Gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation "EU 2020"
(EKD-Büro Brüssel / Kommissariat der Deutschen Bischöfe / Diakonisches Werk der EKD / Caritas)
Gemeinsame Stellungnahme
zur Konsultation „EU 2020“
Die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland und ihre Werke, Caritas und Diakonie, engagieren sich für ein Europa der Solidarität und Nachhaltigkeit, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Gemeinsames Anliegen ist es, „zu einer Verständigung über die Grundlagen und Perspektiven einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Staat und Gesellschaft beizutragen und dadurch eine gemeinsame Anstrengung für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit möglich zu machen“ (Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, 1997).
I. Allgemeine Erwägungen
Europa muss seine Arbeitsmärkte und Sozialsysteme den geänderten globalen, gesellschaftlichen und politischen Anforderungen anpassen. Im Mittelpunkt der Reformbemühungen muss dabei das Wohl der Menschen stehen. Als Kirchen und kirchliche Wohlfahrtsverbände rufen wir regelmäßig in Erinnerung, dass Wirtschaft und Wachstum dem Menschen dienen müssen und nicht umgekehrt.
Gemeinsam setzen wir uns für eine Gesellschaftsordnung ein, die die Würde des Einzelnen respektiert, einer leistungsfähigen und nachhaltigen Wirtschaft förderlich ist und gleichzeitig durch eine gerechte und stabile Sozialordnung den gesellschaftlichen Frieden gewährleistet. Wir wünschen uns eine wirkliche Kohärenz der sozialpolitischen Ziele (vgl. Art. 9 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) mit den wirtschaftspolitischen Weichenstellungen.
Kritisch haben wir uns deshalb gegen die starke Betonung der wirtschaftlichen Dimension der Lissabon-Strategie nach der Halbzeitrevision im Jahr 2005 gewandt. Nicht jedes Wachstum und jede Beschäftigung schaffen automatisch die Bedingungen für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt und die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit. Einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche treten wir daher nach wie vor entgegen.
Angesichts der bevorstehenden Neuausrichtung der Lissabon-Strategie im Rahmen der künftigen EU-Strategie bis 2020 plädieren wir für eine fundamentale Stärkung ihrer sozialen Dimension. Das Europäische Jahr 2010 zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung sehen wir als besonderes Zeichen der Selbstverpflichtung der Europäischen Union, den sozialen Zusammenhalt zu festigen.
Im Folgenden möchten wir auf einige ausgewählte Aspekte eingehen, welche im Rahmen der Lissabon-Strategie 2020 berücksichtigt werden sollten:
- die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung,
- die Schaffung sicherer und qualitativ hochwertiger Arbeitsplätze sowie die Stärkung der „aktiven Eingliederung“,
- die Förderung einer an den Bedürfnissen des Menschen orientierten Bildungspolitik,
- der universelle Zugang zu sozialen Dienstleistungen von hoher Qualität zu erschwinglichen Preisen,
- die Bedeutung einer gemeinsamen europäischen Einwanderungspolitik sowie
- die Notwendigkeit, ökologisch-soziale Relevanz und Nachhaltigkeit bei der Berechnung und Bewertung von Wachstum zu berücksichtigen.
Unsere Anliegen
1. Eine umfassende Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung
Zunächst begrüßen wir die Absicht der Europäischen Kommission, sich den sozialen Herausforderungen in Europa zu stellen. Um Armut und soziale Ausgrenzung zu bekämpfen, sind vielfältige Maßnahmen notwendig. Neben der Integration möglichst vieler Menschen in den Arbeitsmarkt braucht es soziale Grundsicherungssysteme, die das soziokulturelle Existenzminimum abdecken, ebenso wie den allgemeinen Zugang zu Gesundheits- und Pflegedienstleistungen und zu adäquatem Wohnraum. Kinder und Jugendliche müssen gefördert werden, damit sie in der Lage sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und den späteren Anforderungen des Arbeitsmarktes gerecht werden. Außerdem gibt es Menschen, die ohne soziale Begleitung von den Arbeitsmarktprogrammen nicht erreicht werden. Nur zusammen mit sozialer Grundsicherung und sozialen Fördermaßnahmen für benachteiligte Menschen können auch die Arbeitsmarktziele erreicht werden.
Zwar hat die Europäische Kommission mit ihrer Strategie der „aktiven Eingliederung“, deren Grundpfeiler angemessene Einkommensunterstützung, integrative Arbeitsmärkte und qualitativ hochwertige Sozialdienstleistungen für alle Bürger sind, den richtigen Weg eingeschlagen. Leider konnten aber die am meisten benachteiligten Personen hiermit bisher nicht in ausreichendem Maße erreicht werden.
