Unantastbare Menschenwürde - Gilt sie von Anfang an?

Wolfgang Huber

Potsdam

I.

Wenn Menschenrechte nicht nur die Rechtsstellung der einzelnen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im politischen Gemeinwesen begründen, sondern den moralischen Status jedes Menschen gegenüber aller ihm entgegentretenden Gewalt zum Ausdruck bringen sollen, dann wird dem Begriff der Menschenrechte in aller Regel derjenige der Menschenwürde begründend zur Seite gestellt. Damit steigt der Erklärungsbedarf: nicht nur was Menschenrechte, sondern auch was Menschenwürde ist, muss dann erläutert werden. Und zugleich muss man feststellen: Seit die Menschenrechte nicht nur als staatsbürgerliche Grundrechte, sondern als unabhängig von der Staatsbürgerschaft zu respektierende Rechte jedes Menschen betrachtet werden, stellt sich unabweislich die Frage, was das denn sei – „der Mensch“, dem solche Rechte zuerkannt werden sollen. Die Radikalisierung des Menschenrechtsbewusstseins, die sich in der Neuzeit über mehrere Stufen hin vollzogen hat, führt deshalb in eine doppelte Grundfrage hinein. Einerseits muss gefragt werden, wie man denn die Würde des Menschen zu verstehen habe. Zugleich stellt sich die Frage, was denn der Mensch sei, dem man eine solche Würde zuspricht. Beide Fragen hängen natürlich zusammen.

Wer immer sich mit dem Thema der Menschenrechte in diesem umfassenden Sinn beschäftigt, muss im Bewusstsein behalten, dass die Radikalisierung des Menschenrechtsbewusstseins sich mit der Gefahr ihrer Relativierung verbinden kann. Denn der Begriff der Menschenrechte kann so weit gefasst werden, dass er jegliche Kontur verliert und deshalb auch an Anwendbarkeit einbüßt. Und der Begriff der Menschenwürde kann auf eine Weise als vermeintlicher Passepartout verwendet werden, die seinen Rang durch inflationären Gebrauch gerade schmälert, statt ihn zu stärken. Doch beide Gefahren können kein Anlass dazu sein, dass man den Begriff der Menschenrechte ermäßigt und auf seinen Begründungszusammenhang mit der Menschenwürde verzichtet. Vielmehr geht es darum, die beiden Begriffe schärfer zu erfassen oder doch zumindest ihre bleibende Unbestimmtheit besser zu erklären.

Dabei will ich mich um der Knappheit, die in einem solchen Vortrag unumgänglich ist, auf zwei Teilaspekte dieser umfassenden Aufgabenstellung beschränken. Ich will einerseits der Frage nach der Bestimmbarkeit der Menschenwürde nachgehen. Und ich will mich zum andern der gerade heute besonders aktuellen Frage nach ihrer Reichweite zuwenden. Die doppelte Richtung meines Fragens nach der Menschenwürde lässt sich auch so bezeichnen: Was ist mit ihr gemeint? Und: Gilt sie von Anfang an?

II.

Häufig berufen sich die zeitgenössischen Kataloge von Menschen- und Grundrechten zur Begründung auf die unverlierbare und unveräußerliche Würde des Menschen. So verweist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 in ihrer Präambel auf die „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte“ als „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt.“ Ihr Artikel 1 geht von dem Grundsatz aus: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“  Markant sind Menschenrechte und Menschenwürde auch im Bonner Grundgesetz verknüpft, wenn es in seinem Artikel 1 sagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Doch Bedeutung und Tragweite des die Menschen- und Grundrechte fundierenden Begriffs der Menschenwürde sind weithin unklar und umstritten. Seine Eindeutigkeit gewinnt dieser Begriff zunächst aus dem Faktum seiner Negation. Deshalb ist es kein Zufall, dass er die Sprache der Menschenrechts- und Grundrechtsdokumente nach den Erfahrungen mit den Diktaturen Hitlers und Stalins prägt. Aus den massiven Angriffen staatlicher Gewalt auf Leben, Freiheit und Integrität ungezählter Menschen gewinnt die Menschenwürde eine unwiderlegliche Evidenz. Als unbestreitbar gilt auf Grund dieser Erfahrungen auch, dass die menschliche Würde nur dann anerkannt wird, wenn sie keinem menschlichen Wesen abgesprochen wird. Auch geistig oder körperlich Behinderten, auch Straffälligen kommt diese Würde zu; auch auf noch Ungeborene und Verstorbene strahlt diese Würde – in einer im einzelnen oft nicht leicht zu bestimmenden Weise – aus.

Doch mit einer solchen aus der Erfahrung der Leugnung gewonnenen Einsicht in die Bedeutung der Menschenwürde ist noch nicht darüber entschieden, inwiefern sie die Begründungslast für das Konzept und die rechtliche Durchsetzung der Menschenrechte wirklich zu tragen vermag. Deutlichere Konturen empfängt der Begriff aus seiner Geschichte.

