Statement des EKD-Ratsvorsitzenden zur Veröffentlichung der Vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft

Manfred Kock

Berlin

"Kirche - Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten, Lebensstile, Kirchenbindung. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft"


Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben die Publikation "Kirche - Horizont und Lebensrahmen" in Händen und hatten schon Gelegenheit, diese zusammen mit der Pressemitteilung zur Kenntnis zu nehmen. Ich will also weder wiederholen, was Sie in der Pressemitteilung bereits lesen konnten, noch was ich zusammen mit meinen Kollegen, Kirchenpräsident Steinacker und Landesbischof Friedrich, im Geleitwort geschrieben habe.

Als die EKD vor über dreißig Jahren die erste Repräsentativ-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft in Auftrag gab, geschah dies in einem Klima allgemeiner Verunsicherung, sowohl in der Gesellschaft insgesamt als auch innerhalb der Kirche. Der Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber brachte mit dem Wort vom "allmählichen Ende der Volkskirche" auf den Nenner, was viele meinten. Da wirkte die erste Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung mit den Signalen "relative Stabilität" und "Chance für Reformen" entdramatisierend.

Die Signale, die von den jetzt vorliegenden vorläufigen Ergebnissen der vierten Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung ausgehen, sind keine grundlegend anderen. Die Verbundenheit der Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche bleibt relativ hoch: Der Anteil der mit der Kirche ziemlich oder sehr verbundenen Kirchenmitglieder ist im Laufe der letzten 30 Jahre etwa gleich geblieben. Erhöht hat sich der Prozentsatz derjenigen, die einen mittleren Verbundenheitsgrad bekunden. Diese Erhöhung ging aber nicht auf Kosten des Anteils der höher Verbundenen, sondern des Anteils der überhaupt nicht Verbundenen. Ihr Prozentsatz fiel von 12% im Jahre 1972  auf 6% im Jahr 2002. Wir haben in der Pressemitteilung den erstaunlichen Umstand besonders hervorgehoben, dass die Taufbereitschaft evangelischer Eltern im Blick auf ihre Kinder zwischen 1972 und 2002 kontinuierlich gewachsen ist.

Zu den Befunden der Kirchenmitgliedschafts-Untersuchungen gehört es allerdings auch, dass die evangelischen Kirchenmitglieder die Art und Weise, wie sie ihr Christsein und ihre Kirchenmitgliedschaft sehen und leben, eigenständig bestimmen. Dabei lösen sie traditionelle Erwartungen an Glieder der Gemeinde Jesu Christi in vielen Hinsichten nicht ein. Das wird besonders deutlich an Fragen nach den Merkmalen des Evangelischseins, nach der Kirchgangshäufigkeit oder nach der inhaltlichen Bestimmung des Glaubens an Gott. Um das Bild relativer Stabilität der Kirche zu zeichnen und es positiv zu würdigen, wird der evangelischen Kirche also zugemutet, unterschiedliche Formen und Intensitätsgrade der Kirchenmitgliedschaft zu akzeptieren und sich auf sie einzustellen.

Ich bin entschieden der Auffassung: Die evangelische Kirche wäre schlecht beraten, sich vom Leitbild einer Kirche, die unterschiedliche Gestaltungen der Kirchenmitgliedschaft akzeptiert und Spielräume für Nähe und Distanz lässt, abzuwenden und statt dessen eine Strategie der Konzentration auf einen bekennenden Gemeindekern zu verfolgen. Beide Konzepte und Vorgehensweisen müssen einander ergänzen.
Die kontinuierliche Erforschung der Kirchenmitgliedschaft hat wesentlich dazu beigetragen, statt hektisch Alarm zu schlagen ebenso elastisch wie beharrlich auf eine verbesserte Mitgliederorientierung kirchlichen Handelns hinzuwirken. In der wissenschaftlichen Theologie und in der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern ist die so genannte "distanzierte Mitgliedschaft" zunehmend als eine eigene Form protestantischen Kirchenverhältnisses gewürdigt worden. Pluralität wurde als Resultat von Differenzierungsprozessen bejaht und immer weniger als Auflösungserscheinung dramatisiert. Begriffe wie Begleitung, Versorgung und Betreuung klingen nicht mehr bloß abschätzig, sondern behaupten neben Beteiligung und Engagement ihre eigene Logik.

