Predigt am vorletzten Sonntag des Kirchenjahres in St. Marien zu Berlin

Wolfgang Huber

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Liebe Sängerinnen und Sänger des Stellenbosch Libertas Chores, liebe Gemeinde!

Wer keine Musik kennt, meint vielleicht, ohne sie entbehre er nichts. Wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, der kann ohne sie nicht mehr leben. Musik verleiht den Menschen Flügel und gibt ihren Gefühlen Ausdruck und Stimme. Der Libertas-Chor ist ein Chor, der die Freiheit im Namen trägt und der leidenschaftlich singt – aus Dank für die erreichte Freiheit, aber zugleich beseelt von der bleibenden Sehnsucht nach Freiheit. Auf dem Weg zur Bildung eines freien Südafrika wurde dieser Chor ins Leben gerufen. Was seine Bestimmung ist, wurde besonders deutlich wurde dies, als er 1994 die neue südafrikanische Nationalhymne während der Unabhängigkeitsfeier in Pretoria singen durfte.

Heute am 14. November gestalten Sie, liebe Brüder und Schwestern, gemeinsam mit uns unseren Gottesdienst in der Berliner Marienkirche. In diesen Tagen erinnern sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes der epochalen Bedeutung des 9. November 1989. Das Leben in der vormals zerschnittenen Stadt Berlin, im ehemals geteilten Europa und in der bis dahin durch den Kalten Krieg geprägten Welt hat sich durch den 9. November 1989 in unglaublicher Weise verändert. Durch diesen Tag vor fünfzehn Jahren wurde uns in der Mitte Europas das größte geschichtliche Geschenk seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Teil. Freiheit, Demokratie und Menschenrechte prägen heute das Leben vieler Menschen, die vor der sanften Revolution von 1989 der Willkür von Diktatoren ausgesetzt waren. Ich kann an diesem Tag gar nichts anders als unser Erleben zueinander ins Verhältnis zu setzen – Ihr Erleben in Südafrika und unser Erleben in Deutschland.

Den Predigttext für den heutigen Sonntag haben wir als Epistellesung bereits gehört. Paulus rühmt Gott. Er preist die Hoffnung, die mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Sie ist grenzenlos und umgreift Mensch, Kultur und Natur, die ganze Schöpfung. Die in Christus begründete Hoffnung weiß um die Leiden dieser Zeit. Sie weiß um das, was Menschen sich, anderen und der Schöpfung antun. Wir hören das Seufzen der Kreatur, die der Vergänglichkeit unterworfen ist. Doch mitten in den Bedrängnissen der Gegenwart ist durch Jesus Christus gewiss, dass die Freiheit der Kinder Gottes offenbar werden wird und die Leiber erlöst werden.

Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat – doch auf Hoffnung; denn die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.

Der katholische Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, hat vor wenigen Tagen beschrieben, wie sich manche Menschen das ewige Leben und die Erlösung des Leibes vorstellen. Von Firmen in den Vereinigten Staaten hat er berichtet, „die Ihren Kunden anbieten, sich nach dem Tod einfrieren zu lassen. Das kostet eine Stange Geld und das gesamte Erbe. Der Kunde wird Mitglied in einem Kreis von Gleichgesinnten. Unmittelbar nach seinem Tod konserviert ein firmeneigenes Ärzteteam den Körper fachgerecht und lagert ihn in einem mit flüssigem Helium gefüllten Behälter – atombombensicher! Sobald der Stand von Wissenschaft und Technik es erlaubt, soll er wiederbelebt werden. Viele werden das als Spinnerei von Leuten abtun, die keine anderen Sorgen und Geld genug haben, um sich dergleichen leisten zu können. Immerhin verfolgen sie ihr Anliegen mit heiligem Ernst. Verständlicherweise, denn dahinter steckt der uralte Traum vom ewigen Leben.“ [FAZ 11.11.04]

Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstigt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung, denn wie kann man auf das hoffen, das man sieht.

Wie kann man sein gesamtes Geld für die Konservierung des eigenen, am Ende des Lebens angekommenen und alt gewordenen Leibes  ausgeben und alle Hoffnung daran binden? Hier verlängern Menschen freiwillig und mit in Wahrheit unheiligem Ernst die Knechtschaft der Vergänglichkeit in ihre Vorstellung von Ewigkeit hinein.

Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung, denn wie kann man auf das hoffen, das man sieht. Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Liebe Gemeinde,

der Apostel Paulus hat die Herausforderungen der menschlichen Existenz sehr treffend beschrieben. Eingebettet in das Seufzen und Harren der gesamten Schöpfung sind wir in der Tiefe unseres Lebens auf eine Hoffnung angewiesen, die uns trägt. Hoffnung ist so lebensnotwendig wie die Luft zum Atmen. In den Psalmen gibt sich Gott als unser Gegenüber zu erkennen. Er weiß um unsere tiefsten Sorgen: Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen [Ps.50,15].

Auch heute strecken sich Menschen nach einer Hoffnung aus, die sie nicht selbst ergreifen können. Auch heute, auch an diesem Tag quälen Menschen sich unter einem Leiden, aus dem sie selbst keinen Ausweg wissen. Die Sehnsucht nach der Zukunft Gottes bestimmt auch heute viele Menschen, auch viele Christen auf unserem Globus. In dieser Sehnsucht zeigt sich ihre Zugehörigkeit zu Gott und ihr Konflikt mit den Ungerechtigkeiten unserer Welt. Sie halten sich daran, dass ihr Leiden begrenzt ist und setzen darauf, dass Gott für sie eine Zukunft bereit hält. Sie halten sich an die Hoffnung, auch wenn sie nur schwach ist wie ein Strohhalm. Doch auch ein Strohhalm Hoffnung stärkt ihre Geduld und hält die Sehnsucht nach Freiheit lebendig.

In Deutschland ist die Hoffnung des Glaubens eigentlich nicht schwer. Niemand macht uns die Freiheit der Religion streitig. Niemand hindert uns daran, mit anderen zusammen unseren Glauben zu bekennen und unserer Hoffnung Ausdruck zu geben. Aber trotz aller Freiheit stehen wir in der Gefahr, Schiffbruch zu erleiden. Nach dem Scheitern einer Ehe oder dem Tod eines geliebten Menschen, nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes oder der Enttäuschung über gesellschaftliche Veränderungen verlieren wir die Lust an der Hoffnung; aus Enttäuschung waren wir nichts Neues mehr. Der Versuch, Angst und Leiden zu verdrängen, führt zur Erstarrung. Wir fühlen sich einem blinden Schicksal unterworfen. Längst vor dem Tod beginnt der verzweifelte Tod auf Raten. Wer „die Flügel“ hängen lässt und seine Gotteskindschaft vergisst, ist auf Hilfe angewiesen., Wenn ein Mensch die Hoffnung aufgegeben hat, fehlt ihm die Lebensenergie. Das Singen vergeht uns. Dann brauchen wir Mitmenschen, die mit uns aufstehen, die uns beim Singen helfen, ja die uns tanzen lassen. Dann brauchen wir Zeugen der Hoffnung. Die Sängerinnen und Sänger aus Stellenbosch, die uns heute ihre Musik bringen, sind für mich solche Zeugen der Hoffnung. Mein Wunsch ist, dass wir uns heute von ihnen anstecken lassen.

Wer keine Musik kennt, meint vielleicht, ohne sie entbehre er nichts. Wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, der kann ohne sie nicht mehr leben. Wer die Freiheit der Kinder Gottes nicht kennt, meint vielleicht, ohne sie entbehre er nichts. Wer einmal von der Sehnsucht nach der Freiheit der Kinder Gottes ergriffen wurde, der wird sich nicht der Knechtschaft der Vergänglichkeit unterwerfen. Der Glaube an das ewige Leben verdirbt nicht den Geschmack am Leben, sondern kräftigt ihn. Christen verachten nicht das, was ist. Aber ihre Sehnsucht und ihre Lust am Leben greifen weit darüber hinaus. Sie wittern mit allen Sinnen die Signale, mit denen Gott uns in die Freiheit ruft. Es gibt Momente des Glücks, die sind wie ein Präludium für das ewige Leben, intoniert mitten im Leben.

Amen