Morgenandacht am 9. November 2010

Pfarrerin Ulrike Trautwein

Es gilt das gesprochene Wort.

Losung: Der Herr kennt die Gedanken der Menschen: sie sind nur ein Hauch!
Ps. 94,11

Guten Morgen, liebe Schwestern und Brüder,
wir feiern unsere Andacht im Namen Gottes - über uns und uns gegenüber,
im Namen Jesu Christi - an unserer Seite und uns voraus und
im Namen des Heiligen Geistes - in unseren Herzen und mitten unter uns.

Lied 452, 1-3

Psalm 103

Lobe den Herrn, meine Seele
und was in mir ist, seinen heiligen Namen!

Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er Dir Gutes getan hat:

der dir alle deine Sünde vergibt
und heilet alle deine Gebrechen,

der dein Leben vom Verderben erlöst,
der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit,

der deinen Mund fröhlich macht
und du wieder jung wirst wie ein Adler.

Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht
allen, die Unrecht leiden.

Er hat seine Wege Mose wissen lassen,
die Kinder Israel sein Tun.

Barmherzig und gnädig ist der Herr,
geduldig und von großer Güte.


Liebe Schwestern und Brüder !

Bildung ist dieses Mal unser Schwerpunktthema und wir haben uns gestern intensiv damit beschäftigt.

Was wollen wir an die nächste Generation weitergeben? Was brauchen unsere Kinder, um das Leben zu bestehen mit Freude und Dankbarkeit, aber auch im Wissen um die Gefahren, denen wir Menschen ausgesetzt sind?

Heute ist der 9. November. Wie wir alle wissen: Ein mehr als besonderer Tag für unser Land. Bei der Vorbereitung für diese Andacht habe ich mich gefragt:

Was will ich, dass unsere Kinder über diesen Tag wissen?

Und das frage ich auch Sie, liebe Schwestern und Brüder:

Was wollen Sie der nachfolgenden Generation unbedingt über diesen Tag, über den 9. November weitergeben? Keine Sorge, Sie müssen jetzt nicht direkt antworten, aber das Nachdenken über diese Frage lohnt sich:

Was sollen meine Kinder und Kindeskinder über die Bedeutung dieses Tages wissen?

Die Antworten auf diese Frage werden sicherlich unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wo wir herkommen, wie wir selber bisher den 9. November im Laufe unseres Lebens erlebt haben, welche Ereignisse wir am stärksten mit ihm verbinden.

Vor sechs Jahren bei der Synode in Magdeburg hatte ich schon einmal die Andacht am 9. November. Darin stand im Vordergrund die Erinnerung an die sogenannte "Reichskristallnacht" am 9. November 1938, an das Schicksal unserer jüdischen Mitbürger, speziell an das Schicksal der jungen Künstlerin Charlotte Salomon. Es gab anschließend große Zustimmung, aber ich weiß auch noch, wie danach einige Synodale eine "leise" Enttäuschung ausdrückten, weil ihre Beziehung zum 9. November so eine ganz andere war, intensiv von den Erlebnissen 1989, von diesem Wunder der Öffnung der Mauer geprägt. Ich habe damals noch einmal mehr verstanden, wie sehr wir gerade an diesem Tag von unserer Herkunft geprägt sind und wie wichtig es ist, alle Facetten dieses Tages wahrzunehmen und zu würdigen.

Wozu am Ende dann auch der 9. November 1918 gehört, an dem Wilhelm der 11. zur Abdankung gezwungen wurde und der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstag die Deutsche Republik ausrief.

Was für ein Tag, dieser 9. November... Was will ich, dass unsere Kinder über ihn wissen? Erst einmal wünsche ich mir, dass es keine Erinnerungskonkurrenz zwischen dem unterschiedlichen Gedenken geben möge.

Dann will ich, dass unsere Kinder wissen, dass tiefer Schrecken, unbeschreibliche Schuld und Trauer auf der einen Seite, Jubel, ausgelassenes Feiern und Freudentränen auf der anderen Seite, dass all diese Gefühle zu diesem Tag dazu gehören. Diesem Tag, der, der deutsche Gedenktag schlechthin ist. Vermutlich ist aber der tiefere Grund, warum dieser Tag nicht zu einem Feiertag geworden ist, dass wir wohl überfordert wären, diesen Tag angemessen zu gestalten angesichts dieses Spektrums von Gefühlen.

1938 fing es mit der Zerstörung von Gotteshäusern an, Torarollen wurden auf die Straßen geschmissen, bespuckt, zerrissen und verbrannt. Das war der Anfang, dann wurden die Menschen vernichtet. Ich möchte, dass unsere Kinder wissen, dass uns ganz viele Menschen fehlen. Ich versuche mir das oft vorzustellen wie das wäre, wenn die jüdische Bevölkerung Deutschlands, Europas, ganz normal weitergelebt hätte: Wie sähe es in unserer Gesellschaft dann aus?

