Predigt im Abschlussgottesdienst in der Pauluskirche in Magdeburg
Landessuperintendent Gerrit Noltensmeier (3. Tagung der 10. Synode der EKD Magdeburg, 7. - 12. November 2004)
Vor der Predigt sang der Magdeburger Kantatenchor die Motette „Schaffe in mir Gott ein rein´ Herz“ von Johannes Brahms.
12 Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.
13 Verwirf mich nicht von deinem Angesicht, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.
14 Erfreue mich wieder mit deiner Hilfe, und mit einem willigen Geist rüste mich aus.
(Ps. 51,12-14)
I.
Ein Gebet zur guten Nacht. Eine große Bitte im Angesicht der Dunkelheit in uns und um uns. „Die Nacht, des Tages Feind.“
So weit es an mir ist, sind da noch zwei Fragen am heutigen Abend. Ich war lange unsicher, ob ich die erste Frage hier stellen sollte; im Horizont all der anderen Fragen, die uns bei der Synode beschäftigt haben, im Horizont der Gewissheit, die uns eben noch zugesprochen wurde: „Es ströme das Recht wie Wasser!“ Könnte sie ein wenig belanglos erscheinen, eine Bagatelle, geschmäcklerisch? Unverbindlich? Nach dem aber, was wir eben vom Kantatenchor gehört haben, stelle ich die Frage ohne Zögern und ganz beherzt: Lieben Sie Brahms? Wir könnten es auch französisch sagen mit dem Titel jener bittersüßen Liebesgeschichte von einst, deren Autorin unlängst gestorben ist: Aimez vous Brahms? Aber die Fortsetzungsgeschichte wäre dann heute Abend nicht überschrieben „Bonjour tristesse“, sondern eher „Bonsoir les psaumes“, guten Abend ihr Psalmen. Oder: „Bienvenu Saint Esprit“, sei uns willkommen, Heiliger Geist.
II.
Lieben Sie Brahms und die Klänge, die eben für uns gesungen wurden, seine Musik? Die Motette nach dem 51. Psalm ist ein frühes Werk. Brahms hat die Komposition in Detmold begonnen. Ich kann mir nicht verkneifen, dies zu sagen. Und mit verhaltenem Vergnügen halte ich fest, auch in solchen Provinzen gibt es die Inspiration zum Musizieren, lassen Worte der Heiligen Schrift komponieren, gibt es die Felder, auf denen das kulturelle Leben wächst und blüht. Johannes Brahms: Bei den alten Meistern hatte er sich umgetan, bei Palestrina und Heinrich Schütz zum Beispiel. Bei den Alten ist der junge Mann in die Schule gegangen, ihre Kunst zu studieren. Aber nun klingt es bei ihm anders, unverwechselbar und neu. So grüßt uns unser Schwerpunktthema noch einmal gleichsam von Ferne: Die Generationen. Da gibt es in der Abfolge der Generationen Abhängigkeit und Freiheit, Überlieferung und neues Gelingen, den Respekt vor den Alten und den Mut zum unverwechselbar Neuen. Höchst anspruchsvoll ist die Sprache der Formen in dieser Motette: Kontrapunkt und Kanon, das Gefüge vielstimmiger Sätze und die Fuge, Melodien - mal innig wie ein Wiegenlied, mal mit energischem Temperament. Aber die Strenge der Form verbindet sich mit der Tiefe des Empfindens: Selbstzweifel, Buße, Jubel... Gefühle voll Schwermut, Freude und Trost. So sollen sich Räson und Disziplin mit den Gefühlen von Wehmut und Sehnsucht verbinden, die Beherrschung der Form mit der inständigen Bitte. Haben Worte Klänge gesucht? Haben Klänge ihren Text gefunden? Also: Lieben Sie Brahms? Oder lieben Sie Palestrina oder Penderetzky, gregorianische Gesänge oder Gospelmusik, die Lieder aus Taizé und die Choräle von einst? Lieben Sie es, wenn sich Worte des Glaubens mit Klängen verbinden, wie es war im Anfang? Lieben Sie es, wenn der Chor zum Inbegriff der schön und vielstimmig singenden Gemeinde wird und wir zum Inbegriff der hörenden Gemeinde werden? Wir werden Menschen, deren Herz empfänglich ist und vernehmen möchte und erquickt wird. Und der Geist wird erfrischt.
