Predigt im Rahmen des Symposiums "Der Herero-Krieg - 100 Jahre danach - 1904-2004: Realitäten, Traumata, Perspektiven"
Bischof Dr. Rolf Koppe
In der "Unser Lieben Frauen"-Kirche zu Bremen
*unter Bezugnahme auf die Schriftlesungen 1.Mose 33,1-11 und Lukas 1,46-55
Liebe Gemeinde!
Ich möchte mit allen, die hier im Gottesdienst versammelt sind, an der Kette der Erinnerung zwischen Namibia und Deutschland schmieden: über tausende von Kilometern hinweg und über 100 Jahre hinweg - hin zu einem neuen Umgang mit der Geschichte und hin zu einer gemeinsamen Zukunft.
Wer weiß in Deutschland, und auch hier in Bremen trotz des Antikolonial-Denkmals schon, dass in dem Vernichtungskrieg deutscher Kolonialtruppen im Jahr 1904 im damaligen Deutsch-Südwestafrika etwa 70.000 Menschen, d.h. fast achtzig Prozent der Otjiherero-sprachigen und 50 Prozent der Nama-sprachigen Namibier getötet wurden, ebenso andere Volksgruppen wie die Damara, die San und die Tswana? Diese Zahlen und Fakten verschwinden hinter den Erinnerungen an die Millionen Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs in Europa, derer wir - wie jedes Jahr - am Volkstrauertag gedacht haben. Und gibt es nicht vierzehn gegenwärtige Krisenherde, überwiegend in Afrika, die im Gegensatz zum Irak oder zur sudanesischen Provinz Darfur kaum internationale Beachtung finden? Warum also den Blick auf Namibia richten, auf das große Land mit den wenigen Einwohnern?
Weil es nach der Unabhängigkeit vor 14 Jahren ein neues Gesicht bekommen hat, weil dort Menschen sich endlich getrauen zu sprechen und nach Menschen hier Ausschau halten, die zuhören und antworten. Wie Alphons Maharero, der traditionelle Führer des Königshauses der Tjamuaha/Maharero, der am Donnerstag letzter Woche auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, die in Magdeburg tagte, zu Gast war und die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Wie eine Reihe anderer, die heute und in den folgenden Tagen hier in Bremen sind, um dasselbe zu tun. Sind wir dazu bereit oder zucken wir zurück, weil wir Deutschen, auch wir Christen, nicht noch mehr bedenken und bezahlen wollen? Gibt es denn gar keine Verjährung?
Von dem am 10. November 1996 früh verstorbenen Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Peter Beier, stammen die Sätze: "Gedenken ist Arbeit. Wer hassen will, braucht sich nicht zu erinnern. Wer liebt, der muss gedenken. Wen nur die eigene Wunde schmerzt, sitzt in Erinnerung gefangen. Wer der Wunden anderer gedenkt, kann vergeben ohne Vergessen" (Peter Beier, Jenseits der Glut, Gedichte und Lesungen, hg. von Christian Bartsch, Presseverband der Ev. Kirche im Rheinland e.V., Düsseldorf, 2. Aufl. 1998).
Der Wunden anderer gedenken - das war nicht die öffentliche Meinung in Deutschland 1904. Die Zeitungen sprachen von den "Wilden", die gegen die deutsche Herrschaft aufgestanden waren und Generalleutnant Lothar von Trotha verhängte das Kriegsrecht und ordnete die Erschießung aller an, einschließlich der Frauen und Kinder. Also Völkermord und die ersten "Konzentrationslager".
Was einen schaudern lässt, ist die Kompromisslosigkeit, das Ausklammern der Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel - wie 1944 und 1945 die Bombardierung der Zivilbevölkerung in deutschen Städten durch die englische Luftwaffe. Musste das sein? Bremen - Hannover - Magdeburg - Dresden?