Das kann hier freilich nur in groben Strichen angedeutet werden. In der europäischen Tradition begegnet die Rede von der Würde des Menschen in zwei unterschiedlichen Grundformen. Sie sind schon in der griechisch-römischen Antike ausgeprägt. Entweder wird damit der besondere Rang einer Person innerhalb einer Gesellschaft bezeichnet; der Begriff der Würde (dignitas) ist in dieser Verwendungsweise demjenigen der Ehre (honor) benachbart. Oder der Begriff meint das, was alle Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen in gleicher Weise auszeichnet und ihre besondere Stellung im Kosmos begründet. Der Begriff menschlicher Würde tritt also entweder in differenzierender oder in egalisierender Bedeutung auf. Bis zum heutigen Tag sprechen wir einerseits von besonders würdigen oder gar ehrwürdigen Persönlichkeiten; andererseits orientieren wir uns an der gleichen Würde jeder menschlichen Person. Insofern hat der doppelte Sprachgebrauch sich bis in die Gegenwart durchgehalten. Doch soweit es die Frage nach dem rechtlichen und moralischen Status des Menschen betrifft, bezeichnet „Würde“ ganz überwiegend eine Gleichrangigkeit und Gleichachtung aller Menschen, die von ihren offenkundigen Unterschieden – des Geschlechts oder des Alters, der Staatsangehörigkeit oder der Religion, des Vermögens oder des Einflusses – unabhängig ist.

Dass dieser Aspekt des Würdebegriffs sich schließlich durchgesetzt hat, hängt mit der Umformung des antiken Menschenbilds unter jüdisch-christlichem Einfluss zusammen.

Freilich dauerte das lange und vollzog sich auf verschlungenen Wegen. Denn so sehr jüdische und christliche Traditionen Impulse in sich enthielten, die auf die egalisierende Bedeutung der Menschenwürde zielten, so lange dauerte es doch, bis diese Impulse zur Durchsetzung des Gedankens einer gleichen Menschenwürde genutzt werden konnten. Erst mit der Wende zur Neuzeit wurde der Gedanke der gemeinsamen Gottebenbildlichkeit der Menschen im Sinn einer mit der Zugehörigkeit zum Menschengeschlecht gegebenen Egalität der Würde verstanden. Es waren vor allem die italienischen Humanisten des 15. und die spanischen Hochscholastiker sowie die Reformatoren des 16. Jahrhunderts, die je auf ihre Weise zu der anthropologischen Wende der frühen Neuzeit beitrugen. Dabei wurde die Menschenwürde entweder aus der Bestimmung des Menschen abgeleitet und als seine Freiheit dazu ausgelegt, aus eigener Kraft das höchste Glück zu erstreben. Oder sie wurde mit seiner Vernunftnatur in Verbindung gebracht und somit an die ontologische Voraussetzung geknüpft, dass der Mensch ein vernunftbegabtes, zur Selbstbestimmung befähigtes Wesen ist. Oder sie wurde schließlich mit der Aussage verbunden, dass der Mensch durch Gottes Gnade zu seiner Bestimmung kommt, ein Ebenbild Gottes zu sein. Nach dieser in der reformatorischen Auffassung des christlichen Glaubens begründeten Konzeption liegt die Würde des Menschen also gerade nicht in seiner ontologischen Ausstattung aufweisbar vor; sie ist ebenso wenig als Resultat menschlicher Anstrengungen und Leistungen zu verstehen; sondern sie hat ihren Ort in der Gottesbeziehung des Menschen. Es handelt sich um eine dem Menschen zugesprochene, gerade nicht an ihm aufweisbare oder von ihm herstellbare Würde. Denn der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht und machen kann.

Natürlich ist es zu Verknüpfungen zwischen diesen Denkansätzen gekommen. Am wirkungsvollsten wurde ein reformatorisch geprägtes Naturrechtsdenken, wie es beispielsweise im 18. Jahrhundert durch Samuel Pufendorf entwickelt wurde. Der Respekt vor der Vernunftnatur des Menschen verbindet sich hier mit der Einsicht in die schöpferische und befreiende Gnade Gottes, die dem Menschen erst dazu verhilft, von seiner Vernunft einen angemessenen Gebrauch zu machen. Diese Grundlinie einer christlichen Aufklärung hat vor allem in Amerika große Wirkungen entfaltet, während sich in Europa weit stärker ein Denken in der Alternative zwischen Christentum und Aufklärung durchsetzte. Aber Auswirkungen des radikalen Ansatzes bei einer im Gottesverhältnis begründeten Gleichheit der Menschen in ihrer Würde finden sich in säkularer Gestalt auch hier.