Die Amtshandlungen werden als herausragende biografische Aktualisierungen des Kirchenverhältnisses ernst genommen und - jedenfalls weithin - sorgfältig gestaltet. Das gleiche gilt vom Kirchenjahr und seinen Festzeiten. Kirchliche Publizistik und Öffentlichkeitsarbeit haben sowohl an Stellenwert als auch an Professionalität gewonnen. Die kirchlichen Räume wurden wieder mehr zur Gesellschaft hin geöffnet, und das ist nur ein besonders hervorstechendes Faktum in einer breit angelegten Umorientierung weg von der Privatisierung des Religiösen hin zur Teilnahme am öffentlichen ethischen und politischen Diskurs, und an Auseinandersetzung mit Kunst und Alltagskultur.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Damit sage ich nicht, es ist "alles in Butter"! Die Publikation, mit der wir Ihnen heute die vierte Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung vorstellen, markiert selbst die offenen Fragen und die kontroversen Bewertungsmöglichkeiten.
Ist die Tatsache, dass sich die Struktur der Kirchenmitgliedschaft Jahrzehnte hindurch als erstaunlich konstant erwiesen hat, eher beruhigend oder beunruhigend? Hat die EKD mit ihren alle zehn Jahre durchgeführten Untersuchungen - gewollt oder ungewollt - lediglich beschwichtigend gewirkt und es dadurch versäumt, tiefergehende Veränderungen in Gang zu setzen? Immerhin hat die evangelische Kirche in dem Zeitraum der bisherigen Kirchemitgliedschafts-Untersuchungen, also in dreißig Jahren, durch Kirchenaustritte 5,2 Mio. Mitglieder verloren. Ob durch die verbesserte Mitgliederorientierung kirchlichen Handelns wenigstens vermieden worden ist, dass es nicht noch mehr Kirchenaustritte gegeben hat, gehört ins Reich der Spekulation.

Auf dem künftigen Weg der Kirche wird die demografische Entwicklung eine immense Herausforderung darstellen. Die Mitglieder der Kirche sind gegenüber der Wohnbevölkerung deutlich überaltert, in den östlichen Landeskirchen gravierend mehr als in den westlichen. Das bewirkt unweigerlich einen Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen und damit auch des Finanzaufkommens und der Dienstleistungsfähigkeit unserer Kirche.

Die Kirchenmitgliedschafts-Untersuchungen hatten und haben nicht den Zweck, Schlagzeilen über den Zustand der Kirche hervorzubringen. Sie eignen sich auch nicht gut dazu, auf direktem Wege Rezepte für den Weg der Kirche abzuleiten. Ihr enormer Wert liegt darin, dass über einen langen Zeitraum hin Entwicklungen kontinuierlich beobachtet und die dabei auftauchenden Fragen immer präziser gefasst und genauer untersucht werden können. Dies dient naturgemäß weniger der Dramatisierung oder der Beschwichtigung als vielmehr der Versachlichung und Differenzierung. In dieses Bild fügt sich ein, dass die vierte Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung zwei neue Schwerpunkte gesetzt hat, um das Phänomen der "treuen Kirchenfernen" und die "Religion außerhalb der Kirche" noch genauer zu erfassen. Ich beziehe mich hier auf die Fragenkomplexe zu den Weltsichten und den Lebensstilen, die auf den - im weiten Sinn des Begriffs - "religiösen" Hintergrund schließen lassen. Hierzu finden sich in der heute vorzustellenden Publikation nur erste Richtungsanzeigen. Weitere Aufschlüsse wird die differenziertere Auswertung ergeben, die zusammen mit den Ergebnissen des qualitativen Untersuchungsteils frühestens in zwei Jahren als Buch zu erwarten ist.