Die Europäische Union kann zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung wichtige Impulse setzen. Der Austausch bewährter Verfahren muss über die europäische Berichterstattung zum Sozialschutz und die Offene Methode der Koordinierung (OMK) „Sozialschutz“ intensiviert werden. Daneben muss EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions“ – die europäische Datenbasis für die Sozialberichterstattung) methodisch weiterentwickelt werden, damit diese gemeinsame Datenbasis eine in den Mitgliedstaaten vergleichbare Grundlage für die Analyse und Veränderung der aktuellen Lebenslage bietet.
Das Europäische Jahr 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung muss dazu führen, dass die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung auf europäischer Ebene im kommenden Jahrzehnt Priorität hat. Wir fordern deswegen, dass das Europäische Jahr nicht lediglich für medienwirksame Großkampagnen eingesetzt wird, sondern nachhaltig einen ganzheitlichen Ansatz, über die reine Arbeitsmarktintegration hinaus, befördert.
Es ist zu begrüßen, dass die Europäische Kommission in ihrem Konsultationsdokument die Kinderarmut als eine besondere soziale Herausforderung für Europa benennt. Unseres Erachtens sollte hierauf ein Hauptaugenmerk von europäischer und nationaler Politik gerichtet werden, um die bestehende Kinderarmut zu mindern, die Vererbung von Armut zu stoppen und neue Armut zu verhindern. Hierbei sollte – neben einer geeigneten materiellen Grundsicherung – der Schwerpunkt auf der Förderung befähigender Elemente liegen, die dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten und Talente entdecken und leben können.
In Europa bestehen außerdem weiterhin große Ungleichheiten beim Zugang zu Gesundheits- und Pflegedienstleistungen. Für ein Altwerden in Gesundheit und Wohlbefinden sind Prävention und Vorsorge von entscheidender Bedeutung. Der von der Kommission mit der Konsultation zur Beseitigung von Ungleichheiten im Gesundheitswesen begonnene Weg muss dringend fortgeführt werden, um auch den am stärksten benachteiligten Personengruppen Zugang zu hochwertigen Gesundheits- und Pflegedienstleistungen zu ermöglichen. Ebenfalls muss dies für den Zugang zu adäquatem Wohnraum gelten.
2. Eine qualitätsvolle und soziale Arbeitsmarktpolitik
Wir begrüßen, dass in dem von der Kommission vorgelegten Konsultationspapier die Ausrichtung der EU2020-Strategie nicht mehr einseitig an den Zielen von „Wachstum und Beschäftigung“ ausgerichtet wird. Allerdings liegt der Schwerpunkt der vorgeschlagenen Strategie immer noch zu sehr auf der Erhöhung der Erwerbstätigenquote.
Selbstverständlich trägt ein Arbeitsplatz deutlich zum Schutz gegen Armut und Ausgrenzung bei. Wie die Kommission selbst feststellt, sorgt dieser allein jedoch noch nicht für eine Verringerung der Armut oder für soziale Eingliederung. Hierfür sind die Schaffung sogenannter „guter“ Beschäftigung und die Vermeidung prekärer Beschäftigungsverhältnisse notwendig. Die Bundesrepublik Deutschland reklamiert für sich, das Lissabon-Ziel einer Beschäftigungsquote von 70 Prozent jedenfalls vor der Finanz- und Wirtschaftskrise erreicht zu haben. Allerdings trifft diese Rechnung nur bei Einbeziehung prekärer, geringfügiger und nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse zu. Beschäftigungspolitik muss auch sozialpolitische Zielsetzungen im Blick haben. Das Beschäftigungswachstum ist nur dann nachhaltig und geeignet, den sozialen Zusammenhalt zu stärken, wenn die Beschäftigten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit gleichen Arbeitsrechten, gleichen Löhnen für gleichwertige Arbeit, angemessenen Einkommen und adäquater sozialer Unterstützung im Fall der Erwerbslosigkeit ausgestattet sind. Zugleich sollte die aktive Schaffung von Arbeitsplätzen auch für Menschen mit Behinderung (Unterstützte Beschäftigung, Integrationsprojekte, Arbeitsplätze in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes) ebenso gefördert und unterstützt werden, wie solche für den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Ein Baustein der von der Kommission vorgeschlagenen Strategie ist das Flexicurity-Konzept, nach welchem Arbeitsplatzflexibilität und Beschäftigungssicherheit miteinander verbunden werden sollen. Dieser Ansatz wurde von den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden in den letzten Jahren wiederholt kritisch bewertet. Unseres Erachtens stößt die Forderung nach mehr Flexibilität im Arbeitsleben dort an ihre Grenzen, wo die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten über Gebühr eingeschränkt und etwa die Gründung und der Erhalt von Familien erschwert werden. Es obliegt den Mitgliedstaaten und den Arbeitgebern, die Arbeitswelt und die wirtschaftlichen Abläufe stärker an den Bedürfnissen der Arbeitnehmer auszurichten und menschengerechter und familienfreundlicher zu gestalten.