Am berühmtesten und wirkungsmächtigsten ist Immanuel Kants Unterscheidung zwischen einem Wert, der durch einen Gegenwert aufgewogen werden kann, und einer Würde, die „über allen Preis erhaben“ und der gegenüber „mithin kein Äquivalent verstattet“ ist. Was ohne Äquivalent ist, kann aus eben diesem Grunde niemals bloß als Mittel zu fremden Zwecken gebraucht werden, sondern muss als Zweck an sich selbst anerkannt werden. Folglich ist die Würde des Menschen nur so lange gewahrt, so lange er nicht bloß als Mittel zu fremden Zwecken, sondern stets zugleich als „Zweck an sich selbst“  betrachtet und anerkannt wird. Dass wir Menschen stets anderen auch als Mittel dienen, verkennt der Königsberger Philosoph nicht; die kritische Grenze liegt für ihn dort, wo ein Mensch nicht mehr als bloß ein Mittel ist.

Das ist ein Gedanke von erheblichen Auswirkungen. Er setzt einen Begriff der Würde voraus, der gerade nicht im einzelnen bestimmt werden kann, sondern als Grenzbegriff fungiert. Konsequent zu Ende gedacht, sperrt sich der Begriff der Menschenwürde gerade gegen eine abschließende inhaltliche Definition. Denn die Würde des Menschen umfassend definieren zu wollen, hieße, einen Verfügungsanspruch über sie zu erheben. Eine abschließende Definition der Menschenwürde wäre eine angemaßte Herrschaft über die Menschen mit den Mitteln des Begriffs. Insofern hängt die Unmöglichkeit, zu einer abschließenden Definition der Menschenwürde zu gelangen, mit ihrem Inhalt unmittelbar zusammen.

Ähnlich verhält es sich mit den Begründungen der Menschenwürde. Ich habe Ihnen einen bestimmten Begründungsgang vorgeführt, der auf die Rolle des jüdischen und christlichen Menschenbildes für die Transformation antiker Würdekonzeptionen verweist. Ich habe ergänzend darauf hingewiesen, dass es säkularisierte Varianten dieser Begründung gibt. Doch keine derartige Begründung kann mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auftreten. Denn ein solcher Ausschließlichkeitsanspruch wäre mit der Universalität der Menschenwürde unvereinbar. Würde aber ist etwas, was von seinem Begriff her jedem Menschen in gleicher Weise zukommt, also universal gilt. Deshalb muss man die Verknüpfung der Menschenwürde mit unterschiedlichen Begründungen ebenso wie mit verschiedenartigen kulturellen Deutungen für möglich halten. Universalität und Begründungsoffenheit der Menschenwürde gehören unauflöslich zusammen.

Das ist an aktuellen Beispielen leicht deutlich zu machen. Gegenwärtig wird uns Tag für Tag vor Augen geführt, dass es Spielarten des Islam gibt, die mit der Anerkennung einer gleichen Menschenwürde unvereinbar sind. Denn sie legitimieren mit göttlicher Autorität die Auslöschung des Lebens von Menschen, die – mit welchen Gründen auch immer – als Feinde Gottes, als Feinde des Islam angesehen werden. Sie – beispielsweise durch ein Selbstmordattentat – zu töten, wird als eine Gott wohlgefällige Handlung angesehen; auch die Selbsttötung ist deshalb als Instrument zur Tötung der Feinde Gottes gerechtfertigt. Angesichts einer solchen Auffassung gibt es ein offenkundiges Interesse daran, mit Deutungsvarianten des Islam ins Gespräch zu kommen, die mit einer Anerkennung der gleichen Würde jeder menschlichen Person vereinbar sind. Wie weit das gelingt und welche Prozesse im Islam selbst dadurch ausgelöst werden, ist derzeit eine durchaus offene Frage. Aber das Beispiel zeigt: Begründungsoffenheit ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die Menschenwürde zur „Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“ werden kann.

III.

Doch wann beginnt die Menschenwürde? Von wann an ist der Mensch ein Mensch? Es sind sehr praktische Zusammenhänge, in denen sich diese Frage heute stellt.

Am 3. Mai dieses Jahres hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft in einer Revision ihrer bisherigen Position vorgeschlagen, in Deutschland die Forschung an embryonalen Stammzellen nicht nur freizugeben, sondern auch zu fördern. Das soll in einem ersten Schritt so geschehen, dass embryonale Stammzellen in Deutschland eingeführt werden, die von im Ausland erzeugten und dann getöteten Embryonen stammen. Denn in Deutschland selbst ist ein solcher Embryonenverbrauch zu wissenschaftlichen Zwecken durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 verboten. In einem nächsten Schritt freilich strebt die DFG eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes und damit die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken auch in Deutschland an.

