Morgenandacht
Prof. Rolf Wernstedt und Frau Wiebke Ostrowski (3. Tagung der 10. Synode der EKD Magdeburg, 7. - 12. November 2004)
Liebe Brüder und Schwestern! Wir, das heißt Wiebke Ostrowski und ich, haben uns dafür entschieden, zur heutigen Andacht aus den vielen Stellen der Bibel, die vom Verhältnis der Generationen handeln, das uns allen bekannte Wort des Paulus aus dem Galaterbrief 5, 6, „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, auszuwählen und ein bisschen über seine Bedeutung für das Generationenverhältnis nachzudenken.
Es geht uns nicht darum, das zu wiederholen, was so kenntnisreich und systematisch, so leidenschaftlich oder besorgt in den letzten Tagen dazu hier auf der Synode gesprochen wurde und heute noch einmal Thema sein wird. Kann der Gedanke und die Mahnung, dass jeder des anderen Last tragen solle, in unserer Frage mehr bedeuten als die selbstverständlich erscheinende Aufforderung, für die Erziehung, die Zukunft und das tägliche Brot der Kinder und das materielle Wohlergehen und im Notfall die Pflege der Älteren zu sorgen? Oder gilt der Hinweis auf die Erziehung und die Zukunft vielleicht auch für die Älteren?
Diese Frage erscheint etwas ungewöhnlich, vielleicht ist sie es aber gar nicht. Uns Christinnen und Christen ist in der Bibel, in Moses 27, gesagt, dass Gott den Menschen ihm zum Bilde schuf. Wenn jeder Mensch Gottes Ebenbild ist, dann hat das Folgen und muss das Folgen haben für das Verhältnis der Menschen aller Generationen zueinander. Das heißt nämlich, dass jeder und jede in jedem Alter eine Würde hat, die von Gott kommt, und dass alles, was man von Menschen erwartet, allen aufgetragen ist. Es heißt zum Beispiel auch, dass Ältere im Umgang mit Jüngeren, auch mit Kindern jedes Alters, die Ebenbildlichkeit Gottes in Rechnung stellen müssen – und das immer, bei jeder Gelegenheit, im Gespräch, im Spiel, in der Tätigkeit, auch im Konflikt und bei manchmal unerträglich empfundenen Belastungen.
Ich verstehe die Ebenbildlichkeit Gottes so, dass sie von jedem Menschen den respektvollen Umgang miteinander erfordert. Dass das für die Jüngeren gegenüber den Älteren gilt, ist eine gängige Vorstellung, wenn auch nicht immer erlebt. Aber es gilt auch umgekehrt.
Die pädagogische Sprache ganzer Jahrhunderte – die Kirche ist davon nicht ausgenommen – hat in Kindern und Jugendlichen immer nur Objekte ihrer Intentionen gesehen. Die Schulrichtlinien aller Länder enthalten häufig viele Sätze mit drei Wörtern. Sie beginnen: „Die Schülerinnen – oder die Schüler – sollen“. Und die Meinung, Kinder und Jugendliche hätten in erster Linie zu gehorchen, wäre bei Nachfrage wohl zumindest bei geheimer Abstimmung ohne weiteres mehrheitsfähig.
Lange hat kaum jemand danach gefragt, ob solchen Überzeugungen ein hinreichendes Bild von Kindern und Jugendlichen zugrunde liegt. Was soll eigentlich die Rede von der Last der Erziehung bedeuten? Meistens, jetzt einmal unabhängig von den Kosten, doch dies: Sie sind unruhig, sie haben ständig Forderungen, irgendwann auch Widerworte, zeitweise kann man sie gar nicht verstehen; sie haben Interessen und Wünsche, die man problematisch findet. Kurzum, sie sind eine Herausforderung. Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen.
Wenn dies allerdings nur als Last verstanden wird, die man möglichst meiden oder vermeiden muss, hat man die eigene Zeit, als man selbst in dem Alter als Kind oder Jugendlicher war, vergessen und denkt gleichsam verächtlich über sich selbst. Aus dieser Sicht ist die Rede von der Last der Erziehung der Kinder ein Stück Selbstverstümmelung und auch Gottesvergessenheit.
