Das deutsche Staatskirchenrecht in europäischer Perspektive
29. September 2009, OKRin Hatzinger, Dessau
Mitgliederversammlung des Verbandes der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer
Oberkirchenrätin Katrin Hatzinger
“Das deutsche Staatskirchenrecht in europäischer Perspektive"
Sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich sehr herzlich für die Einladung nach Dessau bedanken. Ich freue mich heute vor zu dem Thema „Das deutsche Staatskirchenrecht in europäischer Perspektive“ sprechen zu können.
Neben meiner Arbeit als Kirchendiplomatin besteht eine meiner Aufgaben als Leiterin des Brüsseler Büros des Bevollmächtigten des Rates der EKD darin, das deutsche Staatskirchenrecht gegen unerwünschte Veränderungen durch das Gemeinschaftsrecht zu verteidigen. Der Gründung unserer Dienstelle liegt ein solcher „Übergriff“ zugrunde. In den frühen 90er Jahren gab es in Brüssel eine Debatte um die Datenschutz - Richtlinie (95/46/EG). Wäre sie wie ursprünglich geplant umgesetzt worden, wäre die Konfessionszugehörigkeit dem Datenschutz unterworfen worden und das deutsche Kirchensteuersystem in seiner jetzigen Form nicht länger haltbar gewesen. Dieses Vorhaben des europäischen Gesetzgebers konnte zwar abgewandt werden, aber nach dieser Erfahrung wollte die EKD künftig besser aufgestellt sein, um möglichen Gefährdungen durch EU-Recht rechtzeitig begegnen zu können.
So bestand der Auftrag unserer Dienstelle in Brüssel in den Anfängen tatsächlich hauptsächlich darin, die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts in allen Bereichen zu beobachten, die von kirchlichem Belang sind, sprich das Staatskirchenrecht berühren - vor allem den Rechtsstatus, die Wirkungsmöglichkeiten, institutionelle Kooperation und Finanzierung im nationalen Kontext. Das Büro hatte als eine Art Frühwarnsystem für eine frühzeitige Unterrichtung der zuständigen EKD-Dienststellen zu sorgen, um - wenn nötig - eine rechtzeitige Beeinflussung der europäischen Gesetzgebungsprozesse einleiten zu können.
Fast 20 Jahre später ist das Eintreten für das deutsche Staatskirchenrecht immer noch eines unserer Anliegen gegenüber den EU-Institutionen, doch ist unsere Arbeit längst nicht mehr darauf beschränkt: Heute treten wir auch selbstbewusst als evangelische Stimme in Brüssel auf, wenn Themen wie „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ berührt sind. In Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrages der Kirchen mischen wir uns „um Gottes willen“ politisch ein und verleihen denen eine Stimme, die sich selbst keine Lobby in Brüssel leisten können: sozial Benachteiligte, Alte, Flüchtlinge und Migranten.
Das Staatskirchenrecht beschreibt die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat einerseits und den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften andererseits. Dabei handelt es sich um historisch geprägtes nationales Recht, das heute zudem strukturell vom universellen Grundrecht der Religionsfreiheit mitbestimmt ist. Inwieweit wirkt sich das europäische Recht auf diese Rechtsmaterie aus? Kann man von einem europäischen Staatskichenrecht sprechen? Welche Rolle spielt Religion im EU-Recht?
Ich möchte Ihnen dieses komplexe Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten darstellen: zunächst durch einen kurzen Abriss über die unterschiedlichen Staatskirchensysteme in Europa (1.), die verdeutlichen sollen, dass von einer gemeinsamen Tradition der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften in der EU kaum die Rede sein kann, geschweige denn von einem europäischen Staatskirchenrecht. Im Folgenden möchte ich auf die Regelungen im Verhältnis von Staat und Kirche im Europarecht eingehen (2.), die Bestandsteile des europäischen Religionsrechts darstellen und dann an konkreten Beispielen (3.) die Bewährungsproben aufzeigen, denen sich das deutsche Staatskirchenrecht aktuell auf europäischer Ebene ausgesetzt sieht. Abschließend folgt ein kurzer Abriss zu den derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängigen Verfahren (4.).
1. Staatskirchenrechtssysteme in der EU
Aufgrund historischer Entwicklungen und angesichts der konfessionellen, sozialen und politischen Besonderheiten der europäischen Staaten haben wir es mit einer Fülle unterschiedlicher Systeme zur Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche bzw. Staat und Religionsgemeinschaften zu tun. Das Spektrum reicht von Systemen einer strikten Trennung (Laizität) über Kooperations- bis zu Verbundsystemen mit staatskirchlichen Strukturen. Im Folgenden möchte ich Ihnen einen vergröberten Überblick über die Lage in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben:
In Frankreich gilt seit der französischen Revolution und prominent bestärkt durch das Trennungsgesetz vom 09.12.1905 eine strikte Trennung von Staat und Kirche. In der französischen Verfassung heißt es in Art. 2: „La France est une République laïque.“ Die Laizität gründet sich auf drei Werte:
• Gewissensfreiheit;
• Gleichheit der geistlichen und religiösen Ausrichtungen vor dem Gesetz;
• Neutralität der politischen Gewalt.
