Friedrich-Wilhelm Marquardt – ein Lehrer der Kirche

Wolfgang Huber

Ansprache bei der Akademischen Gedenkfeier in Berlin

I.

Von Friedrich-Wilhelm Marquardt als „Lehrer der Kirche“ zu sprechen, ist nicht so selbstverständlich wie es klingt. Man mag schon fragen, wie er selbst mit einer solchen Bezeichnung umgegangen wäre. Jedenfalls hätte er sie dann nicht hingenommen, wenn sie mit der Erwartung verbunden gewesen wäre, in der kritischen Begleitung des Weges der Kirche zurückhaltender zu werden. Vielmehr war Marquardt genau darin ein Schüler seines Vorgängers Helmut Gollwitzer und ihres gemeinsamen Lehrers Karl Barth, dass er der Theologie die Aufgabe einer kritischen Selbstprüfung der Kirche hinsichtlich der ihr eigentümlichen Rede von Gott zuwies. Aber wäre der Kirche mit einer anderen, mit einer weniger kritischen Theologie etwa mehr gedient?

Unselbstverständlich ist eine solche Bezeichnung von Friedrich-Wilhelm Marquardt auch in anderer Hinsicht. Sein Weg in das akademische Lehramt war von Hindernissen wahrlich nicht frei. Von dem Aufsehen, das darüber entstand, war auch seine Stellung in der Kirche lange Zeit mitbetroffen. Meine eigene erste Begegnung mit Marquardt hat damit unmittelbar zu tun. Unvergesslich ist mir, wie in den Auseinandersetzungen der beginnenden siebziger Jahre ein früher Graffiti-Künstler das Theologische Seminar der Universität Heidelberg, wo ich damals tätig war, mit einem neuen Namen verschönt hatte. „Friedrich-Wilhelm-Marquardt-Institut“ sollte es heißen. Nachdem schon die Berufung Marquardts nach Heidelberg misslungen war, so hieß die Botschaft, wollte man wenigstens das Theologische Seminar nach ihm benennen: mit dem Namen eines damals ungefähr 45-jährigen Theologen. Früh schon schieden sich an ihm die Geister.

Gewiss ist über die damalige These von der Prävalenz des Marxismus beziehungsweise des Sozialismus in der Theologie, an der sich der Streit vor allem entzündete, die Geschichte hinweggegangen.  Ob das den Fragen, die hinter dieser These verborgen lagen, durchgängig gut getan hat, kann man übrigens bezweifeln. Aber der Impuls zur theologischen Zeitgenossenschaft ist geblieben. Dieser Impuls hat sich in den folgenden Jahrzehnten bei Marquardt immer stärker auf ein Thema konzentriert, das er in immer weiter gespannten Bögen entfaltet hat. Die Bedeutung Israels für die christliche Theologie ist das Thema. Davon wird an diesem Vormittag noch verschiedentlich die Rede sein. Ich will vor allem die Radikalität hervorheben, mit der Marquardt diesem Thema Raum gegeben hat. Es ging ihm um die „Betroffenheit Gottes von der Schoah“, die er so beschrieb: „So tief klafft ein Riss zwischen dem uns Denkbaren und dem theologischen ‚Gegenstand’ Gott, dass wir auch nicht sagen können, ob und wie Gott Auschwitz übersteht.“  Für mich ist er gerade in dieser Radikalität des Fragens ein Lehrer der Kirche.

Gern hat er das angemessene Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern an einem Diktum seines Lehrers Karl Barth verdeutlicht, der seinen Studierenden – in einer damals noch exklusiv männlichen Sprache empfohlen hatte: „Sei ein Mann und folge mir nicht nach.“  Der Dank an jeden Lehrer der Theologie bewährt sich in der Selbständigkeit des eigenen Denkens. Nichts anderes würde Friedrich-Wilhelm Marquardt auch von uns erwarten – und zwar bis in den Kern der ihm besonders wichtigen Themen hinein.

Mich bewegt an seinem Werk besonders die Einfühlsamkeit, in der er den Eigentümlichkeiten jüdischen Denkens, der jüdischen Halacha, in der christlichen Theologie Raum gegeben hat. Die Grunderfahrungen des Sich-verdankens, des Nach-geboren-seins und des Sich-bescheidens hat er einmal als die drei Grundelemente eines „israelitischen Idioms“ bezeichnet, die er in dem Satz zusammenfassen konnte: „Es ist uns gesetzt, nicht uns selbst setzen zu können: uns-selbst, uns-allein.“  Doch mich überzeugt weit weniger die Art und Weise, in der diese Grunderfahrungen an der zitierten Stelle dem paulinischen Rechtfertigungsglauben entgegengesetzt, ja übergeordnet werden. Denn welche Grunderfahrung bringt die Rechtfertigungsbotschaft zum Ausdruck wenn nicht diese: „Es ist uns gesetzt, nicht uns selbst setzen zu können: uns-selbst, uns-allen“? Gerade in solchen noch nicht voll ausgetragenen Spannungen liegt ein besonderes Anregungspotential der Theologie Friedrich-Wilhelm Marquardts für die Theologie.