Damit steht die Frage im Raum, ob verbrauchende Forschung an und mit Embryonen mit dem uns bestimmenden Bild vom Menschen zu vereinbaren ist. Von wann an ist der Mensch ein Mensch? So wird gefragt, um zu klären, ob auch der menschliche Embryo in den frühen Stufen seiner Entwicklung am Schutz von Würde und Leben des Menschen teilhat. Wer darauf eine Antwort finden will, kommt nicht darum herum, tiefer zu bohren und auch zu fragen: „Was ist der Mensch?“ Schon der Psalmist hat so gefragt: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt.“ Was ist der Mensch, den Gott sogar würdigt, sein Ansprechpartner, sein Gegenüber, sein Ebenbild zu sein? Wie wahren wir die Würde des Menschen auch im Fortschritt der Wissenschaften? Wie lösen wir den Konflikt zwischen Menschenwürde und Forschungsfreiheit? Bei dem Versuch, ihn zu lösen, darf man im übrigen nicht vergessen, dass sich auch in der Forschungsfreiheit ein Aspekt der Menschenwürde ausdrückt.

Als öffentliche Debatte hat der Disput um diese Frage gerade erst begonnen. Wolfgang Frühwald – der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und heutige Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung – hat diese Kontroverse dahingehend charakterisiert, sie sei „zu einer Auseinandersetzung um ein christliches, zumindest kantianisches Menschenbild auf der einen Seite und ein szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild auf der anderen Seite geworden.“ Frühwald hat sogar einen „Kulturkampf“ prophezeit, der so rasch nicht enden werde. Andere haben ihm vehement widersprochen – sowohl was die Beschreibung der Frontlinien als auch was die Charakterisierung der Debatte als „Kulturkampf“ betrifft.

Hubert Markl hat zu dem Streit um das Menschenbild mehrere bemerkenswerte und streitbare Beiträge geleistet. In ihnen kehrt auf höchst eigentümliche Weise die Beobachtung wieder, dass der Mensch mehr ist, als er selbst aus sich macht. In der Betrachtungsweise des Biologen Markl formt sich diese Einsicht zu dem Satz, dass der Mensch mehr ist als dieses oder jenes biologische Faktum. Markl hält es für einen Ausdruck überzogener biologischer Allmachtsphantasien, wenn wir meinen, durch die Erkenntnis des biologischen oder des genetischen Substrats schon erfasst zu haben, was der Mensch als Person ist. Er warnt ausdrücklich davor, in einem „Jahr der Lebenswissenschaften“ einer solchen Überschätzung biologischer Erklärungsmöglichkeiten zu erliegen. „Menschlichkeit, Menschenwürde, ja recht eigentlich Menschsein – so Markl – ist mehr als dies (biologische) Faktum (des Homo sapiens), es ist eine kulturell-sozial begründete Attribution, die sich in der Begriffsbegründung zwar sehr wohl biologischer Fakten bedienen kann, ja muss, die sich aber in ihnen nicht erschöpft.“ Wie wahr! Das Verständnis des Menschen als einer mit Würde versehenen, mit Freiheit begabten, zur Verantwortung berufenen Person bezieht sich zwar auf ein biologisches Faktum, erschöpft sich aber nicht in ihm.

Die Menschenwürde als „Attribution“ zu verstehen, ist freilich riskant. Von einer „Attribution“ könnte man allenfalls dann reden, wenn man konsequent der Versuchung wehrt, sie als eine „Selbstattribution“ zu verstehen. Der Mensch spricht sich die Menschenwürde nicht selbst zu; sie wird ihm auch nicht einfach von anderen Menschen zuerkannt; sie entsteht auch nicht erst durch eine staatliche Anerkennung. Denn sonst könnte der Mensch seine Würde auch selbst verwirken; sie könnte ihm von anderen entzogen werden; sie könnte ihm von Staats wegen aberkannt werden. All das wäre mit der Vorstellung von einer unantastbaren Menschenwürde unvereinbar. Menschenwürde ist erst dann in ihrer Radikalität verstanden, wenn wir uns trauen, in ihr eine göttliche Attribution zu sehen.

Deshalb aber können wir in Menschlichkeit und Menschenwürde auch nicht einfach kulturelle Interpretationsleistungen und Interpretationsmuster sehen, die einem willkürlichen Wandel ausgesetzt sind oder ausgeliefert werden dürfen. Zwar wandelt sich unsere Wahrnehmung der Menschenwürde und ihrer Reichweite; die Sprache verändert sich, in der wir von ihr sprechen. Doch das liegt daran, dass unsere Sprache immer nur annäherungsweise erfasst, was sie benennen soll; niemals ist sie imstande, sich des Bezeichneten vollständig zu bemächtigen. Deshalb ist es auch verkehrt, aus den kulturellen Wandlungen unserer Rede von der menschlichen Würde zu schließen, diese Würde selbst sei ohnehin nichts anderes als das leicht wandelbare Erzeugnis kultureller Deutungen. Verkehrt ist es deshalb erst recht, wenn die Anstrengung unternommen wird, unseren Begriff der menschlichen Würde zu relativieren, sobald uns das im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts gerade als wünschenswert erscheint.