Das Gesetz besagt weiter: „Kein Kult wird von der Republik anerkannt, vergütet oder unterstützt.“ Die Laizität garantiert die weltanschauliche Neutralität staatlicher Einrichtungen. Darüber hinaus gibt es starke Bestrebungen, das Religiöse gänzlich aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten (keine religiösen Zeichen an den nach 1905 errichteten öffentlichen Gebäuden, Verbot religiöser Symbole im Schulwesen etc.). Den Unterhalt der den Kirchen vor 1905 zur Verfügung gestellten Kirchengebäude übernimmt allerdings der Staat. Förderung jüngerer Kirchen, aber auch von sozialem oder kulturellem Engagement der Religionen ist nicht möglich, wohl gibt es aber z.B. staatliche Subventionierungen für karitative Stiftungen. Im vormaligen Gebiet von Elsass und Lothringen besitzt das Trennungsgesetz im Übrigen keine Geltung.
Dem Prinzip der Trennung folgen auch die Niederlande und Portugal, ebenso wie Estland, Lettland, Slowenien und die Tschechische Republik. Belgien und Luxemburg kennen einerseits ein strenges Trennungssystem, finanzieren aber andererseits sämtliche Pfarrgehälter aus dem Staatshaushalt. In Belgien werden darüber hinaus auch Imame und “Seelsorger“ nicht-religiöser Weltanschauungsgemeinschaften vom Staat bezahlt.
In Deutschland sind die Prinzipien der Trennung und Kooperation kennzeichnend für das Staat-Kirche-Verhältnis. Als typisches Instrument der „friedensstiftenden Koordination“ bzw. Kooperation stellt sich der Vertrag dar, in dieser Dichte ein „Spezifikum“ des deutschen Staatskirchenrechts (s. Anm. 1) .
In Spanien und Italien hat die römisch-katholischen Kirche viele ihrer Privilegien verloren. Insbesondere in Spanien hat sich der Wandel von einem System der Staatsreligion hin zu einem System paritätischer Kooperation (s. Anm. 1) . vollzogen. Beide Länder sind heute weltliche Staaten, die die Religionsfreiheit gewährleisten und in denen Staat und Kirche getrennt sind. Dennoch bestehen viele Verbindungen zwischen beiden Ebenen fort, wobei die Beziehungen nicht immer spannungsfrei sind, wenn wir beispielsweise an die Frage der Legitimität gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften oder die Kontroversen um die Legalisierung der Abtreibung denken.
In Griechenland ist die östlich-orthodoxe Kirche (95, 2% der Bevölkerung) die laut Verfassung „vorherrschende“ und auch die vom Staat privilegierte Kirche. Als Nationalkirche verfügt sie über das Recht auf Selbstverwaltung. Ihre Bischöfe müssen vom Parlament bestätigt werden. Ihre Sonderstellung gegenüber anderen Kirchen zeigt sich etwa in der Besoldung des Klerus durch den Staat und im obligatorischen Religionsunterricht auf der Grundlage der orthodoxen Lehre in den Grund- und Mittelschulen. Die griechische Verfassung garantiert eine Religionsfreiheit, die Schutz und Förderung der „bekannten“ Religionen zulässt (s. Anm. 3) , aber die Rechtspraxis bringt Griechenland immer wieder vor den Gerichtshof in Straßburg (z.B. verpflichtende Teilnahme am orthodoxen Religionsunterricht).
Auf Malta gibt es eine Staatsreligion (römisch-katholisch).
Das Vereinigte Königreich umfasst Gebiete mit unterschiedlichen Systemen. Es kennt eine Staatskirche in England („established church“), eine Nationalkirche in Schottland, die anglikanische Mehrheitskirche in Wales und Nordirland sowie natürlich die katholische Kirche und viele Freikirchen, ohne besonderen Rechtstatus im ganzen Königreich (s. Anm. 4). In England ist das kanonische Recht der Church of England integraler Bestandteil des englischen Rechts. Die Königin, die den Titel einer obersten Schutzherrin der Kirche von England führt, ernennt die (vom Premierminister vorgeschlagenen) Bischöfe und Inhaber anderer geistlicher Ämter. Die Erzbischöfe und Bischöfe gehören dem House of Lords an.
Ein Blick auf die früheren lutherischen Staatskirchen des Nordens zeigt unterschiedliche Tendenzen auf. Schweden hat sein staatskirchliches System im Jahr 2000 reformiert und ist zu einer moderaten Trennung bei Beibehaltung von gewissen Sonderregelungen für die lutherische Kirche gelangt. Dänemark behält auf nationaler Ebene ein Staatskirchentum (Volkskirche) bei, das die Kirche – anders als z.B. in England – vollständig in die Staatsverwaltung eingliedert und der Regierung unterstellt. In Finnland wiederum sind sowohl die evangelisch-lutherische als auch die russisch-orthodoxe Kirche Staatskirchen.
In vielen der „neuen“ EU Staaten (Polen, Ungarn, Slowakei, Litauen, auf Zypern) existiert heute meist ein Trennungssystem mit einer Kooperation von Staat und Kirche. Rechtspersönlichkeit können die Religionsgemeinschaften mit einer gerichtlichen Registrierung erwerben, wenn sie hierfür eine Reihe formaler Voraussetzungen erfüllen. Ihr Selbstbestimmungsrecht wird vom Staat respektiert. In den Schulen wird ein von der Kirche verantworteter fakultativer Religionsunterricht angeboten, und die Kirchen können auch eigene Schulen unterhalten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass alle mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer (bis auf Tschechien) mit dem Heiligen Stuhl konkordatäre Vereinbarungen unterschiedlicher Art geschlossen haben. Ein System der Kirchensteuer ist nicht bekannt (s. Anm. 5).