Für Menschen, die aufgrund sozialer Risiken, Alter, Behinderung, Krankheit oder ihrer Herkunft am Arbeitsmarkt nur eingeschränkte Chancen haben, reicht der Flexicurity-Ansatz nicht aus. Diesen Menschen muss eine tragfähige Perspektive für ihre Lebensgestaltung eröffnet werden. Die Mitgliedstaaten sollten sich hierbei die Grundpfeiler der Strategie der “aktiven Eingliederung“ nutzbar machen.
In manchen Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird die Komponente der Arbeitsplatzflexibilität darüber hinaus im Vergleich zur sozialen (Ab-)Sicherung der Erwerbslosigkeitsphasen überbetont. Insbesondere dann, wenn gleichzeitig eine ausreichende soziale Sicherung bei Erwerbslosigkeit, gekoppelt an Rechtsansprüche auf bedarfsgerechte Unterstützungs-, Eingliederungs- und Qualifizierungsleistungen fehlt, kann dies zu sinkender Arbeitsplatzsicherheit, einer fortschreitenden Auflösung des Tarifgefüges, einem wachsenden Niedriglohnsektor und prekären Beschäftigungsverhältnissen führen. Für das Konzept der Flexicurity bedeutet dies, dass ihre einzelnen Komponenten zugunsten des Aspekts der Beschäftigungssicherheit aufeinander abgestimmt werden müssen. Hierfür hat sich gerade mit Blick auf die Erfordernisse in Zeiten der Wirtschaftskrise auch jüngst der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ausgesprochen .
Die europäische Beschäftigungspolitik muss ferner in der Weise reformiert werden, dass qualitative und sozialpolitische Kriterien bei der Beschäftigungsförderung eine größere Bedeutung erlangen. Im Rahmen der Beschäftigungspolitik legen wir besonderen Wert auf den allgemeinen Zugang zu Qualifizierungsmaßnahmen, zu allgemein beschäftigungsfördernden Maßnahmen und unterstützen das Konzept des lebenslangen Lernens auf allen Ebenen. Neben möglicher Fort- und Weiterbildung fordern wir grundsätzlich nachhaltige Beschäftigungsmodelle und ein gesichertes Mindesteinkommen im Sinne einer bedarfsorientierten Grundsicherung.
Insgesamt halten wir eine stärkere Berücksichtigung der Wachstumsbranchen der sozialen Dienstleistungen und ökologischer Produkte für sinnvoll. Dabei befürworten wir die Schaffung spezieller europäischer Rahmenbedingungen für Sozialdienstleistungen, die den nationalen Besonderheiten wie den Vorrang freier Träger und das Wunsch- und Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger respektieren. Der Zugang zu adäquater Daseinsvorsorge muss allen gleichermaßen offen stehen.
Die wettbewerbsrechtlichen Regelungen des Binnenmarktes sollten die nationalen Besonderheiten bei der Erbringung von Sozialdienstleistungen, insbesondere durch nicht-gewinnorientiert handelnde Dienstleistungserbringer, rechtlich anerkennen und respektieren. In diesem Rahmen und bei der Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur muss auch der Gemeinnützigkeitsstatus der Erbringer sozialer Dienstleistungen berücksichtigt und gefördert werden. Bewährte Wettbewerbsmodelle, wie die Erbringung sozialer Dienstleistungen auf der Grundlage des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses in Deutschland, die transparent und nicht diskriminierend ausgestaltet und damit mit dem Primärrecht vereinbar sind, sollten von europäischer Seite anerkannt werden. Sozialdienstleistungen brauchen hohe Qualitätsstandards und Planungssicherheit.