Deshalb folge ich Hubert Markl dort nicht, wo er die Unterscheidung zwischen dem Menschen als Mitglied der Gattung Homo sapiens und dem Menschen als Person dazu benutzt, die ethischen Einwände gegen einen forschenden Verfügungsanspruch über den Menschen – auch in den frühen Stufen menschlicher Entwicklung – zu relativieren oder gar für irrelevant zu erklären. Dass wir den Menschen als Person von seiner genetischen Ausstattung unterscheiden, heißt nicht, dass diese genetische Ausstattung bedeutungslos wird. Es geht deshalb nicht an, dass wir durch „kulturelle Übereinkunft“ ein Datum festlegen, von dem an wir den Menschen erst als Träger der Personwürde anerkennen, während das menschliche Lebewesen in den vorausliegenden Stufen seiner Entwicklung eine bloße Biomasse darstellt. Dass wir im Menschen mehr sehen als die Summe seiner biologischen Merkmale, heißt nicht, dass das biologische Substrat seines Lebens bedeutungslos wäre. Das ist präzise genauso wenig der Fall, wie die Einsicht, dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner Taten oder Untaten, diese Taten oder Untaten selbst unerheblich macht.

Wer die unverfügbare Würde des Menschen achtet, wird deshalb auch den offenen Anfang des menschlichen Lebens respektieren. Er wird darauf verzichten, eine bestimmte Stufe in der Entwicklung menschlichen Lebens so auszuzeichnen, dass erst jenseits dieser Stufe eine Schutzwürdigkeit dieses Lebens beginnt. Er wird auch darauf verzichten, aus den faktischen Unterschieden unserer Schutzmöglichkeiten für werdendes menschliches Leben auf prinzipielle Unterschiede in der Schutzwürdigkeit dieses Lebens selbst zu schließen. Viel eher gilt: Unsere Schutzverpflichtung für menschliches Leben reicht so weit wie unsere Schutzmöglichkeiten. Deshalb haben wir gegenüber einem in der Petrischale erzeugten Embryo eine Schutzverpflichtung auch auf den frühen Stufen seiner Entwicklung, auf denen ein Embryo im Mutterleib unseren Schutzmöglichkeiten noch gänzlich entzogen wäre. Oder anders und schärfer gesagt: Daraus, dass natürlich erzeugte Embryonen vor der Einnistung in den Uterus unerkannt abgehen können, lässt sich nicht schließen, dass wir künstlich erzeugte Embryonen beliebig für verbrauchende Forschung freigeben dürften.

An die Möglichkeiten der Stammzellenforschung, die sich gegenwärtig abzeichnen, knüpfen sich große Heilungshoffnungen und erhebliche wirtschaftliche Erwartungen. Das christliche Menschenbild bekräftigt den Versuch, solche Hoffnungen und Erwartungen zu erfüllen. Denn heilendes Handeln gehört zu den gewiesenen Antworten auf das Gebot, den Nächsten zu lieben. Aber das christliche Menschenbild verhilft zugleich zu dem notwendigen Abstand von der Vorstellung, der Mensch selbst lasse sich durch gentechnische Eingriffe und medizinische Heilerfolge perfektionieren. Der Mensch bleibt ein endliches und sterbliches Wesen, auf Gnade angewiesen, gerecht allein aus Glauben.

Es war Jürgen Habermas, der darauf aufmerksam machte, dass wir bei der Verständigung über solche Fragen des Menschenbildes nicht auf die Erfahrungen und die Sprache der Religion verzichten können. Der Philosoph, der sich selbst als „religiös unmusikalisch“ versteht, macht Gebrauch von der Sprache der Religion und knüpft an die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen an. „Dass der Gott, der die Liebe ist, in Adam und Eva freie Wesen schafft, die ihm gleichen, muss man nicht glauben, um zu verstehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben. Deshalb muss das Gegenüber in Menschengestalt seinerseits frei sein, um die Zuwendung Gottes erwidern zu können. Trotz seiner Ebenbildlichkeit wird freilich auch dieser andere noch als Geschöpf Gottes vorgestellt. Hinsichtlich seiner Herkunft kann er Gott nicht ebenbürtig sein. ... Gott bleibt nur solange ein ‚Gott freier Menschen‘, wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen. Nur solange bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt.“

Habermas anerkennt das Gewicht solcher Überlegungen und fordert geradezu, dass säkulare Mehrheiten in solchen Fragen „keine Beschlüsse durchdrücken“ dürfen, „bevor sie nicht dem Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben; sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können.“ Zu lernen ist insbesondere, dass eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung und der fürsorgenden Zuwendung zueinander nicht verdrängt werden darf durch die Allmacht des Marktmodells und durch eine Vorstellung von Selbstbestimmung, in welcher der einzelne nur noch auf sich selbst bezogen ist und seinem Leben nur durch die Kalkulation des eigenen Vorteils Sinn geben kann.

IV.

