„Die Geschichte der Heiligen Nacht ist eine Liebesgeschichte“
Predigt zur Christvesper. Vizepräses Petra Bosse-Huber in der Immanuelskirche in Wuppertal-Oberbarmen ausgestrahlt im ARD-Fernsehen an Heiligabend 2012
So hatte Maria sich das nicht vorgestellt. Eine Schwangerschaft, bei der sie nicht sagen konnte, von wem das Kind war. Denn zu sagen: Es ist von Gott! – das ist ja noch schlimmer als zuzugeben: Ich hab keine Ahnung, von wem es ist. Das kommt bei ihr im Viertel ja öfter vor.
Allein, sehr allein hat sie sich gefühlt, als die Wehen losgingen. Ihre Mutter war nicht da, ihre Schwester nicht, ihre Freundinnen nicht. Die wissen ja auch gar nicht, wo sie ist. Wuppertal-Oberbarmen ... Auch das hatte sie sich so nicht vorgestellt. New York hätte es sein sollen, oder wenigstens Berlin. Aber Jo ist da. Er ist nicht abgehauen. Er hat bei ihr gekniet, ihr geholfen, sie gehalten und beruhigt.
Und nun ist es endlich da, ihr Kind. So viele Sorgen vorher, so viele Ängste. Aber nun ist alles gut. Was morgen ist, ist egal. Ihr kleiner Sohn ist da, und die Liebe ist viel größer, als sie es sich hätte vorstellen können.
Wie sieht sie aus, die „Heilige Familie“, wenn sie plötzlich in Wuppertal-Oberbarmen auftaucht? Nicht so wie auf den klassischen Darstellungen: Eine Maria, die huldvoll lächelt, als ob die Geburt sie gar nicht angestrengt hätte. Das Baby, das schön sauber in den Windeln liegt, und ein Josef, der scheinbar unbeteiligt dabei steht und ernst in die Gegend guckt. Nein, so nicht.
[Kunstaktion Klangteppich (Kantorei) und Enthüllung Figur „Statthalter“]
Die Figuren der Jugendlichen machen deutlich: Es läuft im Leben nicht immer alles glatt. Es wird auch schon mal eng, gefährlich und bedrohlich. In unserer Krippenszene erinnert die dunkle Figur daran: halb Mensch, halb Maschine.
Sie steht für den Statthalter Quirinius aus der Weihnachtsgeschichte. Als hoher Beamter war er eine Symbolfigur für die Macht des Kaisers. Diese Macht reichte bis in den hintersten Winkel des Römischen Reiches. Bis in die letzte Provinz, nach Israel/Palästina übte Quirinius für den Kaiser Gewalt aus, bei der Volkszählung ebenso wie beim Eintreiben der Steuern. Gewalt prägt auch heute die Welt: Erschreckend in Diktaturen und Kriegsgebieten, aber bedrohlich auch in Fußballstadien, auf dem S-Bahnhof oder im Internet.
Die Mitglieder der Kunstgruppe zeigen mit ihren Kunstwerken wie das Leben wirklich ist. Das Leben, in dem Teenager schwanger werden und von ihrer Familie nicht unterstützt werden. Eine junge Frau und ein Mann, die eine Familie gründen, obwohl das Kind nicht von ihm ist. Eine Familie, die sich selbst im reichen Deutschland Sorgen darum machen muss, ob das Geld zum Leben reicht, ob der Vater seinen Job behält und ob die Mutter ihre Ausbildung fertig machen kann.
Mich berührt besonders die Darstellung von Josef. Die Künstlerinnen und Künstler haben seine Figur so geformt, dass er ganz nah bei Maria kniet und ihr seine Arme entgegen streckt. Bereit etwas zu tun, bereit, sie zu halten und das Kind in Empfang zu nehmen. Die Jugendlichen stellen Josef in einer Weise dar, die ich nicht erwartet hätte. Für sie ist er aktiv, nicht passiv. Er ist mitten im Geschehen, kein Statist.
Er ist der Mann, dessen Verlobte plötzlich schwanger war und die ihm sagte: Es ist von Gott. Die Jugendlichen kennen solche Geschichten aus ihrem Umfeld. Nur wird dann gesagt: Vater unbekannt, das gibt es öfter. Oder: Vater abgehauen. Oder auch: Vater in der Kneipe abgetaucht. Umso mehr wissen die Jugendlichen Josef zu schätzen – in ihm sehen sie einen anderen Mann: Er ist zwar nicht begeistert, aber er ist auch nicht abgehauen. Er ist geblieben und hat Verantwortung übernommen.
„Ja, aber nicht nur auf dem Papier!“ sagt ein Mädchen. „Der zahlt nicht nur Unterhalt und kümmert sich sonst nicht. Der liebt die Maria und das Kind, auch wenn es nicht seins ist. Das ist der Unterschied!“
Verbindung, Beziehung und Verlässlichkeit – das ist der Unterschied. Das ist es, wonach die Jugendlichen suchen und was sie selber gerne verkörpern möchten. So wie sie Josef verstehen, ist er ein Vorbild. Nicht nur an Weihnachten.