Ganz kurz nur und ein wenig zurückhaltend möchte ich Ihnen erzählen, wie es in Detmold war, nein, nicht in den Zeiten von Johannes Brahms, aber doch einige Jahrzehnte zurück. Der Junge war fast schon erwachsen. Oder war der Mann halt noch sehr, sehr jung? Er sang im Hochschulchor seiner Stadt, im ersten Bass, dritte Reihe rechts. Und sie sangen Johannes Brahms: Ein deutsches Requiem nach den Worten der Heiligen Schrift. Und er sang und hörte mit heißem Herzen, staunend, ergriffen. Dann kaufte er sich die Langspielplatte, 25 cm, Dietrich Fischer-Dieskau, Brahms, vier ernste Gesänge nach Texten der Bibel. Und der Pfarrerssohn betrat mit den Klängen von Johannes Brahms die biblischen Welten ganz neu, erkundete diese Welten mit Brahms und später auch ohne Brahms und hat sie nicht mehr verlassen; später waren sie ihm noch lieber als die Musik des großen Komponisten. Später erfuhr er oft, dass die einen als Musikanten kommen, um ein Konzert zu geben, dass die anderen kommen, um Publikum zu sein - und miteinander werden sie Gemeinde, die das Lob Gottes singt an den Abgründen der Welt und unter einem offenen Himmel.
Johannes Brahms, - ein Mann der Kirche ist er nicht gewesen. Gewiss nicht. Aber die Worte der Heiligen Schrift waren ihm nahe ein Leben lang, die Psalmen zumal.
Bei Fulbert Steffensky habe ich im Lesebuch zu unserem Schwerpunktthema ganz hinten gelesen - über die Alten oder sollen wir freundlicher sagen über die Senioren, die also nicht ganz alt sind, nur eben älter. Steffensky: „Man stellt mit Schmerzen fest, dass die Welt, in der man gelebt, geliebt, geweint hat, schon untergegangen ist, und dass die eigenen Kinder und Enkel in ganz anderen Welten leben. Man versteht die Musik nicht mehr, die sie lieben. Man versteht die Bücher nicht mehr, die sie lesen. Sie sprechen eine andere Sprache als die Alten. Sie kennen die Psalmen und Lieder nicht, die uns ein Leben lang getröstet haben. Dazu gebrauchen sie den Konjunktiv falsch...“ Das mit dem Konjunktiv ginge ja noch. Aber Welten ohne Brahms? Das wäre schade. Und Welten ohne die Psalmen? Das wäre bitter. Doch bin ich mir gar nicht so sicher, ob Steffensky, den wir so sehr schätzen, auch mit dem, was wir eben zitiert haben, wirklich recht hat. Ich höre aus den Grundschulen, dass dort kleine Kinder ihre Ängste in den Bildern der Psalmen wiederfinden und zugleich seltsam getröstet sind. Und ich denke an die jungen Menschen, die mir in meinen früheren Aufgaben, in dem bürgerlichen Beruf des Gemeindepastors begegnet sind: Sie kamen, ohne die Psalmen zu kennen. Konfirmandinnen und Konfirmanden. Aber als es darum ging, für den großen, festlichen Tag der Konfirmation oder für ein ganzes Leben Worte der Heiligen Schrift zu wählen, da wählten sie oft die Psalmen. Nur mühsam und stockend konnten sie erklären, was sie in diesen Worten berührt hatte: Es waren die Welten des Vertrauens, die sie nicht hinter sich lassen wollten. Vielleicht handelt es sich bei diesen Liedern ja - sagen wir einmal - um „multilokale Mehrgenerationen-Gedichte“... Ganz sicher aber bin ich, auch bei den Kommenden und Künftigen werden die Bitten, wie auch immer formuliert, im Herzen lebendig sein: Schaffe in uns Gott ein reines Herz und gib uns einen neuen beständigen Geist...
III.