Über den Sinn der religiösen Rede in der postsäkularen Gesellschaft hat Jürgen Habermas vor allem deshalb nachgedacht, weil es in erster Linie Christen sind, die mit ausdrücklichem Verweis auf ihren Glauben für die befruchtete Eizelle im Mutterleib wie in der Petrischale den Status eines Trägers von Grundrechten reklamieren. Sie berufen sich dafür auf den in der Gottebenbildlichkeit begründeten offenen Anfang des menschlichen Lebens. Deshalb fordern sie, dass von dem frühesten Moment an, in dem die genetische Festlegung eines bestimmten menschlichen Lebens erfolgt ist, diesem entstehenden menschlichen Leben auch Respekt entgegengebracht wird. Dass dieses Leben sich über verschiedene Stufen organisch entfaltet, bevor es dann durch die Geburt zur Welt kommt, kann und soll nicht daran hindern, auch die frühen Stufen dieses Lebens an der Achtung teilhaben zu lassen, die wir dem Menschen als Person entgegenbringen. Habermas hat sich diese Überlegung zu eigen gemacht und ausdrücklich gefordert, den Embryo „in Antizipation seiner Bestimmung wie eine zweite Person“ zu „behandeln, die sich, wenn sie geboren würde, zu dieser Behandlung verhalten könnte.“

Doch die Frage, welcher moralische Status dem vorgeburtlichen menschlichen Leben zukommt, ist aufs äußerste umstritten. Während die einen in der Menschwerdung des Menschen einen kontinuierlichen Prozess sehen, verstehen andere ihn als ein durch Zäsuren markiertes Geschehen. Unterschiedliche Einschätzungen biologischer Sachverhalte, aber auch unterschiedliche Interessen entscheiden dann darüber, welche dieser Zäsuren als Beginn eines menschlichen Lebens in dem Sinn angesehen wird, dass es am Würde- und Lebensschutz partizipiert. Sechs  Stufen in der Frühentwicklung des menschlichen Lebens werden zu Anknüpfungspunkten für konkurrierende Antworten auf die Frage, von wann an der Mensch ein Mensch ist.

Nach der ersten Antwort nimmt ein menschliches Lebewesen mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle seinen Anfang. Denn damit beginnt eine neue biologische Realität mit einem eigenen Steuerungssystem und Lebensprinzip. Das genetische Programm, aus dem sich dieses Lebewesen entwickelt, ist vollständig gegeben. Also ist mit diesem Anfang ein vollständiges, in diesem Sinn auch individuelles menschliches Leben gesetzt. Wer so argumentiert, sieht in allen folgenden Stufen der Entwicklung dieses Lebewesens keine Zäsuren, mit denen sich eine Veränderung des ontologischen Status verbindet, sondern Markierungen einer organischen Entwicklung.

Eine zweite Betrachtungsweise lässt das menschliche Lebewesen mit der Einnistung in der Gebärmutter um den fünften bis neunten Tag beginnen. Schon die ungenaue Zeitangabe deutet darauf hin, dass die Nidation selbst einen Prozess und nicht eine scharfe Zäsur darstellt. Auch schon vor der Nidation wird das befruchtete Ei von der Mutter ernährt; die hormonelle Umstellung der Mutter kommt in Gang. Die Verbindung mit dem mütterlichen Organismus ist für die Entwicklung des Embryos unersetzlich. Doch das bedeutet nicht, dass die im Embryo angelegte genetische Information durch die Nidation eine Ergänzung erfährt.

Für eine solche hervorgehobene Bedeutung der Nidation wird unter anderem auch vorgebracht, dass nidationshemmende Verhütungsmittel – insbesondere die Spirale – rechtlich und gesellschaftlich anerkannt seien. Man gerate in einen unauflösbaren Wertungswiderspruch, wenn im Blick auf die Emfängnisverhütung die Nidation als Grenze anerkannt, im Blick auf den Status eines in vitro erzeugten Embryos aber geleugnet werde. Freilich kann das auch Anlass zu der Frage sein, nach welcher Seite hin der Wertungswiderspruch aufzulösen ist. Darüber hinaus aber weist der Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus, dass die Spirale in der Regel gar nicht nidationshemmend wirkt, sondern bereits die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle verhindert.

Als dritter Anhaltspunkt für den Lebensbeginn wird der Zeitpunkt genannt, zu dem die Möglichkeit einer Mehrlingsbildung ausgeschlossen ist. Dies ist ungefähr nach dem dreizehnten Tag der Embryonalentwicklung der Fall; insofern verbindet sich dieses Argument insbesondere mit der in Großbritannien zum Gesetz erhobenen Entscheidung, die Forschung an Embryonen in den ersten vierzehn Tagen ihrer Entwicklung freizugeben. Zur Begründung wird vorgebracht, von menschlichem Leben im Sinn eines individuellen Lebens vermöge man erst dann zu sprechen, wenn dieses Leben sich nicht mehr in mehrere Leben teilen könne. Denn „Individualität“ bedeute „Unteilbarkeit“. Dagegen wird freilich eingewandt, dass eine solche Überlegung Individualität mit Singularität verwechselt. Es sei zudem nicht begründbar, dass menschlichem Leben, das sich in mehrere Individuen teilen könne, ein geringerer ontologischer Status zuerkannt werde als den daraus hervorgehenden Individuen selbst.