[Schriftlesung Teil II Lukas 2, 8+9]
[Kunstaktion Klangteppich (Orgel) und Enthüllung „Hirte“ + „Engel“]
[Schriftlesung Teil III Lukas 2, 10-14]
Ein Schaf- oder Ziegenhirte zu sein, war zu der Zeit von Jesu Geburt nicht der angesehenste Beruf. Eher das Gegenteil war der Fall. Die Bibel erzählt, dass die Hirten bei ihren Herden die ersten waren, denen die gute Botschaft verkündigt wurde. Denn bei Gott werden die Letzten die Ersten sein. „Euch ist heute der Heiland geboren“. Der Heiland, der Retter kommt zu allererst zu den Armen, zu den Schwachen in der Gesellschaft und zu den Entrechteten.
In unserer Krippenszene sehen wir einen jungen Mann, der als Stellvertreter für die Gruppe der Hirten steht. Sein Name ist Amir. Er kommt aus Syrien und hat Asyl beantragt. Er ist noch nicht lange hier, spricht noch nicht gut Deutsch. Trotzdem ist er froh, dass er hier in die Schule gehen kann. Ein paar Freunde hat er schon gefunden, einen mit deutschen Wurzeln, einen mit türkischen und einen mit iranischen. In der Stadt hat er es nicht immer leicht. Manchmal sagen Leute böse Dinge zu ihm. „Geh doch wieder dahin, wo du hergekommen bist.“ Das würde er ja gerne, es geht nur nicht.
Auf den ersten Blick sehen nicht alle, was ihm passiert ist. Eine Granate hat ihm den linken Arm abgerissen und er hat viele Verbrennungen erlitten. Deshalb ist er in Deutschland operiert worden, damit die Haut besser heilen kann. Die inneren Wunden heilen langsamer.
[Während der Predigt wird das Objekt „Freiheit“ enthüllt. Objekt „Frieden“ hängt schon.]
Für Amir bedeutet das Leben in Deutschland ein Leben in Sicherheit und FREIHEIT. Die Freiheit, selbst zu denken und zu entscheiden, was richtig ist und was falsch. Die innere Freiheit, ein eigener Mensch zu werden, ein Mensch mit Erfahrungen und Narben, mit Träumen und Möglichkeiten. Die Gitterstäbe, auch die inneren, werden aufgebrochen. Hände sind nicht zur Untätigkeit verbannt, sie können gestalten und Neues formen.
Wie die Hirten auf dem Felde braucht Amir Hoffnung und Mut. Die Zuversicht, dass das Leben lebenswert ist, und dass die Dinge sich zum Besseren wenden können. Wie die Hirten auf dem Felde braucht Amir einen Engel, der zu ihm spricht: Fürchte dich nicht.
FRIEDEN auf Erden, davon träumt Amir. Frieden in seinem Heimatland und in allen Ländern der Welt, die von Krieg und Konflikten gezeichnet sind. Frieden ist nicht nur Waffenstillstand, nicht nur die Abwesenheit von Gewalt. Frieden heißt: Verletzungen heilen, Menschen gehen neu aufeinander zu. Hände berühren einander, Versöhnung und Verzeihen wird möglich. Frieden auf Erden, darauf hofft Amir.
[Schriftlesung Teil IV Lukas 2, 15-20]
Die Geschichte dieser Heiligen Nacht ist eine Liebesgeschichte. Gott liebt uns so sehr, dass er unser Leben teilen will. Er liebt uns, genau so, wie wir sind: schutzlos, bedürftig, oft verstrickt in Leid und Schuld und gerade deswegen voller Sehnsucht nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit.
Das Jesuskind liegt in der Krippe, im Futtertrog der Tiere, im Einkaufswagen in der Unterführung. Gott wird Mensch. Es erscheint so unlogisch, es sprengt alle Vorstellungen. Gott kommt. Nicht als Kriegsfürst, nicht als Milliardär, nicht als Präsident. Er kommt als Kind, arm, schutzlos und bedürftig. Ein Mensch.
[Objekt „Liebe“ wird während der Predigt enthüllt]
LIEBE – so heißt dieses Kunstwerk, das die Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Schülercafé und dem Viertel gestaltet haben. Die Liebe - das offene Herz, verwundbar und dennoch stark, voller Wärme und Kraft. Diese Liebe ist nicht romantisch, nicht kitschig und süß. Egal, wie viele niedliche Engelfigürchen und wie viele Lebkuchenherzen zu unserem Weihnachtsfest dazu gehören.
Die Liebe, um die es zu Weihnachten geht, ist ganz anders: groß, stark, aufrüttelnd und heilend. Gottes Liebe in unserer Welt. Für Maria, Josef und ihr Kind, das in Wuppertal-Oberbarmen zur Welt kommt. Für Amir, der vom Frieden träumt. Für die Jugendlichen und Erwachsenen im Kunstprojekt, in den Chören, in dieser Kirche. Für alle, die sich sehnen nach einer Kraft, die ihr Leben anrührt und die Welt verändert.
Natürlich: Wir sind nicht Gott. Unsere Liebe ist nicht wie seine und muss es auch nicht sein. Aber Gottes Liebe kann uns verwandeln. Aus Zynismus kann Hoffnung werden, aus Traurigkeit Freude, aus Verletzung Vergebung und aus Angst ein neuer Anfang.
Die Geschichte der Heiligen Nacht ist eine Liebesgeschichte. Gott wird Mensch, und deswegen können die Menschen auch wahrhaft menschlich sein und menschlich werden.
Die Künstlerinnen und Künstler formulieren es so: Mach’s wie Gott - werde Mensch!