Der NSU-Komplex und seine Aufklärung.
Ein kritischer Zwischenbericht zwei Jahre nach der NSU-Selbstenttarnung
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor ziemlich genau zwei Jahren, am 11. November 2011, tagte die erste Ost-West-Konferenz der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus in Lutherstadt Wittenberg unter dem Titel „Das Ganze verändern, nicht nur die Nische“. Das Treffen fand also fast genau zu dem Zeitpunkt statt, an dem die NSU und ihre Taten öffentlich wurden. Das Ausmaß der Morde war damals erst in Ansätzen sichtbar. Noch nicht absehbar war damals, welche erschütternden Fehler sich die Ermittlungsbehörden in diesem Fall geleistet hatten. Sicherlich wissen wir auch heute noch nicht alles, was damals passiert ist
Im Nachhinein kam dem Titel der Konferenz, der zunächst einmal wenig demütig klang, eine unheimliche Brisanz zu. Das Ganze verändern, nicht nur die Nische! Die bisher geleistete Aufklärung des NSU-Komplexes hat zu Tage gefördert, dass die fahrlässige Behandlung der Mordfälle keineswegs lediglich auf Kommunikations- und Organisationsmängel zurückzuführen war. Ebenso wenig ist das Versagen der Verantwortlichen nur mit Mängeln in der so genannten Sicherheitsarchitektur zu begründen. Vielmehr müssen wir heute feststellen, dass der Einsatz von V-Leuten mit enormen Problemen verbunden ist. Und es hat sich gezeigt, dass es die subjektiven Einstellungen vieler Ermittler waren- gut ausgebildeter und auch gut bezahlter Menschen - die zu fatalen Fehlern geführt haben. Ausschlag gebend waren also Auffassungen, in deren Folge bestimmte Gruppen unserer Bevölkerung aufgrund ihres Glaubens, ihrer ethnischen oder kulturellen Zugehörigkeit diskriminiert und kriminalisiert wurden.
So sieht es auch der NSU-Untersuchungsausschuss. In seinem Abschlussbericht hält er fest, dass der gewaltbereite Rechtsextremismus behördenübergreifend unterschätzt wurde und, ich zitiere: „nicht ergebnisoffen und vorurteilsfrei, sondern mit Ressentiments ermittelt“ wurde.
Trotz dieser Feststellung bleibt die Frage: Sollten wir unsere Gemüter damit beruhigen, dass alle schrecklichen Ereignisse, alle Fehler und Versäumnisse nur Folgen von behördlichem Versagen gewesen sind? An dieser Stelle sind wir alle gefordert, uns selbst zu prüfen: Für unsere gesamte Gesellschaft, und in schmerzhafter Weise auch für die Kirchen gilt es, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und auch Antisemitismus und Islamophobie oder antimuslimischen Rassismus in den Blick zu nehmen. In den letzten Jahren hat sich in den evangelischen Landeskirchen und in der EKD-Synode – also unserem „gesamtkirchlichen Parlament“ - die Einsicht durchgesetzt, dass wir uns als Kirche ganz besonders angesprochen fühlen müssen: Die Kirche ist Teil des Problems. Nur wenn wir das verstehen, können wir auch Teil der Lösung sein. „Das Ganze verändern und nicht nur die Nische“ - diese Forderung richtet sich auch an uns selbst. Gerade diskutieren wir innerhalb der EKD die Notwendigkeit einer umfassenden qualitativen Studie zu Formen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Eine solche Studie könnte Vorurteilsstrukturen und manifeste menschenfeindliche Einstellungen im Raum der Kirche aufdecken und Möglichkeiten aufzeigen, diesen mit intensiverer Präventions- und Bildungsarbeit zu begegnen. Gerade weil wir Kirche eines Einwanderungslands sind, müssen wir uns mit menschenfeindlichen Einstellungen, auch in der Mitte unserer Gesellschaft, intensiv beschäftigen. Damit sind wir im Vergleich zu anderen Einwanderungsländern spät dran.
Es ist deshalb gut und richtig, dass die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus sich in Bündnissen und Projekten, wie zum Beispiel bei „NSU-Watch“ engagiert und einen kritischen und selbstkritischen Geist auch in kirchlichen Strukturen und Debatten zum Tragen bringt. Sie alle als Teil dieser Arbeitsgemeinschaft machen mit Pressearbeit, mit Konferenzen und mit Veranstaltungen wie der heutigen dankenswerterweise immer wieder eines deutlich: Das NSU-Desaster kann nicht allein von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, von denen es ja auch in Thüringen, Sachsen und Bayern jeweils einen gab, aufgearbeitet werden. Auch genügt es nicht, dass Behörden ihr eigenes Versagen aufklären. Wir brauchen eine kritische öffentliche Debatte, die das gesamte Gefahrenpotenzial des Rechtsextremismus in den Blick nimmt. Er darf nicht als Randphänomen abgetan werden, das nur einzelne Menschen betrifft.