Mit den Gotteshäusern fing es an, das sollen unsere Kinder wissen, gerade heute, wo wir um angemessene Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen ringen…

Und der 9. November 1989... ein Wundertag...

Er lehrt uns, dass Dinge geschehen können, die man nicht für möglich gehalten hätte. Und ich kann immer wieder nur meine tiefe Bewunderung für die seelische Kraft der Menschen ausdrücken, die damals die friedliche Revolution getragen haben.

Das wünsche ich mir, dass das die nachfolgende Generation unbedingt in ihrem Geschichtsgedächtnis behält: Wunder sind möglich und Umstürze können ohne Gewalt geschehen. Bundestagspräsident Lammert hat es am 3. Oktober so treffend ausgedrückt:

Glücklichere Zeiten hatten wir Deutschen nie! Glück, das uns dankbar macht und hoffentlich
weiter geduldig und mutig auf dem gemeinsamen Weg, der vor uns liegt. Der 9. November birgt in sich die Erkenntnis, dass wir Menschen zu Furchtbarem und zu Grandiosem fähig sind.

Dazu die Losung des heutigen Tages aus Psalm 94,11. Dort heißt es:

Der Herr kennt die Gedanken der Menschen: sie sind nur ein Hauch!

Diese Worte an diesem Tag klingen im ersten Moment für mich nach einer Provokation:

Wir erinnern uns an unglaubliche geschichtliche Ereignisse und dann das: Die Gedanken der Menschen nur ein Hauch? Die Gedanken der Menschen, die so viel an Zerstörung auslösen können, die soviel Schönes, Kreatives hervorbringen können: ein Hauch ???

Wenn wir genauer in den Psalm 94 schauen, wird deutlich, dass hier nicht der Mensch, das Leid und die Freude, die er erlebt, klein gemacht und zur Fußnote der göttlichen Geschichte erklärt werden soll. Im Gegenteil, in diesem Psalm flehen verzweifelte Menschen Gott an, um Beistand in ihrer Not. Sie vertrauen gerade darauf, dass Gott ihr Leid sieht und sie verteidigt gegen die Menschen, die sie bedrücken und zerstören wollen. Und so packen diese betenden Menschen all ihr Gottvertrauen in diese Worte und beschwören Gottes Stärke/Macht: Gott, du kennst doch alles, was Menschen sich ausdenken, das ist doch nur ein Hauch im Vergleich zu Deiner Großartigkeit.

Der Herr kennt die Gedanken der Menschen: sie sind nur ein Hauch!

So bekommen diese Worte für mich etwas Tröstliches. Was auch immer wir Menschen uns ausdenken und antun mögen, Gott ist größer. Und weil Gott auf der Seite der Gerechtigkeit und der Lieben steht, kann ich in diesem Vertrauen und Glauben ankern, mit allem, was mich ausmacht.

Und mit Jesus Christus bekommt dieses Vertrauen ein menschliches Gesicht, Worte und Gesten. Er lehrt uns immer wieder: Keiner ist so klein und nichtig, dass er oder sie übersehen wird. Gott sieht jeden von uns mit seinem ganzen Leben an und nimmt ernst, was wir tun und was mit uns geschieht. Kein Mensch geht vor Gott verloren, was auch immer wir uns hier antun, bei Gott sind wir gesehen, bewahrt und gehalten. Ich möchte unsern Kindern weitergeben, Gott ist kein ferner Marionettenspieler, der unberührt unsere Geschicke dirigiert, nein, Gott trauert mit uns und klagt mit uns, - und Gott jubelt mit uns, freut sich über das Fallen der Mauern.
Der 9. November, er hat für mich auch eine familiäre Geschichte.

Am 9. November vor 8 Jahren starb mein Vater Dieter Trautwein und so möchte ich jetzt mit Ihnen sein wohl bekanntestes Lied: "Komm Herr segne uns" singen.

Vaterunser

"Komm Herr segne uns, dass wir uns nicht trennen, sondern überall uns zu Dir bekennen.."
Eine Bitte, auch für unsere nun bevorstehende Ratswahl.
Ratswahlen gehören nicht eben zu unseren leichtesten Übungen und so wünsche ich uns nun von Herzen gutes Gelingen.

Gott segne und behüte uns,
Gott lasse sein Angesicht leuchten über uns
und sei uns gnädig, Gott erhebe sein Angesicht
auf uns und schenke uns seinen Frieden.
Amen.