In Rumänien leben 87 % Rumänisch-Orthodoxe, 6,8 % Protestanten und 5,6 % Katholiken (davon ca. 0,9 % Griechisch-Katholisch) (s. Anm. 6). Die deutsche und die ungarische Minderheit sind dabei überwiegend römisch-katholisch oder protestantisch. Während sich die Orthodoxe Kirche als Nationalkirche (im Sinne der orthodoxen Lehre der „Symphonie“ von Staat und Kirche im christlichen Gemeinwesen) versteht, sehen sich Minderheitskirchen, wie z.B. die Reformierte Kirche trotz der in der Verfassung garantierten Religionsfreiheit in der Praxis diskriminiert. In Bulgarien leben 83 % Orthodoxe, 13 % Moslems und 2 % Katholiken. Auch hier sieht sich die orthodoxe Kirche als Nationalkirche und die staatliche Verfassung hebt das orthodoxe Erbe hervor.
Das Staatskirchenrecht in der EU zeichnet sich also durch eine große Vielfalt verschiedener Systeme aus. Auch wenn man aus den Strukturprinzipien der Säkularität, der Neutralität und der Parität einen europäischen Acquis konstruieren könnte (s. Anm. 7), wäre es jedoch verfehlt, von einem europäischen Staatskirchenrecht zu sprechen. Die jeweiligen Systeme sind in ihren Vorraussetzungen und rechtlichen Ausprägungen derart mit nationalen Besonderheiten verwoben, dass eine Europäisierung politisch kaum möglich, geschweige denn praktikabel erscheint. Vielmehr muss politisch und rechtlich angestrebt werden, die in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden rechtlichen Bestimmungen zum Schutz von Mehrheits- und Minderheitskirchen tatsächlich zu gewährleisten bzw.- wo nötig- zu verbessern.
Es sei an dieser Stelle noch an die von Prof. Robbers vertretene „Konvergenzthese“ (s. Anm. 8) erinnert, wonach die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Religionsfreiheit, etwa manifestiert in der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention (Religionsfreiheit), nach und nach zu einer graduellen Abschwächung der Unterschiede zwischen den einzelnen Systemen beitrage. Festhalten lässt sich, dass die Grundrechte für die Bestimmung dessen, was in der EU an religionsrechtlichem Acquis vorhanden ist, eine bedeutsame Rolle spielen:
2. Europäisches Religionsrecht
In der Amsterdamer Kirchenerklärung von 1997 ist niedergelegt, dass „die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und ihn nicht beeinträchtigt“. Allerdings dient dieses elfte Zusatzprotokoll zum Amsterdamer Vertrag lediglich als bloße Interpretationshilfe. Die Kirchen hatten sich deshalb gemeinsam dafür eingesetzt, dass diese Formulierung Eingang in den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag gefunden hat. In Gestalt des Art. 17 I blieb die Regelung in dem bislang noch nicht ratifizierten Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als Teil des Vertrags von Lissabon erhalten. Erklärung und Kirchenartikel erkennen die Vielfalt der europäischen Staatskirchensysteme an und akzeptieren damit die nationale Kompetenz für das Verhältnis von Staat und Kirche. Die Mitgliedstaaten sind danach frei, ihr Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbständig zu bestimmen, ohne dass die Europäische Union ihre Entscheidungen hinterfragen oder beeinträchtigen würde. Auf den Punkt gebracht heißt das: die Gemeinschaft ist für das Staatskirchenrecht nicht zuständig.
Unumstritten ist weiterhin, dass die jeweiligen Regelungen des Staat-Kirche-Verhältnisses Bestandteil der nationalen Identität sind und somit auch gemäß Art. 6 III EUV von der Union „geachtet“ werden müssen. Auch die im vorangehenden Absatz (Art. 6 II EUV) genannten „gemeinsamen Verfassungsgrundsätze der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ konkretisieren sich unter anderem in den genannten Strukturprinzipien, in der jeweiligen rechtlichen Ausgestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses. Eindrücklich hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon noch einmal die enge Verbindung von nationaler Identität und dem Status von Religionsgemeinschaften unterstrichen. Die europäische Vereinigung darf nicht so weit führen, „dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt (Rn 249).“ „Unter den ausgewählten Sachbereichen, die eng mit der nationalen Souveränität und Identität, aber deshalb auch als besonders „demokratiebedeutsam“ angesehen werden müssen, wird auch der Umgang mit Religionsgemeinschaften genannt. Das ist aus kirchlicher Sicht besonders zu begrüßen.