Eine vierte Überlegung legt den Beginn menschlichen Lebens in den dritten Schwangerschaftsmonat, in dem sich die neuronalen Strukturen des Gehirns ausbilden. Man setzt den Beginn menschlichen Lebens mit dem „Hirnleben“ gleich, so wie man das Ende des menschlichen Lebens mit dem „Hirntod“ eintreten lässt. Hinter solchen Überlegungen steht ein kognitivistisches Bild vom menschlichen Leben; eine Definition des Menschen als animal rationale wird mit bestimmten biologischen Erkenntnissen verknüpft. Gegen eine solche Betrachtungsweise wird zum einen geltend gemacht, dass sie die Probleme der sogenannten „Hirntoddefinition“ unterschätzt. Zum andern wird eingewandt, dass die Lebendigkeit des Embryos vor der Entstehung des Gehirns unzweifelhaft gegeben ist, während beim Hirntoten in der Tat alle Lebensfunktionen zum Erliegen kommen – es sei denn, sie würden künstlich durch intensivmedizinische Maßnahmen aufrechterhalten.

Eine fünfte Auffassung folgt der Intuition, dass das menschliche Leben mit der Geburt beginnt. Denn von der Geburt sagen wir, dass ein Mensch mit ihr ins Leben tritt. Er nimmt Beziehungen auf – zur Mutter und anderen Bezugspersonen zunächst, später zur weiteren Gesellschaft. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird freilich das Lebensrecht des Menschen ganz von seiner Anerkennung durch andere abhängig gemacht. Ein Lebensrecht, das von einer solchen Anerkennung unabhängig ist, wird geradezu geleugnet. Damit wird aber die Unantastbarkeit der Menschenwürde selbst zur Disposition gestellt; sie ist selbst allenfalls eine Zuschreibung, die sich aus den vorausgesetzten Anerkennungsverhältnissen ergibt, in die Menschen nur eintreten können, wenn sie geboren sind. Zu bedenken ist bei dieser Argumentation, dass es einer elementaren moralischen Intuition – und auch der Rechtslage – widerspricht, wenn einem ungeborenen Kind bis zur Geburt jedes eigenständige Lebensrecht abgesprochen wird.

Von einem analogen Einwand wird die Position getroffen, die den Beginn des menschlichen Lebens erst während der ersten Lebensjahre eintreten lässt – dann nämlich, wenn Selbstbewusstsein und damit die Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen und zur Selbstbestimmung sich ausbilden. Alles andere hält Peter Singer für den Ausdruck eines Speziesismus, für den schon die Zugehörigkeit zur biologischen Gattung Homo sapiens für die Erlangung von Lebensrechten ausreicht. Lebensrechte sind jedoch nach dieser Auffassung erst dann und nur für den Fall gegeben, dass ein Mensch aktuell über die Fähigkeit verfügt, für die Gestaltung seines Lebens eigene Präferenzen zu entwickeln und Optionen zu formulieren. Das darauf begründete Lebensrecht besteht auf den frühesten Stufen der menschlichen Entwicklung noch nicht; es besteht ebenso wenig in Fällen schwerster Behinderung, zum Beispiel bei Anenzephalie. Und es kann verloren gehen, wenn ein Mensch durch Krankheit oder Alter die Fähigkeit zur Selbstbestimmung einbüßt. Auch hier gilt, dass unter einer solchen Voraussetzung die Vorstellung von einer unantastbaren Menschenwürde selbst gegenstandslos wird.

Lässt man diese sechs Konzeptionen an sich vorüberziehen, so kann man den Eindruck nur schwer abwehren, dass jede Konzeption, die eine Zäsur in der Entwicklung menschlichen Lebens zum Markstein für den Beginn der Würdeattribution und des Lebensschutzes macht, ein großes Willkürrisiko läuft. Deshalb sollten in der ethischen Abwägung diejenigen Konzeptionen den Vorrang erhalten, die einem solchen Willkürrisiko nicht unterliegen. Das aber ist ohne Zweifel die Konzeption, die mit dem offenen Anfang des menschlichen Lebens und seiner organischen Entwicklung argumentiert. Für sie ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der sicherste Hinweis darauf, dass ein menschliches Leben beginnt. Das Gebilde, das dadurch entsteht, enthält die volle Potentialität zur Entwicklung einer individuellen menschlichen Person. Ihm sollte deshalb der Schutz gewährt werden, zu dem wir jeweils fähig sind. Deshalb verdient insbesondere der in vitro erzeugte menschliche Embryo unseren besonderen Schutz. Schon von diesem Anfang an sollte sichergestellt werden, dass das sich entwickelnde menschliche Lebewesen nicht als Sache behandelt wird, sondern als Person, nicht als verfügbare Biomasse, sondern als ein frühes Zeichen für das Wunder des menschlichen Lebens. Dass sich in einem frühen Embryo noch nicht alle Merkmale menschlicher Personalität ausgeprägt haben, braucht uns an einer solchen Betrachtungsweise nicht zu hindern. Denn es gibt auch andere Zusammenhänge, in denen wir die Personwürde des Menschen respektieren, obwohl dieser Mensch daran gehindert ist, von seiner Personalität Gebrauch zu machen. Was für Behinderung, Krankheit oder Alter gilt, kann auch für die frühen Stufen in der Entwicklung des menschlichen Lebens geltend gemacht werden.