Jugenddelegierte Wiebke Ostrowski: Aber wir dürfen es uns auch nicht zu leicht machen mit unserer Wertung. Wenn ausbildungsfähige und -willige Jugendliche keine Ausbildungsstätte erhalten, erfüllen wir Christi Gesetz wahrscheinlich nicht, wenn wir sagen, sie sollten die Last der Ausbildungsbetriebe tragen. Wir erfüllen das Gesetz auch nicht, wenn wir Betriebe zwingen, mehr Geld auszugeben als sie haben. Aber wir erfüllen wahrscheinlich Christi Gesetz, wenn wir darauf bestehen, dass in dieser Frage eine große Verantwortung existiert, die über die unmittelbar Beteiligten hinausreicht.
Dürfen wir in Deutschland nur an deutsche Generationsprobleme denken, wenn in Deutschland mehr als 4 Millionen Ausländer leben – mit Kindern, Alten und Hilfsbedürftigen? Was besagt die gegenseitige Übernahme der Last bei Minderheiten, was bei besonders Förderungsbedürftigen, wie Menschen, die eine Behinderung haben? Tun wir genug für die Kinder, die es schwer haben, in Schule und Alltag integriert zu werden? Ist die schnelle Art, Kinder in Sonderschulen zu überweisen, nicht ein Abschieben von Last, die garantiert nicht das Gesetz Christi erfüllt? Wenn man nicht umdenken lernt, dass Kinder und Jugendliche ein eigenes Recht haben auf Förderung und Befähigung ihrer Möglichkeiten, die Respektierung ihrer Subjektivität als vollwertiges Ebenbild Gottes, wird sich nicht viel ändern in den Gewichtungen der öffentlichen Haushalte und der Haltung in der Gesellschaft. Kinder in Respekt zu erziehen und Jugendliche zu begleiten bedeutet nicht, nichts von ihnen zu erwarten und zu fordern. Jede Generation hat anderen Generationen gegenüber eine Bringschuld, die nicht demütigend und unfair sein darf.
Synodaler Dr. Wernstedt: Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass wir in der Art unserer öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unabhängig von fehlenden Einrichtungen genügend tun, was möglich und auch nötig ist. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass der Gedanke der Chancengleichheit zu kurz greift. Um eine gleiche Chance auch real greifen und verwirklichen zu können, muss man die jungen Menschen befähigen, damit sie sich entwickeln können.
Der Ratsvorsitzende hat, wie ich finde, am Sonntag in seinem Rechenschaftsbericht sehr produktiv den Begriff der Befähigungsgerechtigkeit eingeführt. Was müssen die Älteren tun, damit die Jüngeren fähig werden können, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, und des anderen Last überhaupt erst ertragen können? Was müssen wir lernen, und wie müssen wir uns verhalten, um in jedem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes respektieren zu können?
Gerechtigkeit kommt auch in der Fähigkeit zum Ausdruck, sich in diesem Sinne gegenseitig zu erkennen und empfundene Lasten in lösbare Aufgaben zu verwandeln. Dies wäre aber die Verpflichtung aller – der Politik, der Gesellschaft, auch der Kirche und eines jeden Einzelnen. „Dies muss sich an dem christlichen Bild des Menschen orientieren, das jeden Menschen als Geschöpf Gottes versteht. Als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch dazu bestimmt, Subjekte seiner Lebensgeschichte damit mit seiner Bildung zu sein“; so steht es im schriftlichen Rechenschaftsbericht des Rates.
Dies geht niemals allein. Deswegen soll auch keiner für sich allein leben. Dies ist die Hoffnung und der Auftrag, wie es bei Maleachi heißt und wie der Bruder Johannesdotter vor zwei Tagen hier vorgetragen hat, dass sich das Herz der Älteren zu den Jüngeren und das der Jüngeren zu den Älteren bekehre. Nur dann sind wir auch fähig, das Gesetz Christi zu erfüllen.
Und das geht dann auch sehr ins Private. Meine Frau und ich haben zwei Enkel. Sie sind häufig bei uns, gelegentlich auch länger. Manchmal sagen wir uns: Hätten wir vorher gewusst, wie schön das ist, hätten wir sie vielleicht zuerst gekriegt.