II.

Ein Lehrer der Kirche war und bleibt Friedrich-Wilhelm Marquardt nun aber vor allem darin, wie er zeitlebens ein Prediger des Evangeliums gewesen und geblieben ist. Zu meinem bleibenden Bild von ihm gehört, wie er auf der Kanzel das biblische Wort auslegt oder wie er am Grab die Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten verkündigt. Deshalb will ich ins Zentrum dieses Dankes an einen Lehrer der Theologie, der ein Lehrer der Kirche war, ein Beispiel für seine Art des Predigens stellen.

Am 9. Dezember 2001, also fast auf den Tag genau vor zwei Jahren, predigte Marquardt zum 2. Advent in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem. Es war seine letzte Adventspredigt, wie wir heute wissen.

Der Predigttext war Off. 3,7-10, das Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia. Das Predigtziel formulierte Marquardt so:

„Ich möchte es einmal in ein paar kleinen Schritten versuchen, mit offenem Ohr für das, was der Geist unserer Gemeinde vielleicht heute sagen könnte, und nicht unsere kirchliche Tradition, und was ‚der Name meines Gottes‘ und der Name der ‚Stadt Gottes‘, der neue Jerusalemsname uns vielleicht sagen: über uns und über Philadelphia und über die ‚Synagoge des Satans‘ und die ‚Juden‘. ...‘Synagoge’ heißt auf deutsch Zusammenkommen, Zusammenhalten und Zusammmenbleiben eines Volkes, das zusammengehört: des jüdischen, gerade auch in seiner Zerstreuung unter alle Völker der Welt. ‚Philadelphia‘, das ist eine brüderliche, ‚Alle-Menschen-werden-Brüder‘-Gemeinde, eine ‚Seid- umschlungen-Millionen-Gemeinde’ der Menschenbruderschaft. Beide sind Gemeinden: aus der Heiligkeit und Wahrhaftigkeit des einen, ihnen gemeinsamen Gottes.“

Die Synagogen-Gemeinde ist eine Gemeinde des Zusammenhalts, eine Minderheit, die um ihre jüdische Identität und ihren Auftrag, Gottesmaß und Eckstein zu sein, kämpfen muss. Sie ist eine Gemeinde größter innerer Konzentration. Die Philadelphia-Gemeinde hat dagegen den Auftrag, eine grenzenlose Aufgeschlossenheit und Offenheit des Gottes Israels zu bezeugen. Wo äußerste Konzentration und weiteste Offenheit wie in Philadelphia aufeinander treffen, passiert es leicht, dass Selbstbewusstsein und Weltoffenheit, Konzentration auf das Eigene und Aufgeschlossenheit für die Menschheit in Konkurrenz zueinander betrachtet werden. Dagegen predigt Marquardt:

„Weltoffen können wir letztlich nur sein, wenn wir so in unserem Eigenen verwurzelt sind, dass wir es gar nicht nötig haben, uns im Anderen zu verlieren – und das vielleicht sogar noch schick zu finden.“

Der Predigttext lehrt:
 
„Keiner ohne den anderen; Gott will es ‚dahin bringen‘, dass die konzentrierte Kerngemeinde aus den Wurzeln ihrer Kraft der weltoffenen Bruderschaft zur Verfügung steht, ihr dient, und dass umgekehrt christliche Weltoffenheit nichts werden kann, wenn sie meint, ihre eigenen Wurzeln ausreißen oder den Ast absägen zu müssen, auf dem sie sitzt: den Jesus-Christus-Ast am Ölbaum Israels.“

Die, soweit ich weiß, unveröffentlichte, letzte Adventspredigt endet damit, dass Gott beide Gemeinden will.