Ebenso beachtenswert sind die Ausführungen zur Gestaltung von Schule und Bildung, das Recht der familiären Beziehungen und die Einbeziehung des Transzendenten in das öffentliche Leben, „die in besonderem Maße gewachsene Überzeugungen und Wertvorstellungen berühren, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt sind (Rn 260)“. Es ist eine wichtige und für die Arbeit der Kirchen auf europäischer Ebene zukunftsweisende Klarstellung des Zweiten Senats, dass demokratische Selbstbestimmung hier erfordert, „dass die jeweilige durch solche Traditionen und Überzeugungen verbundene politische Gemeinschaft das Subjekt demokratischer Legitimation bleibt,“ und eben nicht die supranationale Ebene.
Das Gemeinschaftsrecht der Religionsfreiheit ist mit dem Vertrag von Maastricht primärrechtlich anerkannt (Art. 6 II EUV: Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind....). Die Religionsfreiheit ist zudem in Art. 10 I der Grundrechte-Charta, auf die der Vertrag von Lissabon verweist, kodifiziert. Dabei ist die Formulierung der Charta im Wortlaut der entsprechenden Norm in Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) angelehnt. In Art. 22 der Grundrechte-Charta ist zudem niedergelegt, dass die EU die Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Religionen achtet, während Art. 21 I der Charta u.a. das Verbot der Diskriminierung aus religiösen Gründen festschreibt. Schließlich wird in Art. 14 III auch das Recht auf religiöse Bildung und Erziehung anerkannt.
Sollten die Iren am 2. Oktober nun dem Vertrag von Lissabon zustimmen und auch der tschechische und polnische Präsident ihren Widerstand aufgeben, wäre nicht nur ein notweniger Schritt hin zu mehr Handlungsfähigkeit, Demokratie und Transparenz in der EU getan, sondern auch eine wichtige rechtliche Klarstellung des Verhältnisses von EU und Staatskirchenrechtsystemen sowie der Rolle von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Institutionengefüge vollzogen. Absatz III des Art. 17 AEUV (s. Anm. 9) formuliert nämlich die institutionelle Anerkennung der Kirchen als gesellschaftliche Kraft, indem er festschreibt, dass die Union „mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ pflegt. Mit der Anerkennung der spezifischen Identität der Kirchen und ihres besonderen Beitrags schafft Absatz III also eine rechtsverbindliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Gestaltung der europäischen Politik. Dieser Artikel ist zudem eine Parallelnorm zu Art. 11 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), der den Dialog mit der Zivilgesellschaft regelt. Die Tatsache, dass der Vertrag von Lissabon zwei unterschiedliche Dialogartikel umfasst, unterstreicht den unterschiedlichen Status, den Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen genießen. Schließlich werden die Kirchen in ihrer Rolle als gesellschaftspolitischer Akteur wahrgenommen, auf deren Beitrag zur Wertefindung- und vermittlung auch die EU angewiesen ist.
Natürlich findet der Dialog zwischen Kirchen und EU-Institutionen in der Praxis tagtäglich auf verschiedenen Ebenen statt. Zu nennen sind einmal das alljährliche hochrangige Treffen zwischen religiösen Führern der EU und dem EU-Kommissionspräsidenten, seit 2006 erweitert um den Präsidenten des Europäischen Parlaments und die amtierende Ratspräsidentschaft, bei dem über aktuelle politische Fragen diskutiert wird (2009: Die ethischen Aspekte der Finanz- und Wirtschaftskrise), und zweitens die so genannten "Dialog-Seminare", die ca. zwei Mal im Jahr zwischen der EU-Kommission und den christlichen Kirchen stattfinden, und ausgewählte Themen, wie z.B. kürzlich den Klimawandel, in den Mittelpunkt stellen.
Schließlich können sich die Kirchen in Europa auf eigene Initiative allein oder in Zusammenschlüssen an Konsultationen der EU-Kommission beteiligen und auf der Arbeitsebene Kontakte in die Institutionen pflegen.
Nichtsdestotrotz ist es natürlich ein Unterschied, ob der Austausch aufgrund eingespielter Tradition abläuft oder ins Primärrecht überführt und damit rechtsverbindlich ist. Nun wird es darauf ankommen, Artikel 17 III als ein wirksames Instrument des politischen Zusammenspiels zu nutzen. Die Kirchen legen Wert darauf, dass keine bestimmte Stelle im institutionellen Apparat der Union zu einem „single-entry-point“ wird, sondern sie sich mit ihren jeweiligen Anliegen direkt an die fachlich zuständigen Stellen wenden können. Die Kirchen stehen deshalb gemeinsam für „many-entry-points“ auf der europapolitischen Ebene ein.
Zwischenfazit: Die Anpassungsprozesse im Rahmen der Überführung des deutschen Staatskirchenrechts in einen Verbund europäischen Religionsrechts verlaufen „erstaunlich lautlos und unspektakulär“ ( Hans-Michael Heinig, s. Anm. 10). Dabei sind die Freiheit der Religionsausübung, die Gleichheit aller religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse sowie die Anerkennung der öffentlichen Wirkung und des öffentlichen Wirkens von Religion Elemente eines sich entwickelnden europäischen Religionsrechts (s. Anm. 11).