3. Ein ganzheitliches Verständnis von Bildung
Nach christlichem Bildungsverständnis steht im Zentrum jeglichen Bildungsinteresses der Mensch als Individuum in seiner ganzheitlichen Würde und Entfaltung in der Bezogenheit zu Gott, zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, seiner Umwelt und Gesellschaft. Bildung zielt auf die Befähigung des Menschen zu vernünftiger Selbstbestimmung, zur Freiheit des Denkens, Urteilens und Handelns ab. Über Wissen und Einsicht sollen sich Erfahrungs- und Urteilsfähigkeit, das Selbst- und Weltverständnis des Menschen herausbilden. Insofern beschreibt Bildung einen lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung eines Menschen.
Wir begrüßen daher, dass die EU2020-Strategie nach den Vorstellungen der Europäischen Kommission die Bildungspolitik als tragenden Pfeiler der sozialen Dimension anerkennt. Lebenslanges Lernen und „aktives Altern“ sind jedoch nicht nur aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen, sondern auch aus einer persönlichkeits- und berufsbezogenen Perspektive wichtige Bausteine einer europäischen Bildungspolitik.
Aus unserer Sicht ist Bildung mehr als bloßes Verfügungswissen, sie umfasst zugleich die Frage nach den Zielen von Lernen und Erlerntem, ist also Orientierungswissen. Dieses ermöglicht erst verantwortungsbewusstes Handeln. Ausgehend von einem solchen ganzheitlichen Bildungsverständnis müssen Werte und Fähigkeiten gefördert werden, die nicht primär wirtschaftlich verrechen- oder verwertbar sind. Jedes neue Können vermehrt das Selbstvertrauen; Kompetenzzuwachs ist ein Teil des Wachstums der Persönlichkeit. Es entspricht der Würde des Menschen, sich selbstbestimmt zu entfalten und von seinen Gaben Gebrauch zu machen, Fertigkeiten und soziale Fähigkeiten zu erwerben sowie einen unternehmerischen Geist zu entwickeln.
Wenn also im Konsultationspapier zur Strategie EU2020 etwa von einer „Wertschöpfung durch wissensbasiertes Wachstum“ als Teil der neuen Lissabon - Strategie die Rede ist, sollte das Ziel einer ganzheitlichen Bildung aufgenommen und eine einseitige Ausrichtung der Bildungsprozesse an ökonomischen und funktionalen Interessen vermieden werden. Denn dem christlichen Bildungsverständnis nach ist weder die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU, noch die Belieferung des Arbeitsmarktes mit „menschlichem Kapital“ primäres Ziel der (Aus-)Bildung von (jungen) Menschen.
Dabei ist der Zugang zu Bildung, wie von der Kommission richtig erkannt, eine zentrale Zukunftsfrage. Bildungserfolg ist bei uns in Deutschland – aber auch in anderen europäischen Ländern – immer noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängig. Chancengerechtigkeit im Bereich Bildung und Ausbildung setzt voraus, dass es allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Behinderung ermöglicht wird, ihren Interessen und Fähigkeiten und ihrem Wesen gemäß ausgebildet und gefördert zu werden. Verwirklicht werden sollte dies bereits in der frühkindlichen Bildung.
Die Stärkung der sozialen Dimension der künftigen Strategie 2020 muss sich also auch im Bereich Bildung und Fortbildung niederschlagen. Dies ist nur zu erreichen, wenn dafür hinreichend Ressourcen investiert werden.
4. Eine faire und transparente Einwanderungspolitik
In dem Konsultationspapier wird zurecht kritisiert, dass das „Migrationspotenzial“ bei der politischen Entscheidungsfindung auf nationaler und EU-Ebene nicht ausreichend berücksichtigt wird. Die Beschäftigungsquote von „bildungsfernen Migranten, Frauen und Neuankömmlingen“ könne erhöht werden. Dem ist zuzustimmen.
Tatsächlich ist dringend ein Paradigmenwechsel in der Migrationsdebatte notwendig. Migration sollte als Normalität akzeptiert, Vielfalt bejaht und Zuwanderer nicht pauschal als Bedrohung oder Belastung wahrgenommen werden. Unsere Wirtschaft braucht Zuwanderung mit klaren, fairen Regeln, um zukunftsfähig zu bleiben. Gleichzeitig müssen die Maßnahmen zur Integration und gesellschaftlichen Partizipation der Einwanderer fortgesetzt und verstärkt werden. Die gemeinsamen Grundprinzipien der EU zur Integration von 2004 geben hierfür eine wertvolle Orientierung.