„Beide Gemeinden – die weitherzige Brüdergemeinde und die sich selbst treue Synagogengemeinde. Und nun darf sich das ausweiten: die protestantische Ökumene und die auf Rom konzentrierte katholische Kirche, oder : der geist-offene Islam und der selbstbezogene, nämlich selbstmörderische Taliban- und Hamas- und Dschihad-Islamismus – sie haben alle miteinander eine sie alle von innen her erneuernde Zukunft vor sich: im ‚Hause Davids‘, in der ‚Stadt Gottes‘, im ‚neuen Jerusalem‘, im wahren Namen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das ist die Adventslosung auf Weihnachten zu.“

Einen Wissenschaftler, einen Professor der Theologie, zu würdigen, indem man ihn als Prediger zitiert und nicht etwa aus einer seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen, mag zwar ungewöhnlich sein; aber im gegebenen Fall ist es höchst angemessen, weil Friedrich-Wilhelm Marquardt immer ein Lehrer in der Kirche war, egal ob auf der Kanzel oder dem Katheder. Egal ob er predigte oder lehrte, immer ging es ihm um eine Revision des christlichen Lehrbestandes im Gespräch mit dem Judentum. Christen sind von Gott in die Lebensgemeinschaft mit dem jüdischen Volk berufen, und die Wissenschaft der Kirche hat zur jüdisch-biblischen Wirklichkeitsordnung zurückzukehren. Er war überzeugt davon, dass die Bibel keine abstrakten Menschheitsgedanken reflektiert und keine Universal- und Pauschalerfahrungen, sondern immer nur Erfahrungen von Wirklichkeiten in ihrer Vielfalt. Die Vielfalt ist das ontologisch Relevante:

„Gott ist relevant sowohl als Gott Abrahams, wie als Gott Isaaks, wie als Gott Jakobs; relevant nicht nur als Gott dieser ‚Väter’ Israels, sondern auch als Gott der Söhne:...oder schließlich auch als ‚Vater unseres Herrn Jesus Christus’ (1 Petr 1,3)."

III.

Umstritten blieb Marquardt bis zuletzt. Eine markante Besprechung seiner Eschatologie mag das abschließend illustrieren. In ihr heißt es:

„Eine protestantische Dogmatik, die ihre Eschatologie als ‚Christliche Lehre von der Weltrevolution‘ präsentiert, über das andere Rechtsverständnis der DDR sinniert und an den symbolischen Gehalt von ‚Fritz Teufels Weigerung, sich vor dem Gericht zu erheben‘, erinnert, scheint nicht nur für den Schreibtisch der Gelehrtenwelt, sondern auch für den Nachttisch einer ideologischen Klientel gedacht zu sein.“

Mit diesem Satz leitete Michael Moxter eine Besprechung des ersten Bandes der Eschatologie von F.-W. Marquardt ein, der 1993 unter dem Titel „Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?“ erschienen ist. Die Kantische Frage danach, was wir hoffen dürfen, beantwortet Marquardt konsequent mit dem Hinweis auf das, was Gott nach dem biblischen Zeugnis gesagt hat. Manchmal war es gerade diese Unmittelbarkeit, die anstößig wirkte.

Zum „Anfangen“ mit einem Leben mit der Bibel hat Friedrich-Wilhelm Marquardt unermüdlich und wortgewaltig eingeladen. Viele sind mit ihm mitgegangen, gerade auch in unserer berlin-brandenburgischen Kirche. Manche haben sich auch von dem Lehrer abgewandt; andere haben seine Fragen übernommen, aber eigene Antworten auf sie gesucht.

Die katholische Kirche hat in früheren Zeiten den offiziellen Titel „doctor ecclesiae“, das heißt, Kirchenlehrer, an Personen verliehen, die großen Einfluss auf die christliche Kirche hatten. Die Bedingungen für den Titel wurden im Lauf der Jahrhunderte genau festgelegt: ein Kirchenlehrer musste herausragend in der Lehre sein (eminens doctrina), einen hohen Grad von Heiligkeit haben (insignis vitae sanctitatis) und durch eine offizielle Erklärung zum Kirchenlehrer gemacht werden (ecclesiae declaratio). Vor allem in der letzten Hinsicht hat es die evangelische Tradition schwer. Also müssen wir uns damit begnügen, festzuhalten, dass Friedrich-Wilhelm Marquardt ein Pfarrer und Hochschullehrer war, dessen Predigen und Lehren deutliche und bleibende Spuren hinterlassen hat. Wenn es das von ihm lange geleitete Institut an der FU nicht mehr gäbe, wäre das ein großer Verlust. Denn auf seine ganz besondere und unverwechselbare Weise hat er deutlich gemacht, dass und warum die Theologie einen unvergleichlichen und unaufgebbaren Ort hat in der universitas litterarum und damit auch an deren herausgehobenem Ort, eben an der Universität.