Die unmittelbare Einmischung in das Verhältnis von Staat und Kirche auf mitgliedstaatlicher Ebene ist zudem wie oben dargelegt untersagt. Die dargestellten Normen des Primärrechts sind und bleiben aber als gemeinschaftsrechtliche Kompetenzschranke eine wichtige Errungenschaft zur Abwehr der mittelbaren Einflussmöglichkeiten der EU. Auf solche möchte ich im Folgenden exemplarisch eingehen:
3. Aktuelle Bewährungsproben des Staatskirchenrechts auf europäischer Ebene
• Kirchliches Arbeitsrecht
Am 31. Januar 2008 wurde durch ein Mahnschreiben von Sozial-Kommissar Vladimir Špidla an die Bundesrepublik die erste Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen angeblicher Mängel bei der Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) eingeleitet. Die Richtlinie verbietet Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung im Bereich Beschäftigung und Beruf, lässt aber Ausnahmen für Tätigkeiten bei kirchlichen Arbeitgebern zu. In dem Brief wird u.a. der Inhalt der sog. Kirchenklausel in § 9 AGG (s. Anm. 12) als nicht richtlinienkonform kritisiert. Vereinfacht gesagt: der deutsche Gesetzgeber lasse den Kirchen unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht zu viel Spielraum bei der Festlegung der "gerechtfertigten beruflichen Anforderungen".
Ebenfalls im Januar 2008 erging ein Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg. Kurz zum Sachverhalt: Die klagende Bewerberin hatte sich auf die Stelle einer Integrationslotsin des Diakonischen Werkes Hamburg e.V. beworben. Die Stelle war ausgeschrieben für Bewerber/innen mit "abgeschlossenem Studium der Sozialwissenschaften o. ä.". Weiterhin war die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche als Einstellungsvoraussetzung definiert. Die Klägerin, Deutsche türkischer Herkunft und nach eigenen Angaben nicht-praktizierende Muslima, hatte kein abgeschlossenes Studium vorzuweisen. Die Bewerbung wurde abgelehnt; eingestellt wurde eine Christin indischer Herkunft, die über einen Studienabschluss als Sozialpädagogin verfügte.
Die abgewiesene Bewerberin verklagte das Diakonische Werk Hamburg auf Entschädigung nach § 14 Abs. 2 AGG, da sie sich wegen ihrer ethnischen Herkunft und aus Gründen der Religion diskriminiert fühlte. Ihr sei von einer Mitarbeiterin des Diakonischen Werkes am Telefon mitgeteilt worden, die Ablehnung ihrer Bewerbung sei aufgrund ihrer mangelnden Kirchenzugehörigkeit erfolgt.
Das Arbeitsgericht Hamburg hatte eine Diskriminierung aus ethnischen Gründen verneint, aber eine Diskriminierung aus Gründen der Religion wegen Verstoßes gegen § 9 AGG anerkannt und der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von drei entgangenen Monatsgehältern zugesprochen. Während die Kommissionsvertreter in Brüssel das Urteil begrüßten, da es dem Geist der Nichtdiskriminierung entspreche, gab es von Kirchenseite deutliche Kritik. Das Arbeitsgericht Hamburg habe in Verkennung der europarechtlichen Vorgaben die Anwendung des kirchenbezogenen Ausnahmetatbestands des AGG in anmaßender Weise auf Tätigkeiten beschränkt, die „verkündigungsnah“ seien: wohlgemerkt nach der Definition des Gerichts. Eine Unterscheidung in „verkündigungsnahe bzw. –ferne“ Tätigkeiten steht aber den Gerichten gerade nicht zu.
Eine derartige Rechtsauslegung stellt einen massiver Eingriff in das in ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen dar. Auch greift es die Essenz der Freiheit der Religionsausübung an, wenn die öffentliche Gewalt den Kirchen vorzuschreiben versucht, welche Tätigkeiten besonders religiös geprägt sein sollen und welche nicht. Dementsprechend wurde gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg Berufung eingelegt. Diese war erfolgreich, allerdings bereits aufgrund der tatsächliche Umstände des Falles. Die Klägerin war schlicht und ergreifend für die ausgeschriebene Stelle nicht ausreichend qualifiziert.
Letztlich geht es also in beiden Fällen darum, wer die Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts festlegt. Dies können nach deutschem Staatskirchenrecht nur die Kirchen im Rahmen des verfassungsmäßig Zulässigen (Bindung an „das für alle geltende Gesetz“) selbst sein. Den Kirchen wird durch das Recht auf Selbstbestimmung auch eine hohe Verantwortung auferlegt, welche sie verhältnismäßig und durch kirchenrechtliche Normierung überprüfbar wahrnehmen, wie etwa in der Loyalitätsrichtlinie von 2005 zum Ausdruck kommt. Diese rechtliche Stellung wird auch durch die Richtlinie 2000/78/EG nicht in Frage gestellt. Vielmehr ist sie europarechtskonform.
Die Bundesregierung hat sich Ende Mai 2008 in ihrem Antwortschreiben im Sinne der deutschen Kirchen zu dem Mahnschreiben von Kommissar Špidla positioniert. Aufgrund der stockenden Verhandlungen über den aktuellen Vorschlag zu einer Antidiskriminierungsrichtlinie ist allerdings bislang keine Entscheidung der Kommission in diesem (politischen) Verfahren ergangen.
• Vorschlag für eine Anti-Diskriminierungsrichtlinie im Zivilrecht
Das Sozialpaket der EU-Kommission vom 02. Juli 2008 enthält einen weiteren Richtlinienentwurf, der sich auf die in Art. 13 EGV genannten Diskriminierungsgründe Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Ausrichtung bezieht (horizontal). Da – wie soeben ausgeführt - für das Arbeitsrecht bereits eine Reglung (2000/78/EG) besteht, soll der vorliegende Entwurf noch offene Gesetzeslücken im Schutz vor Diskriminierungen schließen.