Mit der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon eröffnen sich durch die neuen Abstimmungsregeln im Ministerrat und im Europäischen Parlament neue Spielräume in der europäischen Migrationspolitik. Soweit sich die EU für die Schaffung und Verbesserung legaler Einwanderungsmöglichkeiten entscheidet, muss sie auch die Integration der Einwanderer und ihrer Familien fördern und entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen schaffen. Dabei müssen humanitäre Belange berücksichtigt werden. Insbesondere muss – im Einklang mit menschen- und flüchtlingsrechtlichen Standards - Menschen, die internationalen Schutz suchen, Zugang zum Gebiet der EU und die Möglichkeit gegeben werden, einen Asylantrag zu stellen. Die Verteilung von Asylsuchenden und Flüchtlingen innerhalb der EU muss sicherstellen, dass die Männer, Frauen und Kinder, die nach Europa kommen, um Schutz vor Verfolgung und schweren Menschenrechtsverletzungen in ihren Herkunftsstaaten zu suchen, hier im Einklang mit menschenrechtlichen Standards Schutz finden. Das Recht auf Familiennachzug darf nicht unterlaufen werden.
Neben einer gemeinsamen, aufeinander abgestimmten, europäischen Einwanderungspolitik müssen die bestehenden Probleme bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen und Qualifikationen gelöst werden. Zugleich gilt es, die Rechtsstellung von gering Qualifizierten und Saisonarbeitnehmern zu stärken, um sie vor Ausbeutung und Diskriminierung zu schützen. Alle EU-Staaten sollten die Wanderarbeitnehmerkonvention der Vereinten Nationen ratifizieren. Darüber hinaus müssten Einwanderungs- und Entwicklungspolitik stärker als bisher miteinander vernetzt werden. Nur so kann „brain drain“ verhindert und sichergestellt werden, dass sich das Entwicklungspotential von Migration nachhaltig entfaltet. Schließlich muss die Situation der Menschen in aufenthaltsrechtlicher Illegalität in den Blick genommen werden. Unabhängig von ihrer Aufenthaltserlaubnis in einem der Mitgliedstaaten der EU sind sie Träger von Menschenrechten, die auch faktisch durchsetzbar sein müssen.
5. Ein neuer Wachstumsbegriff
Die Kommission baut in ihrem Konsultationsdokument auf ein Wachstum, das zwar als „nachhaltig“ bezeichnet, dann aber vor allem und primär als Mittel zum Ausgleich finanz-/wirtschaftskrisenbedingter Arbeitsplatzverluste bzw. zur Erhöhung der Beschäftigungsquote beschrieben wird. Die zu beobachtende Gefahr einer Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsquote wird ausgeblendet.
Die Finanz- und die folgende Realwirtschaftskrise der letzten Monate hat zudem vor Augen geführt, dass allein das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht zu der Schaffung nachhaltiger Beschäftigungsverhältnisse führen muss. Zwar gingen die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre mit einem Abbau der Arbeitslosigkeit von 12 % auf 7 % in der EU einher, worauf die Kommission auch zu Recht verweist . Dennoch stellt sich das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre als an manchen Stellen künstlich genährt und als nicht nachhaltig dar. Vor dem Hintergrund der bereits jetzt zu spürenden Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise steht auch in Frage, ob der Abbau der Arbeitslosigkeit nachhaltigen Charakter hatte.
Das „Wachstum“ in der Europäischen Union sollte darüber hinaus auch nicht ausschließlich an der Generierung von Beschäftigung gemessen werden, sondern in Zukunft ebenso soziale und ökologische Aspekte einer Gemeinschaft widerspiegeln.
In seiner sozialen Dimension kann Wachstum sich demnach nicht allein an der Beschäftigungsquote oder des BIP messen lassen und diesbezügliche Fördermaßnahmen sollten auch nicht ausschließlich daran ausgerichtet werden. Die bloße Abnahme der Arbeitslosigkeit bzw. das Wettmachen krisenbedingter Arbeitsplatzverluste ist nicht hinreichend. Vielmehr darf das Ziel nicht aus den Augen verloren werden, „gute“ Arbeitsplätze zu sichern und zu fördern, die dem Menschen die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Daseins gewährleisten, ihm Beteiligungschancen bieten und seiner persönlichen Entfaltung nicht entgegen stehen. Auch der Stand der Eingliederung von Benachteiligten in den Arbeitsmarkt oder ihre soziale Teilhabe gibt Auskunft über das Wachstum im Sinne steigender Wohlfahrt einer Gesellschaft.
