnimmt. Für die Weiterentwicklung von Unterstützungsstrategien zur beruflichen und sozialen Integration von jungen Menschen ist eine Einbeziehung der Akteure, die sich an der Schnittstelle zwischen Jugendarbeit und beruflich-sozialen Integrationsmaßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene betätigen, unbedingt zu gewährleisten.
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Migration und Integration
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Die EKD tritt dafür ein, Maßnahmen des interkulturellen Austausches zu ergreifen, die das Verständnis von Migration und die Integration von MigrantInnen fördern. Dem Abbau von selektiven Systemen in Bildung und Berufsbildung ist Priorität einzuräumen. Jugendliche mit Migrationshintergrund müssen stärker in die bestehenden europäischen Austausch- und Freiwilligenprogramme einbezogen werden. Damit die betroffenen Jugendlichen jedoch überhaupt an derartigen Maßnahmen teilnehmen können, muss die Bewegungsfreiheit innerhalb der Europäischen Union für sie in gleicher Weise gelten wie für EU-StaatsbürgerInnen.
Gleichzeitig gilt es, Konzepte zur Bekämpfung der Fluchtursachen zu entwickeln und umzusetzen.
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Weil soziale Integration wesentlich an die Teilnahme am Arbeitsmarkt gebunden ist, muss der Zugang zum Arbeitsmarkt insbesondere für benachteiligte Jugendliche durch Möglichkeiten der Qualifizierung und des Spracherwerbs geöffnet und erleichtert werden. In diesem Kontext sollte es verstärkt zu einer Zertifizierung von "life skills", aber auch von im Prozess der Arbeit erworbenen Kenntnissen und Kompetenzen kommen. Integration muss umfassend, systematisch und nachhaltig gefördert werden.
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Der finanzielle Rahmen
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Die EKD bedauert, dass das Weißbuch sich zu zusätzlichen finanziellen Mitteln für den Bereich der Jugendpolitik nicht äußert. Für die Umsetzung der Anliegen des Weißbuchs müssen entsprechende Mittel im EU-Haushalt bereitgestellt werden.
Die evangelischen Akteure im Feld der Jugendarbeit, der Jugendbildung und der Jugendsozialarbeit sind an einer Mitarbeit an der Umsetzung des Weißbuchs interessiert und werden entsprechende Partizipationsangebote gerne nutzen.
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