Der Vorschlag bezieht sich u.a. auf:
den Sozialschutz, einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste
soziale Vergünstigungen
Bildung
den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, einschließlich Wohnraum
Der Entwurf zeichnet sich allerdings insgesamt durch eine wenig sorgfältige Normgebung aus, was zu einem hohen Maß an Rechtsunsicherheit führt. Die Verhandlungen im Ministerrat gestalten sich dementsprechend auch sehr mühsam. Der zuständige EU-Kommissar Vladimír Špidla verweist zwar darauf, dass gerade Deutschland im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bereits entsprechende Regelungen verankert habe, die sogar als Vorbild auf europäischer Ebene gedient hätten. In Deutschland ist man sich nicht allerdings sicher, dass die Richtlinie nicht doch Änderungen am AGG erfordern könne.
Den Kirchen sind v.a. die Regelungen über den „Zugang zu Bildungseinrichtungen“ sowie zum Staat- Kirche- Verhältnis wichtig. In Erwägungsgrund 19 des Richtlinienentwurfs (KOM (2008) 426 endg.) wird die Amsterdamer Kirchenerklärung zitiert. Von besonderem Interesse für die Kirchen ist zudem Art. 3 (Geltungsbereich) III des Richtlinienentwurfs: „Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte, die Aktivitäten und die Gestaltung ihres Bildungssystems einschließlich der Sonderpädagogik bleibt von dieser Richtlinie unberührt. Die Mitgliedstaaten können eine Ungleichbehandlung aufgrund der Religion oder Weltanschauung beim Zugang zu Bildungseinrichtungen vorsehen.“ In IV heißt es „Einzelstaatliche Rechtsvorschriften zur Gewährleistung des säkularen Charakters des Staates, der staatlichen Einrichtungen und Gremien sowie der Bildung oder zum Status und zu den Aktivitäten der Kirchen und anderer religiös oder weltanschaulich begründeter Organisationen bleiben von dieser Richtlinie unberührt.“
Auf Drängen der Franzosen gibt es zudem einen Passus, der festlegt, dass die Mitgliedstaaten das Tragen oder Zurschaustellen religiöser Symbole in staatlichen Schulen zulassen oder verbieten dürfen (Erwägungsgrund 18).
Das Europäische Parlament wird in dem Verfahren nur angehört, entscheidet also nicht mit. Alles hängt also stark von den Mitgliedstaaten ab. Diese sind gespalten. So fordern u.a. Deutschland, Malta und Italien Nachbesserungen an dem Richtlinienvorschlag, um einen höheren Grad an Rechtssicherheit zu erreichen. Nachdem unter der Ratspräsidentschaft der Tschechen im Ministerrat keine Einigung erzielt werden konnte, verhandeln nun die Schweden weiter. In den bisherigen Sitzungen war klar erkennbar, dass sie im Bereich des Zugangs zu konfessionellen Schulen bei der Kommissionslinie bleiben und das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen bzw. die Pluralität der Bildungssysteme nicht in Frage stellen, d.h. kirchliche Bildungsträger sollen auch künftig auf eine bestimmte Konfessionszugehörigkeit der Schüler Wert legen dürfen, um dadurch ihr Proprium und ihre Identität zu wahren. Was die Zuständigkeit der EU für das Staats-Kirche Verhältnis generell angeht, wird es darauf ankommen, die Ausnahmen für die Kirchen aufrechtzuerhalten und ggf. durch weitere Präzisierung in den Formulierungen noch stärkere Rechtsklarheit zu erreichen.
4. Verfahren vor dem EGMR
Lassen Sie mich abschließend kurz auf die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängigen Verfahren eingehen. Vor dem EGMR sind gegenwärtig acht Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland anhängig, die Fragen des Staatskirchenrechts berühren. Drei Verfahren betreffen das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland, vier weitere den Rechtsschutz in Kirchensachen (Problem der Unzulässigkeit von Klagen vor staatlichen Gerichten), eines die gegenwärtige Praxis des Kirchensteuereinzugs, genauer die Eintragung der Konfession/Konfessionslosigkeit auf der Lohnsteuerkarte.
Ich möchte im Folgenden kurz zu den das deutsche Staatskirchenrecht betreffenden Verfahren Stellung nehmen und beziehe ich mich im folgenden größtenteils auf die Einschätzungen des Kirchenrechtlichen Instituts des EKD.
In drei Ausgangsverfahren waren Gliedkirchen der EKD beteiligt (Baden in einem arbeitsrechtlichen Verfahren, Württemberg und das Rheinland in dienstrechtlichen Verfahren, die nun vor dem EGMR Fragen des Zugangs zu staatlichen Gerichten aufwerfen). Beteiligte in den anderen Ausgangsverfahren sind das Bistum Essen, die Heilsarmee sowie die Mormonen.
