Ansprache zum Buß- und Bettag am 17. November 2004
Bischof Dr. Rolf Koppe (aufgezeichnet für die Deutsche Welle)
Das evangelische Deutschland begeht heute den Buß- und Bettag. Seitdem er in den meisten Bundesländern nicht mehr offizieller Feiertag ist, hat er paradoxerweise in seiner Bedeutung zugenommen. Selbstverständlich gibt es auch viele andere Gelegenheiten, sich auf Buße und Gebet zu konzentrieren. Aber solch ein Tag im Kirchenjahr geht über die Selbstprüfung des Einzelnen hinaus, weil er sich an alle richtet und damit an das Zusammenleben von uns Menschen in der Gesellschaft.
Von Anfang an hat das Christentum die Frage nach der Gerechtigkeit und nach dem Maßstab von gut und böse gestellt. Der Apostel Paulus hat unüberhörbar vor der eigenen Selbstgerechtigkeit gewarnt: "Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest", sagt er im Brief an die Römer und fährt fort: "Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest".
Das ist ein Einspruch gegen die allgemeine Praxis, für Fehler und Versäumnisse immer die anderen schuldig zu sprechen. Und es ist die Erinnerung daran, dass das letzte Urteil über unsere Taten von Gott gesprochen wird, der gütig, geduldig und langmütig ist: "Weißt du nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet?" fragt der Apostel.
Vor 15 Jahren waren wir von Herzen dankbar für den Fall der Mauer, die die beiden Teile Deutschlands jahrzehntelang getrennt hatte. Heute, angesichts der schlechteren wirtschaftlichen Lage, gibt es Stimmen, die den Menschen in Ostdeutschland die Schuld zuschieben möchten, dass es auch in Westdeutschland zunehmend Krisenerscheinungen gibt. Es gibt Neid und Streit, Missmut und Lähmung in weiten Kreisen der Bevölkerung. Arbeitgeber und Gewerkschaften finden nur schwer einen gemeinsamen Nenner für Kompromisse. Und die von der Vernunft gebotene Einsicht, dass es tiefe Einschnitte in soziale Leistungen geben muss, kämpft mit dem Gefühl, dass es bei alledem nicht gerecht zugeht.
Kann es eine Umkehr zu mehr Vertrauen und zu größerem Mut in die Zukunft geben? Ja, wenn nicht die Angst wächst, sondern der Glaube daran, dass Gott mit seiner Kirche und seiner Welt noch viel vorhat.
In China bin ich vor kurzem gefragt worden, wieso gerade Deutschland einen Martin Luther, einen Karl Marx und einen Adolf Hitler hervorgebracht hat. Ich konnte darauf spontan keine Antwort geben, aber ich behaupte inzwischen, dass die Fragen nach der Rechtfertigung des Menschen aus Glauben¸ nach der Schaffung irdischer gerechter Verhältnisse und nach der Ursache des menschenvernichtenden Bösen universale Fragen sind. Wir Menschen in Deutschland haben anderen nur die breitere Erfahrung voraus, dass es keine Umkehr ohne das Bekenntnis von Schuld gibt und ohne die befreiende Zusage der Vergebung keine Zukunft.
Vor 60 Jahren war der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende. Wir behalten im kollektiven Gedächtnis, welches Leid ein verblendeter Nationalismus und Rassismus über die Menschen und Völker gebracht hat. Aber wir behalten auch in dankbarer Erinnerung, welche Bereitschaft zur Versöhnung in den darauf folgenden Jahrzehnten stattgefunden hat - bis hin zur immer enger werdenden Zusammenarbeit der Staaten in Europa.
Die Schatten der Vergangenheit sind kürzer geworden, aber sie sind noch vorhanden. Historiker sind dabei, die Geschichte nicht nur aus der eigenen nationalen Perspektive zu schreiben, sondern sie in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Und Christen sind nicht länger auf ihre eigene konfessionelle Tradition ausgerichtet, sondern sehen in einem ökumenischen Geist auch die der anderen in einem neuen Licht. Zwischen Protestanten, Katholiken und Orthodoxen ist in den letzten Jahren die Überzeugung gewachsen, dass das Gemeinsame größer ist als das Trennende.
Lasst uns für die Einheit der Kirche und für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt bitten und uns auf den Tag freuen, an dem Gott das Verborgene der Menschen durch Christus Jesus richten wird.