"Wen nur die eigene Wunde schmerzt, sitzt in Erinnerung gefangen". Maria singt: "Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen... Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen". Nein, diese Gleichung geht nicht in jedem Fall auf. Die Völker in Namibia haben ihr Land und praktisch allen Besitz verloren. Die Überlebenden mussten eine Passmarke um den Hals tragen, um nachzuweisen, dass sie in einem Arbeitsverhältnis standen. Der spätere Rassismus ließ sich schon blicken: die Würde wurde schon damals genommen. Die Nachfahren der deutschen Siedler haben sich mit einer hundertjährigen Vergangenheit auseinander zu setzen. Auch die Deutsche Evangelische Kirche in Namibia und die Evangelische Kirche in Deutschland, die noch in den 80er Jahren viel zu wenig darauf gedrungen hat, die Apartheid als Sünde zu benennen und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Ich habe vor acht Jahren, beim 100jährigen Jubiläum der Christuskirche in Windhuk, die Zerreißprobe in der Kirche mitbekommen. Gott sei Dank gibt es nach der Unabhängigkeit Ansätze zur Versöhnung, ausgestreckte Hände, die auch angenommen werden.
"Wer liebt, der muss gedenken". Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, hat letzten Donnerstag im Blick auf Chief Maharero gesagt: "Wir ergreifen diese ausgestreckte Hand in der Hoffnung, dass Vertrauen Versöhnung stiftet". Schon in August hat Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul um Vergebung unserer Schuld im Sinne des gemeinsamen 'Vater unser' gebeten und von Bischof Kameeta zur Antwort bekommen, dass diese Bitte ohne Wenn und Aber angenommen wird, weil sie ehrlich ist. Und Bischof Reinhard Keding hat der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass der eingeleitete Versöhnungsprozess vertieft werden kann, um den jetzt erlebten Frieden für die nächste Generation zu sichern.
Maria singt: "Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilands". Sie, die den Heiland Jesus Christus gebären wird, erinnert an Gottes Barmherzigkeit, die von Geschlecht zu Geschlecht währt bei denen, die ihn fürchten. Ja, wer hassen will, braucht sich nicht zu erinnern. Wer liebt, der muss gedenken.
"Gedenken ist Arbeit". Es geht um die geschichtlichen Details, um die Deutung des Geschehenen und um Konsequenzen. Deshalb diese Konferenz hier in Bremen unter der Schirmherrschaft des Bürgermeisters Dr. Henning Scherf.
Politiker, Wissenschaftler, Theologen: alle schmieden mit an der Kette der Erinnerung. Der Mut zur Hoffnung auf eine versöhnte Gemeinschaft wächst in dem Maße wie der Mut zur Begegnung von Angesicht zu Angesicht wächst und die Angst voreinander weicht.
Jakob, der Esau um den Erstgeburtssegen seines Vaters Isaak betrogen und sich viele Jahre im Ausland aufgehalten hatte, bevor er ihm wieder begegnete, rechnete mit dem Schlimmsten und bot ihm seine Viehherden als Wiedergutmachung an. Aber Esau sprach: "Ich habe genug, mein Bruder, behalte, was du hast". Jakob hält dagegen: "Ich sah dein Angesicht als sähe ich Gottes Angesicht und du hast mich freundlich angesehen". Und er fährt fort: "Nimm doch diese Segensgabe von mir an, die ich dir zugebracht habe; denn Gott hat sie mir beschert und ich habe von allem genug. So nötigte er ihn, dass er sie nahm". Ja, Versöhnung trägt Früchte.
Meine Hoffnung ist, dass den Nachkommen der Opfer von damals Gerechtigkeit widerfährt und ihnen Gaben, mit denen das Volk, aus dem die Täter stammen, gesegnet worden ist, zugebracht werden.
Mein inniger Wunsch ist, dass Deutsche und Namibier einander ins Angesicht sehen und dabei Gottes freundliches Angesicht erblicken, das er uns allen in Jesus Christus zugewandt hat.
Amen.