Bei einem Erfolg der Beschwerdeführer vor dem EGMR wird die Bundesrepublik Deutschland als Signatarstaat verurteilt, d.h. sie wäre ggf. schadensersatzpflichtig. Das heißt aber auch, ein Urteil des EGMR hätte zunächst keine unmittelbare Wirkung auf die betroffenen Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Das Verhältnis von EMRK und dem Staatskirchenrecht des Grundgesetzes ist nicht abschließend geklärt. Nach BVerfGE 111, 307 (329) haben deutsche Gerichte die EMRK zu beachten, soweit nicht Verfassungsrecht eindeutig entgegensteht. Zugleich ist Grundgesetz unter Berücksichtigung der EMRK auszulegen (E 111, 307 [317 f. ]). Wie die deutschen Gerichte auf eine Verurteilung Deutschlands reagieren würden, ist gegenwärtig nicht absehbar. Auch bleibt die Frage offen, ob das Bundesverfassungsgericht einen offenen Konflikt mit dem EGMR austragen oder seine Rechtsprechung anpassen würde.
Straßburg entscheidet aber stets nur den Einzelfall. Der EGMR überprüft also nicht generell das deutsche Staatskirchenrecht, allerdings sind mittelbare Auswirkungen auf das Staatskirchenrecht nicht auszuschließen.
Vor diesem Hintergrund hat sich die EKD entschlossen, neben den betroffenen Gliedkirchen als Drittintervenientin nach Art. 36 Abs. 2 EMRK aufzutreten. Damit soll insbesondere die grundsätzliche Relevanz der Fälle über den Einzelfall hinaus dokumentiert werden.
Zu den arbeitsrechtlichen Verfahren (z.B. Siebenhaar v. BRD):
In den Verfahren geht es um die Reichweite der kirchlichen Loyalitätspflichten. Wie frei sind die Kirchen diese selbst zu bestimmen?
Das Bundesverfassungsgericht räumt den Religionsgemeinschaften eine weiten Spielraum bei der Ausgestaltung des kirchlichen Arbeitsrechts ein und sieht verfassungsrechtliche Grenzen erst berührt, wenn Grundprinzipien der Rechtsordnung verletzt werden (Willkürverbot, Verstoß gegen die guten Sitten, ordre public – st. Rspr. seit E 70, 138 ff.). Wie oben bereits dargestellt hat sich auch die Europäische Union verpflichtet, die Vielfalt und Vielfältigkeit des Religionsrechts der Mitgliedstaaten und damit die Autonomie der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu respektieren (Amsterdamer Kirchenerklärung, Art. 17 I).
In ihrer Drittinterventionsschrift legen die Prozessbevollmächtigten dar, dass der Erhalt der Identität und der Glaubwürdigkeit einer Religionsgemeinschaft die Festlegung von Loyalitätspflichten der Mitarbeitenden und Anforderungen an die Mitgliedschaft etc. erfordere. Art. 9 EMRK schütze nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Religionsfreiheit und damit sei auch die Teilhabe am Leben der Religionsgemeinschaft, sprich die Entscheidung über Loyalitätspflichten von Mitarbeitenden vom Schutzbereich der Religionsfreiheit umfasst. Vor diesem Hintergrund müsse es den Kirchen und Religionsgemeinschaften überlassen bleiben, festzuschreiben, wie sie ihren Verkündigungsauftrag definieren und welche Anforderungen sie an die Mitarbeiter stellen. Der Staat oder die staatlichen Gerichte seien nicht befugt festzulegen, welche Funktionen in einer Religionsgemeinschaft für die Wahrnehmung des Verkündigungsauftrags essentiell sind und welche nicht.
Zu den dienstrechtlichen Verfahren (z.B. Reuter vs. BRD):
In den Fällen geht es um den staatlichen Rechtsschutz in dienstrechtlichen Angelegenheiten (z.B. Versetzung in den Wartestand; Versetzung in den Ruhestand; Verweigerung von Urlaubsgeld). Hier besteht die Besonderheit, dass die Rechtslage in Deutschland selbst unübersichtlich, die Spruchpraxis der obersten Bundesgerichte uneinheitlich ist. Nach ständiger, weiterhin gefestigter Rspr. von BVerwG und BVerfG ist zur Kontrolle in innerkirchlichen Angelegenheiten, wie dem kirchlichen Dienstrecht, der staatl. Rechtsweg nicht gegeben. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der Justizgewährungspflicht gem. Art. 2 I iVm Art. 92 GG, da vorliegend ausschließlich kirchliches, nicht staatliches Recht einschlägig sei. Nach einer neueren Rspr. des BGH, schränke das kirchliche Selbstbestimmungsrecht jedoch nicht die staatl. Justizgewährungspflicht, sondern nur das Maß der Justiziabilität einer Maßnahme ein, erlaubt aber eine Überprüfung auf Grundprinzipien der Rechtsordnung, etwa das Willkürverbot.
Die deutschen Verwaltungsgerichte verneinen allerdings ihre Zuständigkeit für die Entscheidung von Streitigkeiten über die Anwendung kirchlichen Dienstrechts. Dieser Ausschluss der staatlichen Gerichtsbarkeit ist vor dem Hintergrund von Art. 6 I EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) zu beurteilen.