Man muss sich abschließend vor Augen stellen, welche Folgen es haben kann, wenn bestimmten Entwicklungsphasen des menschlichen Lebens dieser Schutz genommen wird. Auf diesen Stufen wird das sich entwickelnde Lebewesen nicht als Person verstanden, sondern als Sache, nicht als „jemand“, sondern als „etwas“. Es kann als Ware betrachtet werden, mit der man grundsätzlich auch müsste handeln können, als ein Rohstoff, den man zu nutzen vermag. So sehr es zutrifft, dass ein ungeborenes menschliches Leben umso stärker an unsere Bereitschaft zur Fürsorge zu appellieren vermag, je näher es der Geburt ist, so sehr trifft es auch zu, dass wir auch auf den frühen Stufen der Entwicklung nicht einfach nur als Sache betrachten können, was ein Mensch werden soll. Deshalb bleibt es nach meiner Überzeugung dabei, dass zur Anerkennung der unantastbaren Menschenwürde auch der Respekt vor der Würde des ungeborenen menschlichen Lebens gehört.

In der aktuellen Diskussion führt eine solche Überlegung zu der Konsequenz, dem Import von menschlichen embryonalen Stammzellen nicht zuzustimmen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat dies als seine Position in einer Stellungnahme vom heutigen Tag noch einmal bekräftigt. Es ist auch meine persönliche Haltung, die ich in die Beratungen des Nationalen Ethikrats eingebracht habe. Wenn der Embryo keine bloße Biomasse ist, sondern am Schutz der Würde des Menschen und seines Lebensrechts Anteil hat, dann sind Eingriffe an menschlichen Embryonen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, nicht zu verantworten. Der Vergleich mit der Praxis des Schwangerschaftsabbruchs kann nicht zu einer Veränderung dieses Urteils führen. Denn die geltende Rechtslage hält gerade fest, dass der Abbruch der Schwangerschaft rechtswidrig ist. Sie nimmt zugleich auf Konfliktlagen Rücksicht, in denen sie den rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch gleichwohl für straffrei erklärt. Das Ausmaß, in dem von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, empfinden viele als erschreckend; insofern muss unser Nachdenken über den Status von Embryonen – damit auch von Föten – uns auch in diesem Feld zur Überprüfung der gegenwärtigen Praxis veranlassen. Aber mit Rücksicht auf eine problematische gesellschaftliche Praxis im Feld des Schwangerschaftsabbruchs die Forschung mit Embryonen freizugeben, erscheint mir als die falsche Konsequenz. Im Gegenteil: Die Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken sollte auch in Zukunft ausgeschlossen bleiben.

Dann aber gerät man in einen Wertungswiderspruch, wenn man dem Import von embryonalen Stammzellen aus dem Ausland zustimmt. Dieser Wertungswiderspruch bleibt auch dann bestehen, wenn dieser Import befristet, an ein Stichdatum für die Entstehung der entsprechenden Embryonen gebunden und mit weiteren Auflagen versehen wird. Auch eine solche mit einschränkenden Bedingungen versehene Entscheidung könnte weitreichende Konsequenzen haben. Die hochgesteckten Heilungshoffnungen, die sich heute an die Stammzellenforschung knüpfen, sollten deshalb durch die Forschung mit adulten und anderen Stammzellen weiterverfolgt werden, deren Verwendung weit weniger problematisch ist.

Für die Frage nach der Unantastbarkeit der Menschenwürde ist es ein sehr spezielles Feld, an dem gegenwärtig die Debatte besonders hitzig geführt wird. Doch was wir unter der Menschenwürde verstehen, wird überhaupt erst klar, wenn es konkret wird. Insofern steht zu hoffen, dass diese Debatte einer größeren Klarheit zugute kommt. Einen Weg zu solcher Klarheit wollte ich Ihnen darlegen. Meine Folgerung heißt: Von einer Unantastbarkeit der Menschenwürde lässt sich nur reden, wenn deutlich ist: sie gilt von Anfang an.