Gott gebe uns allen die Kraft, dass jede Generation den Respekt voreinander lernt. Amen. (Lied EG 320, Verse 1, 2, 7 und 8)
Es geht uns nicht darum, das zu wiederholen, was so kenntnisreich und systematisch, so leidenschaftlich oder besorgt in den letzten Tagen dazu hier auf der Synode gesprochen wurde und heute noch einmal Thema sein wird. Kann der Gedanke und die Mahnung, dass jeder des anderen Last tragen solle, in unserer Frage mehr bedeuten als die selbstverständlich erscheinende Aufforderung, für die Erziehung, die Zukunft und das tägliche Brot der Kinder und das materielle Wohlergehen und im Notfall die Pflege der Älteren zu sorgen? Oder gilt der Hinweis auf die Erziehung und die Zukunft vielleicht auch für die Älteren?
Diese Frage erscheint etwas ungewöhnlich, vielleicht ist sie es aber gar nicht. Uns Christinnen und Christen ist in der Bibel, in Moses 27, gesagt, dass Gott den Menschen ihm zum Bilde schuf. Wenn jeder Mensch Gottes Ebenbild ist, dann hat das Folgen und muss das Folgen haben für das Verhältnis der Menschen aller Generationen zueinander. Das heißt nämlich, dass jeder und jede in jedem Alter eine Würde hat, die von Gott kommt, und dass alles, was man von Menschen erwartet, allen aufgetragen ist. Es heißt zum Beispiel auch, dass Ältere im Umgang mit Jüngeren, auch mit Kindern jedes Alters, die Ebenbildlichkeit Gottes in Rechnung stellen müssen – und das immer, bei jeder Gelegenheit, im Gespräch, im Spiel, in der Tätigkeit, auch im Konflikt und bei manchmal unerträglich empfundenen Belastungen.
Ich verstehe die Ebenbildlichkeit Gottes so, dass sie von jedem Menschen den respektvollen Umgang miteinander erfordert. Dass das für die Jüngeren gegenüber den Älteren gilt, ist eine gängige Vorstellung, wenn auch nicht immer erlebt. Aber es gilt auch umgekehrt.
Die pädagogische Sprache ganzer Jahrhunderte – die Kirche ist davon nicht ausgenommen – hat in Kindern und Jugendlichen immer nur Objekte ihrer Intentionen gesehen. Die Schulrichtlinien aller Länder enthalten häufig viele Sätze mit drei Wörtern. Sie beginnen: „Die Schülerinnen – oder die Schüler – sollen“. Und die Meinung, Kinder und Jugendliche hätten in erster Linie zu gehorchen, wäre bei Nachfrage wohl zumindest bei geheimer Abstimmung ohne weiteres mehrheitsfähig.
Lange hat kaum jemand danach gefragt, ob solchen Überzeugungen ein hinreichendes Bild von Kindern und Jugendlichen zugrunde liegt. Was soll eigentlich die Rede von der Last der Erziehung bedeuten? Meistens, jetzt einmal unabhängig von den Kosten, doch dies: Sie sind unruhig, sie haben ständig Forderungen, irgendwann auch Widerworte, zeitweise kann man sie gar nicht verstehen; sie haben Interessen und Wünsche, die man problematisch findet. Kurzum, sie sind eine Herausforderung. Kleine Kinder kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen.
Wenn dies allerdings nur als Last verstanden wird, die man möglichst meiden oder vermeiden muss, hat man die eigene Zeit, als man selbst in dem Alter als Kind oder Jugendlicher war, vergessen und denkt gleichsam verächtlich über sich selbst. Aus dieser Sicht ist die Rede von der Last der Erziehung der Kinder ein Stück Selbstverstümmelung und auch Gottesvergessenheit.