Zuletzt hatten die Straßburger Richter im Fall Athinen vs. Finland (No. 48907/99) über die Frage der Zulässigkeit dienstrechtlicher Angelegenheiten vor staatlichen Gerichten in dem Sinne entschieden, dass Art. 6 I EMRK nicht einschlägig sei, da in dem strittigen Fall kein zivilrechtlicher Anspruch zur Disposition stehe, sondern die Rechtsgrundlagen für die Versetzung sich allein aus internem Recht der finnisch-lutherischen Kirche ergeben würden (Kriterien für die Versetzung eines Pfarrers der finnisch-luth. Kirche werden in einem Kirchengesetz niedergelegt, das ein Parlamentsgesetz darstellt, aber dessen Inhalt allein die Synode bestimmt). Auch in der deutschen Rechtsordnung liegt die Regelung des rechtlichen Status von Kirchenbeamten allein bei den Religionsgemeinschaften.
In ihrer Drittintervention macht die Kirchenseite außerdem erneut auf die kooperative Dimension von Art. 9 EMRK aufmerksam und weist darauf hin, dass der Schutz des hier verankerten kirchliche Selbstbestimmungsrecht ein legitimes Ziel für eine begrenzte Auslegung von Art. 6 I EMRK darstelle. Die Auswahl der Pfarrer und ihre Beziehung zu den Gemeinden sei ein zentraler Aspekt bei der Organisation einer Religionsgemeinschaft und dementsprechend Teil der von Art. 9 EMRK geschützten Autonomie. Diese Interpretation von Art. 9 entspricht auch der bisherigen ständigen Rechtsprechung des EMRK und wird auch im Athinen-Fall unterstrichen.
Gesamtfazit: Ein europäisches Staats- bzw. Unionskirchenrecht gibt es nicht und auf absehbare Zeit wäre ein solches Ansinnen weder politisch noch rechtlich zu realisieren. Die Amsterdamer Kirchenerklärung und hoffentlich bald Art. 17 I AEUV garantieren, dass das Verhältnis der Mitgliedstaaten zu den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht im Sinne eines einheitlichen religionsrechtlichen Systems in Europa nivelliert werden darf
Uns ist als Kirchen daran gelegen, unsere Stimme in Europa hörbar zu machen, damit wir unseren Beitrag zur Wertefindung und -vermittlung, zu einer sozialeren und gerechteren Gesellschaft leisten können. Dazu bedarf es auch der Achtung der Religionsfreiheit, der kirchlichen Autonomie und der nationalen Identität im Staatskirchenrecht.
In der Praxis sind es insbesondere die mittelbaren Einwirkungen des Sekundärrechts auf das Staatskirchenrecht, die uns in Brüssel, Berlin und Hannover auch weiterhin beschäftigen werden. So kommt es zu einer wechselseitigen Beeinflussung von europäischem und nationalem Recht. Dabei erweist sich das deutsche Staatskirchenrecht, dass den Kirchen und Religionsgemeinschaften ein hohes Maß an Autonomie einräumt, bislang durchaus als „europarechtskompatibel“, auch wenn sich gelegentlich Erklärungsbedarf ergibt.
Unser Staatskirchenrecht macht uns also handlungsfähig. Für die Zukunft unser Kirche ist es jedoch unabdingbar angesichts sich verändernder gesellschaftspolitischer Umstände, in einer Zeit hoher Kirchenaustrittszahlen, wachsender Säkularisierung und einer insbesondere in den Großstädten durchaus multi-religiös geprägten Öffentlichkeit eine innerkirchliche Debatte darüber zu führen, wie wir das Staatskirchenrecht zukunftsfähig ausgestalten können. Wir dürfen es nicht den Gerichten überlassen, die künftige Richtung vorzugeben, sondern sollten die weiten Spielräume, dies uns dieses Rechtsgebiet eröffnet, beherzter nutzen.
Anm. 1: Stefan Mückl, in: Europäisierung des Staatskirchenrechts, Baden-Baden 2005, S. 223ff.
Anm. 2: Ebd., S.64.
Anm. 3: Theodora Antoniou, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (EssGespr.), Bd. 40, 2007, hrsg. von Burkhard Kämper und Hans-Werner Thönnes, S. 158ff.
Anm. 4: Patrick Roger Schnabel, in: noch unveröffentlichte Dissertation (Universität Potsdam).
Anm. 5: Vgl. Balász Schanda, in: EssGespr.; Band 40, 2007, S. 151ff.
Anm. 6: Domradio, 27.09.2006.
Anm. 7: siehe auch Mückl, S: 554ff.
Anm. 8: Gerhard Robbers, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Band 42 (1997), S. 127.
Anm. 9: Artikel 17: Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den
Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
(2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen.
(3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres
besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.
Anm. 10: Hans Michael Heinig, in: Staat und Kirche im werdenen Europa. Nationale Unterschiede und Gemeinsamketein, hrsg. V. Dieter Fauth, Erich Satter, Würzburg, 2003, S. 71ff (82).
Anm. 11: Ebd., S. 82.
Anm. 12: § 9 Zulässige unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder Weltanschauung
(1) … ist eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung bei der Beschäftigung durch Religionsgemeinschaften, die ihnen zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform oder durch Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Religion oder Weltanschauung zur Aufgabe machen, auch zulässig, wenn eine bestimmte Religion oder Weltanschauung unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder Vereinigung im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt.
Anm. 12: Jörg Winter in: Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Neuwied; Kriftel 2001, S. 212.