Zwei Fragen sollten es sein. Nun also die zweite: Lieben Sie Psalmen? Auch diesen hier, den 51. Psalm? Und lieben Sie die Bitte um das reine Herz? Johannes Calvin hat einmal gesagt, Gott selbst habe die Psalmen seinem Volk in den Mund gelegt. So hat Gott den Sprachlosen Worte gegeben, den Unmusikalischen Lieder, den Eifrigen hat er die Stille des Hörens aufgetan, den Einsamen Gemeinschaft geschenkt, den Verbitterten geht das Herz auf, den Verkniffenen öffnet er die Lippen, und eine Synode singt Tag für Tag, am Morgen und am Abend.
Am Anfang des Psalms findet sich eine eigentümliche Zeitangabe, eine bemerkenswerte Ortsbestimmung: „Ein Psalm Davids. Vorzusingen. Als der Prophet Nathan zu ihm kam, nachdem er zu Batseba eingegangen war.“ Wir kennen die Geschichte: Es ist ein heißes Begehren im Herzen eines großen Königs, und er hat die Macht zu exekutieren, was er ersehnt. Er nimmt sich die Frau eines anderen. Macht sie es ihm leicht? Weigert sie sich? Und der Ehemann der Frau? Der Feldherr fällt auf dem Feld der Ehre in vorderster Front. Das ist die offizielle Lesart. Aber man weiß Bescheid. Dem Paar wird ein Sohn geboren, Salomo. Die Fertilitätskrise muss man in diesem Haus nicht fürchten. Und dann kommt der Prophet des ewigen Gottes und sagt dem König: Du bist der Mann... Ein König aber beginnt zu bitten: Schaffe du Gott ein reines Herz. Wir verstehen uns recht: Diese Angaben verschieben unser Lied nicht ins Gestern der Historie. Sie machen deutlich, das Gebet, das Lied hat seinen Lebensbezug. Gewiss, dies ist auch Liturgie und schwingt sich weit hinaus über das Schicksal der Einzelnen. Aber dann ist es wieder konkret, dringlich, mit der Leidenschaft des Herzens vor Gott getragen. Schaffe Gott... Als sollten Könige und Bettler, Minister und Synodale das Zutrauen zur Schöpferkraft Gottes lernen und üben, das in solchen Bitten lebendig ist. Denn was ist schwerer: Am Morgen der Welt, als alles im Anfang war, eine Welt und das Leben zu erschaffen, zu sagen: „Es werde“, oder unser Herz zu reinigen und unseren Geist neu und gewiss zu machen? Im hebräischen steht da das Wort „bara“, mit dem die Bibel im Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer beginnt. Er schafft im Chaos das Leben und den Kosmos, in den Welten des Todes die Auferstehung, in aller Schuld wirkt er die Vergebung, einer geängsteten und verwirrten, geschäftigen und produktiven Kirche schenkt er Trost und Freude. Verwirf uns nicht.
Das reine Herz - ihm ist der Stolz vergangen, mit dem wir uns ans Eigene verlieren und verblendet meinen, unser Authentisch-Sein könne die Wahrheit tragen. Dem reinen Herzen ist die Verzagtheit ausgetrieben mit ihrer Tristesse, mit Gier und Zynismus, mit Routine und Resignation. Das reine Herz ist ganz und gar empfänglich, will vom Vertrauen beseelt sein auf dass Glaube wächst und Leben sich entfaltet.
Lieben Sie also Psalmen? Den 9. November haben wir mit einem Psalm begonnen. Den 11.11. und unsere Synode beschließen wir mit einem Psalm.
Schaffe du Gott... Das ist die Bitte am Ende. Gib du und tröste du. Wir bringen dir Worte und Wörter, bringen dir die Anstrengungen, die Bemühungen, ja sogar die Lobbyarbeit, unseren Stolz und unser Verzagtsein. Du kennst unser Herz. Du bist größer als unser Herz. So höre uns, wenn wir mit kindlichem Vertrauen singen und bitten, das Beichtgebet deines Volkes neu sprechen: Verwirf uns nicht.
Lieben Sie Brahms? Und haben Sie gehört, dass am Schluss der Motette in den Bitten der Jubel der Erfüllung zu hören ist? So treten wir gleich an den Tisch des Glaubens, zu feiern das heilige Mahl, kommen mit Sehnsucht und sind zugleich reich beschenkt. „Wir sehen schon die Lichter und hören die Musik.“
Amen.