Predigt im Abschlussgottesdienst der 5. Tagung der 11. Synode der EKD

Kirchenpräsident Christian Schad

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Schwestern und Brüder!

„Am Anfang war das Wort“, unter diesem Motto stand diese Synode. Wir fragten nach dem Erbe der Reformation, um von da aus Perspektiven für das Reformationsjubiläum zu gewinnen.

Am Ende unserer Tagung soll deshalb die Auslegung eines Textes stehen, der sowohl für Luther und Melanchthon, als auch für Zwingli und Calvin für ihr Gottes- und Selbstverständnis zentral wurde. Ich lese aus dem Römerbrief des Apostels Paulus, Kapitel 10, die Verse 9-17: „Wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet. Denn die Schrift spricht: ‚Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.‘ Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen. Es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn: ‚Wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll gerettet werden.‘ Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören, ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht: ‚Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!‘ Aber nicht alle sind dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht: ‚Herr, wer glaubt unserem Predigen?‘ So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.“

Wie sind wir „recht“ vor Gott? „Allein durch den Glauben an Jesus Christus“, so die Antwort des Apostels Paulus. Was also macht das Wesen, die Identität, was macht den Sinn meines Lebens aus – trotz und in allem Erleben, sich selbst und anderen ständig etwas schuldig zu bleiben? Was hält mein Leben zusammen, wenn ich an Grenzen stoße, wenn ich scheitere – an mir selbst oder an anderen, oder wenn Leid und Krankheit und am Ende das eigene Sterben ständige Begleiter sind?

Wie sehr durch Endlichkeitserfahrungen begrenzt, durch Versäumnisse belastet, durch nicht wiedergutzumachende Schuld gezeichnet, „Rechtfertigung“ heißt: dass wir im Letzten anerkannt und angenommen sind; dass am Ende nicht alles vergeblich war, sondern Trost und Gewissheit und Weite sich einstellen. Ohne letzte Annahme, ohne letzte Würdigung unserer Existenz, kann kein Mensch leben – das weiß jeder, das ist nicht strittig!

Strittig ist „Rechtfertigung“ erst dann, wenn sie im Zeichen eines Entweder-Oder steht: Rechtfertigung „aus Werken des Gesetzes“ oder „durch den Glauben an Jesus Christus“. „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Römer 3, 28), so lautet der Kernsatz des Apostels Paulus.

Wann bin ich „recht“? Muss ich etwas dafür tun und wenn ja, woran orientiere ich mich?

Orientieren wir uns an dem tadellosen Zeugnis, dem makellosen Auftreten, an dem, was wir an Erfolgen und Engagements vorzuweisen haben? Also: gegen die drohende Vergeblichkeit alle Kräfte zusammennehmen und gegen sie ankämpfen? Gegen herrschendes Unrecht nach bestem Vermögen Rechtes tun? Dem Bösen trotzen durch bestmögliche Ausnutzung der uns gegebenen Möglichkeiten?

Hinter all dem steht – als hohe Norm –, was bereits Aristoteles in seiner Ethik formuliert hat: „Es ist also richtig zu sagen, dass ein Mensch gerecht wird, wenn er gerecht handelt. Und besonnen, wenn er besonnen handelt.“

„Gerechtigkeit“ ist ein Begriff der Tat! Wie ich handle, so werde ich gerecht. Als moralisches Urteil geht das in Ordnung. Aber in die Irre führt dieses Denken und das entsprechende Verhalten, wenn all mein Tun zum Pensum der eigenen Selbstrechtfertigung wird.

„Nein!“, sagt Paulus. Die Würde unseres Lebens besteht nicht in der Summe dessen, was wir durch unsere Lebensleistung zustande bringen. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, liegt jeder menschlichen Anstrengung voraus. Gerechtigkeit ist eine Geste Gottes! Ausdruck seiner unbedingten Freundlichkeit und Zuneigung zu uns Menschen. Alle Gewohnheit, dass mein Tun und Lassen in der Welt in einem Handlungszusammenhang mit Gott steht, wird aufgelöst. Gerechtigkeit ist kein Tun mehr, sondern ein Sein durch Gott: Geschenk Gottes im Glauben an Jesus Christus.