Jugenddelegierte Wiebke Ostrowski: Aber wir dürfen es uns auch nicht zu leicht machen mit unserer Wertung. Wenn ausbildungsfähige und -willige Jugendliche keine Ausbildungsstätte erhalten, erfüllen wir Christi Gesetz wahrscheinlich nicht, wenn wir sagen, sie sollten die Last der Ausbildungsbetriebe tragen. Wir erfüllen das Gesetz auch nicht, wenn wir Betriebe zwingen, mehr Geld auszugeben als sie haben. Aber wir erfüllen wahrscheinlich Christi Gesetz, wenn wir darauf bestehen, dass in dieser Frage eine große Verantwortung existiert, die über die unmittelbar Beteiligten hinausreicht.
Dürfen wir in Deutschland nur an deutsche Generationsprobleme denken, wenn in Deutschland mehr als 4 Millionen Ausländer leben – mit Kindern, Alten und Hilfsbedürftigen? Was besagt die gegenseitige Übernahme der Last bei Minderheiten, was bei besonders Förderungsbedürftigen, wie Menschen, die eine Behinderung haben? Tun wir genug für die Kinder, die es schwer haben, in Schule und Alltag integriert zu werden? Ist die schnelle Art, Kinder in Sonderschulen zu überweisen, nicht ein Abschieben von Last, die garantiert nicht das Gesetz Christi erfüllt? Wenn man nicht umdenken lernt, dass Kinder und Jugendliche ein eigenes Recht haben auf Förderung und Befähigung ihrer Möglichkeiten, die Respektierung ihrer Subjektivität als vollwertiges Ebenbild Gottes, wird sich nicht viel ändern in den Gewichtungen der öffentlichen Haushalte und der Haltung in der Gesellschaft. Kinder in Respekt zu erziehen und Jugendliche zu begleiten bedeutet nicht, nichts von ihnen zu erwarten und zu fordern. Jede Generation hat anderen Generationen gegenüber eine Bringschuld, die nicht demütigend und unfair sein darf.
Synodaler Dr. Wernstedt: Es gibt berechtigte Zweifel daran, dass wir in der Art unserer öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen unabhängig von fehlenden Einrichtungen genügend tun, was möglich und auch nötig ist. Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass der Gedanke der Chancengleichheit zu kurz greift. Um eine gleiche Chance auch real greifen und verwirklichen zu können, muss man die jungen Menschen befähigen, damit sie sich entwickeln können.
Der Ratsvorsitzende hat, wie ich finde, am Sonntag in seinem Rechenschaftsbericht sehr produktiv den Begriff der Befähigungsgerechtigkeit eingeführt. Was müssen die Älteren tun, damit die Jüngeren fähig werden können, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, und des anderen Last überhaupt erst ertragen können? Was müssen wir lernen, und wie müssen wir uns verhalten, um in jedem Menschen die Ebenbildlichkeit Gottes respektieren zu können?
Gerechtigkeit kommt auch in der Fähigkeit zum Ausdruck, sich in diesem Sinne gegenseitig zu erkennen und empfundene Lasten in lösbare Aufgaben zu verwandeln. Dies wäre aber die Verpflichtung aller – der Politik, der Gesellschaft, auch der Kirche und eines jeden Einzelnen. „Dies muss sich an dem christlichen Bild des Menschen orientieren, das jeden Menschen als Geschöpf Gottes versteht. Als Ebenbild Gottes ist jeder Mensch dazu bestimmt, Subjekte seiner Lebensgeschichte damit mit seiner Bildung zu sein“; so steht es im schriftlichen Rechenschaftsbericht des Rates.
Dies geht niemals allein. Deswegen soll auch keiner für sich allein leben. Dies ist die Hoffnung und der Auftrag, wie es bei Maleachi heißt und wie der Bruder Johannesdotter vor zwei Tagen hier vorgetragen hat, dass sich das Herz der Älteren zu den Jüngeren und das der Jüngeren zu den Älteren bekehre. Nur dann sind wir auch fähig, das Gesetz Christi zu erfüllen.
Und das geht dann auch sehr ins Private. Meine Frau und ich haben zwei Enkel. Sie sind häufig bei uns, gelegentlich auch länger. Manchmal sagen wir uns: Hätten wir vorher gewusst, wie schön das ist, hätten wir sie vielleicht zuerst gekriegt.
Gott gebe uns allen die Kraft, dass jede Generation den Respekt voreinander lernt. Amen. (Lied EG 320, Verse 1, 2, 7 und 8)