In seiner ökologischen Dimension muss sich Wirtschaftswachstum von der weiteren Steigerung des Ressourcen- und Umweltverbrauchs abkoppeln und die Gefahren des Klimawandels berücksichtigen. Hier enthält das Konsultationspapier der Kommission bereits durch die Betonung der Notwendigkeit einer effizienteren und produktiven Nutzung der natürlichen Ressourcen eine begrüßenswerte Ausrichtung. Gleichzeitig vermögen auch die Schaffung neuer „grüner“ Industriezweige und die ökologische Modernisierung bestehender Industriezweige Arbeitsplätze zu schaffen bzw. zu erhalten.
Zu empfehlen wäre, den Begriff des Wachstums im Rahmen der Lissabon-Strategie neu zu konzipieren und insbesondere auch solche Indikatoren aufzunehmen, die die beschriebene soziale und ökologische Dimension des Wachstums einer Volkswirtschaft widerspiegeln. Wachstum, Fortschritt und Wohlstand sind komplexere Phänomene, als es sich durch das Bruttoinlandsprodukt abbilden lässt. Besonders die Kosten von Umweltveränderungen und soziale Folgekosten bestimmter Aktivitäten, aber auch ehrenamtliches Engagement, spiegeln sich im BIP nicht angemessen wider. Im Gegenteil können sogar ökologisch, sozial und volkswirtschaftlich negativ zu Buche schlagende Faktoren das BIP kurzfristig positiv beeinflussen. Daher müsste darauf hingewirkt werden, EU-weite bzw. internationale Indikatoren zu vereinbaren, in denen es gelingt, die Vielschichtigkeit von „Wachstum“ auf mess- und vergleichbare Werte herunter zu brechen. Nachhaltigkeitsstrategien sollten darauf ausgerichtet sein, nicht nur zu einer besseren Messung von gesellschaftlicher Entwicklung zu führen, sondern auch deren qualitative Aspekte stärker zu betonen. Andernfalls ist der reale Nutzen des erwirtschafteten Wachstums einer Wirtschaft für die Wohlfahrt seiner Bürger fraglich. Die Kommission hat mit Ihrem Projekt „Beyond GDP“ bereits erste Schritte in diese Richtung getan, die nunmehr im Rahmen der EU2020-Strategie Anwendung finden können.
Auch wenn die Vorschläge der Europäischen Kommission – wie dargelegt – noch verbesserungsbedürftig sind, bieten sie doch Ansätze für eine Stärkung der Solidarität und Nachhaltigkeit der Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Die Kirchen und ihre Werke werden vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und Expertise konkrete Beiträge dafür leisten, die zukünftige Strategie in dem dargestellten Sinne weiter auszugestalten und zu befördern.
Januar 2010
Der Deutsche Caritasverband e. V. organisiert die soziale Arbeit der katholischen Kirche und setzt sich u. a. für die Interessen von Familien ein. „Not sehen und handeln – Caritas“, ist der Leitspruch des größten Wohlfahrtsverbandes in Deutschland mit über 500.000 hauptamtlichen Mitarbeitern und mehreren 100.000 Ehrenamtlichen in knapp 25.000 Diensten und Einrichtungen. Damit zählt die Caritas mit den ihr angeschlossenen Diensten und Einrichtungen zu den größten Arbeitgebern in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Deutsche Bischofskonferenz ist ein Zusammenschluss der Bischöfe aller 27 Diözesen in Deutschland. Das Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin – wird im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz in allen politischen Fragen gegenüber Organen und Einrichtungen des Bundes, der Bundesländer sowie gegenüber Parteien und gesellschaftlichen Kräften auf Bundes- und Europaebene tätig.
Das Diakonische Werk der EKD (DW EKD) leistet durch seine 435.000 hauptamtlichen Mitarbeitenden in 27.500 Einrichtungen die soziale Arbeit der evangelischen Kirchen, u. a. in Kindergärten, Kindertagesstätten, in der Ehe- und Familienberatung. Diakonie hilft Menschen in Not und in sozial ungerechten Verhältnissen. In der Diakonie sind rund 400.000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aktiv.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vereinigt die 22 lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen in der Bundesrepublik Deutschland. Als Dienstelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD vertritt das Büro Brüssel kirchliche Anliegen gegenüber den Institutionen der EU. In Wahrnehmung dieser Aufgabe befasst sich das EKD-Büro mit Themen wie Frieden, Bewahrung der Schöpfung und Gerechtigkeit; darunter fallen auch sozialpolitische Fragestellungen.