Sich in einem Moment höchster Klarheit an den geheimnisvollen Gott der Gnade hinzugeben; aufzuhören mit dem Richten und Bewerten, auch aufzuhören, für den Sinn seines Lebens selbst sorgen zu müssen, das ist wohl ein Moment höchster Passivität.

Der Moment, in dem wir uns selbst aus der Hand geben und uns fallen lassen in den Lebensgrund des göttlichen Schoßes. Aber da ist es licht und hell und weit!

„Wohin“ – fragt Luther – „gelangt, wer auf Gott hofft, wenn nicht in das Nichts seiner selbst? Wohin aber entschwindet der, der in das Nichts entschwindet, wenn nicht dahin, woher er gekommen ist? Er ist aber aus Gott und dem eigenen Nichts hervorgegangen. Deshalb kehrt zu Gott zurück, wer in das Nichts zurückkehrt. Kann doch unmöglich außerhalb von Gottes Hand fallen, der außerhalb seiner selbst und aller Kreatur zu fallen kommt. Der Kreatur, die Gottes Hand von überallher umgreift. Denn er hält die Welt in seiner Hand. Stürze also durch die Welt hindurch, wohin stürzest du dann? Doch in die Hand und in den Schoß Gottes.“

Unser Leben – von Anfang an und über die Schwelle des Todes hinaus: verdanktes und darum unverlierbares Leben; umgeben von der Gewissheit, dass nicht unsere Leistungen und Erfolge, nicht unseres Verfehlungen und Misserfolge, nicht die Musterungen und Bilanzen, auch nicht Glück oder Unglück, Krankheit oder Gesundheit unser Leben ausmachen, sondern einzig seine Zusage, die uns – um Christi Willen – schon immer gerecht gesprochen hat. „So kommt der Glaube aus der Predigt“, wörtlich übersetzt: „aus dem Hören, das Predigen aber durch das Wort Christi.“ Entsprechend kann Luther sagen: „Gott hat mit den Menschen niemals anders gehandelt, handelt auch nicht anders mit ihnen, als durch das Wort der Verheißung und so können auch wir mit Gott nicht anders handeln, als durch den Glauben an sein Verheißungswort.“

Das ist die Grunderfahrung, von der aus Luther ein reformatorischer Theologe wurde. Protestantische Kultur ist Wortkultur! Sie traut dem Wort und den Wörtern etwas zu, geht sorgsam mit ihnen um, setzt auf Kommunikation, die nicht im Unsagbaren verharrt, sondern sich verständlich machen will. Unser Glaube ist verletzlich. Aber er steht unter der Zusage, dass Gott selbst es ist, der das Herz mit Hilfe des menschlichen, des verstehbaren Wortes berühren will.

Wo wir also unsere Hoffnung miteinander teilen, wo wir weitersagen, was uns trägt im Leben und im Sterben, da kann es geschehen, dass das Hören unser Herz berührt und Vertrauen entsteht.

Dieses Ja-Wort ist Ursprung und Grund der Kirche. Wir vergegenwärtigen ihn – wie auch heute Abend – in jedem Gottesdienst. Er, der Gottesdienst, ist so etwas wie die Feier unserer Rechtfertigung. Denn hier sind wir vor allem solche, die etwas empfangen. Wir hören, was Gott uns zu sagen hat und nur er uns sagen kann. Und wir empfangen ihn selber unter Brot und Wein. Im Gottesdienst haben wir gerade nichts zu leisten. Unser Handeln besteht allein darin, dass wir Gott danken, ihn loben und uns im Gebet ihm anvertrauen. So bezeugen wir, dass Jesus Christus unser einziger Halt und Trost ist, wie es im Heidelberger Katechismus heißt: „Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin.“

Amen.