Was kann das konkret bedeuten? Eine ausschließliche Konzentration auf die Stärkung und auf den Umbau staatlicher Institutionen inklusive des Verfassungsschutzes scheint mir als Konsequenz der Ereignisse zu kurz zu greifen. Wir haben es hier mit einer gesamtgesellschaftlichen Problematik zu tun, die eine gesamtgesellschaftliche Form der Bearbeitung erfordert - damit sind zum Beispiel auch die zivilgesellschaftliche kritische Begleitung von Behördenhandeln gemeint und nicht zuletzt die gesellschaftliche Solidarität mit Opfern und Betroffenen rechter Gewalt. Deshalb brauchen wir neben der gesamtgesellschaftlichen Debatte zu Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus eine wirksame Stärkung und Verstetigung zivilgesellschaftlicher Präventions- und Beratungsarbeit. Präventives Handeln ist in seiner Wirkung unter Umständen nachhaltiger als Strafverfolgung und Justiz. Mit einer wachen und gut vernetzten Zivilgesellschaft kann minderheitenfeindlichen, rassistischen, antisemitischen und muslimfeindlichen Einstellungen, die der stetige Nährboden für extreme rechte Strukturen und Rechtsterrorismus sind, dauerhaft der Boden entzogen werden. Davon profitieren dann auch Behörden und Institutionen. Ganz konkret könnten die umfangreichen Kenntnisse über Mechanismen und Möglichkeiten der Bearbeitung von rassistischen Mustern, Kenntnisse, die es bei Ihnen und anderen schon lange in diesem Feld aktiven Gruppen gibt, beispielsweise in die Ausbildung bei Polizei und Verwaltungen eingebracht werden. Dies wäre einer von vielen Wegen, damit unsere Gesellschaft zu einer Gesellschaft mit einer Willkommenskultur werden kann.
Der NSU-Abschlussbericht empfiehlt eine kontinuierliche Unterstützung für Demokratieförderung und zivilgesellschaftliche Präventions- und Beratungsarbeit. Diesem Rat kann ich mich als Vertreter der EKD nur anschließen - insbesondere im Blick auf die konkrete Forderung, die neue Bundesregierung möge ihr besonderes Augenmerk auf die Schaffung einer vernetzten Programmstruktur und eine nachhaltige und langfristige Bundesförderung legen. Denn die bisher praktizierte dreijährige Projektförderung, der Pilotcharakter der Bundesförderung sowie die Notwendigkeit der Kofinanzierung durch Strukturen in den Ländern erschweren ein nachhaltiges zivilgesellschaftliches Arbeiten enorm.
Nicht zuletzt sei noch erwähnt, dass der Rat der EKD darauf hingewirkt hat, dass es seit Monatsbeginn eine Projektstelle an der Hauptstadtakademie gibt, die sich unter dem Titel „Demokratische Kultur und Kirche“ den eben skizzierten Aufgaben intensiv widmen und nach innen und außen dem christlichen Bekenntnis Ausdruck verleihen soll, dass – hier möchte ich aus der EKD-Erklärung vom Mai 2012 zitieren - :„Gott alle Menschen nach seinem Bilde schuf. Deshalb sind wir als Christenmenschen verpflichtet, gegen die Abwertung und Missachtung von Menschen aufzustehen.“ Ich freue mich sehr, Christian Staffa auf dieser Stelle als neuen Studienleiter der Akademie begrüßen zu dürfen.
Warum stammen nach biblischem Zeugnis alle Menschen von Adam und Eva ab? Die rabbinische Auslegung der Schöpfungsgeschichte bietet eine weise Erklärung: Niemand soll sich auf Grund seiner Herkunft über andere Menschen erheben können. Ich bin froh und dankbar, dass sich hier und heute mit Ihnen so viele Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Überzeugungen versammelt haben, die dieses Ziel mit uns anstreben. Ich weiß, dass unsere Kirche in diesen Dingen nicht immer vorangeht. Deshalb danke ich Ihnen von Herzen für Ihre Geduld und Ihre Impulse: Ich wünsche Ihrer täglichen Arbeit Gottes reichen Segen und uns allen heute Abend eine erkenntnis- und ergebnisreiche Diskussion.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.