Abschlussgottesdienst der EKD-Synode in der St. Martini Kirche in Braunschweig (Eph 4,15)
Eberhard Renz
Liebe Schwestern und liebe Brüder,
es war ein recht voller Tag, den ich vor bald 40 Jahren mit Bischof Chrysostomos in Kottayam an der Malabaküste in Indien erlebte. Wir hatten uns viel zu erzählen aus dem Leben unserer Kirchen. Er von der Mar Thoma Kirche, deren Namen ich kaum unterzubringen wusste. Und ich von der württembergischen Kirche, deren Platz auf der Erdkugel auch nur geographisch vorstellbar gemacht werden konnte.
Es lag sozusagen in der Konsequenz einer solchen Begegnung, dass Bischof Chrysostomos mich fragte, ob ich nicht am anderen Tag im Sonntagsgottesdienst predigen könnte. Der Platz wurde mir direkt an der "Ikonenwand" zugewiesen, die in der kleinen Gemeinde aus einem großen farbigen Tuch bestand.
Wir feierten miteinander fröhlich Gottesdienst und Abendmahl, eine überaus eindrückliche Erfahrung für mich als jungen Vikar, die ich nie mehr vergessen habe.
Ohne mir dies bewusst zu machen, so denke ich heute, hatte ich etwas davon erlebt, was im Epheserbrief steht: "Wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, Christus."
Zurück in Gurukul, im Theologischen College der Lutherischen Kirche Indiens, war die Begeisterung der Professoren und Studenten über mein Tun ziemlich gebremst. Predigen durchaus, aber am Abendmahl teilnehmen, das war zu weit gegangen, auch für einen Lutheraner württembergischer Prägung.
"Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe."
Liebe, die hatte ich bei der Begegnung mit einem Christen der anderen Konfession gemeint verspürt zu haben. Aber war die Wahrheit dabei auf der Strecke geblieben? Das Leben ist offenbar schneller als die Theologie.
Wie gehen wir damit um? Doch diese Erfahrung von damals stimmt mich immer noch hoffnungsvoll. Sie hat mir - ein wenig zumindest - die Augen geöffnet für das "Eins in Christus", das über unserer Kundgebung steht.
Sie hat mich entdecken lassen, was Karl Heim vor langen Jahren geschrieben hat:
"Es handelt sich nicht darum, dass wir die Gemeinschaft erst schaffen. Die Aufgabe ist vielmehr die, dass uns etwas zum Bewusstsein kommt, was wir durch ein Gottesgeschenk bereits haben. Es gilt, den Zusammenhang, in dem wir stehen, in die Tat umzusetzen."
Die Erfahrung solcher Gemeinschaft in Christus enthebt uns freilich nicht der Aufgabe, über die Unterschiede nachzudenken, die Unterschiede, die zwischen uns, zwischen Kirchen und Konfessionen bestehen. Liebe erspart uns nicht, nach der Wahrheit zu suchen.
"Eins in Christus", das weckt Erwartungen und Hoffnungen. Zu Recht sagt der Untertitel der Kundgebung "Kirchen unterwegs zu mehr Gemeinschaft".
Wir haben - um mit Karl Heim zu reden - vieles nachzuholen, um den Zusammenhang zu begreifen, in dem wir stehen, den großen Zusammenhang Gottes, der unsere vielerlei Wege verbindet unter dem, der das Haupt aller ist, Christus.
Immer noch empfinde ich die bunte Vielfalt zuerst als Reichtum der mancherlei Gnade Gottes (1. Petrus 4,10). Was aus ihr geworden ist, kann freilich auch eine verwirrende Vielfalt sein.
Und deshalb gehört es zu unseren Aufgaben, über Unterschiede nachzudenken, ihre Begründungen zu ergründen, auch ihre Begrenztheiten wahrzunehmen; das "stückweise Erkennen", das schon Paulus für sich in Anspruch genommen hat, auch für uns selbst ernst zu nehmen.
"Verstehst du auch, was du liesest?", das sollten wir nicht aus Besserwisserei fragen, sondern aus dem Interesse daran, worüber sich der andere Gedanken macht; was den beschäftigt und bewegt, dem ich begegne; wenn ich mich in die Lage versetze, in der andere leben, denken und handeln müssen.
Ökumenisches Lernen ist zuerst Hören. Nach der Weisheit der Afrikaner hat uns Gott deshalb zwei Ohren, aber nur einen Mund gegeben.
Wahrhaftig sein in der Liebe, was heißt das aber dann? Es heißt davon ausgehen, dass sich andere ebenso um die Wahrheit bemühen wie wir selbst; das heißt fröhlich miteinander nach der Wahrheit suchen, auch wenn es dabei heiß hergehen kann. Es ist ja nicht ihre, seine, deine oder meine Wahrheit, sondern die Wahrheit des Evangeliums, um die es uns gehen muss.
Christus, das Haupt, das ist die Voraussetzung. "Eins in Christus" ist das Ziel. So ist dies in der Vorrede der Augsburger Konfession gleich zweimal gesagt: "Wie wir alle unter einem Christo sind und streiten, also auch alle in einer Gemeinschaft Kirchen und Einigkeit (zu) leben", und an der zweiten Stelle ist noch hinzugefügt "und Christum bekennen sollen" (Bekenntnisschriften 44,46).
Christum bekennen, das ist das Ziel unseres ökumenischen Bemühens um mehr Gemeinschaft, "damit die Welt glaube".
Unser Zeugnis vor aller Welt, unerschrocken und selbstbewusst, an allen Orten und vor jedermann. Um nicht weniger muss es uns gehen, wenn wir Christus als das Haupt bekennen und ernst nehmen; ihn, dem Gott alles "unter seine Füße getan" hat (1,22).
Aber gehört wird unser Zeugnis in dieser Zeit nur, wenn wir es miteinander laut werden lassen. Zerstritten, gegeneinander, auch nur nebeneinander, werden wir nicht glaubwürdig sein.
"Für eine gespaltene Kirche ist die Welt zu stark" hat Nathan Söderblom schon am Anfang des letzten Jahrhunderts gesagt.
Alle Bemühungen um die Einheit der Kirchen, alles Wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, hat das Ziel, Christus als den Herrn zu bekennen. Die bunte Vielfalt unserer Zeugnisse ist geradezu ein Zeichen für die Größe Gottes, für die Weite der Herrschaft Christi. Dies zu erfassen, sind wir nie fertig. "Wachsen in allen Stücken" ist voller Hoffnung, voller fröhlicher Neugier, ein weiter Raum, ohne Angst vor Neuem.
Als Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, dessen 300. Geburtstag wir in diesem Jahr gefeiert haben, Herrnhut gründete und ganz neue Ordnungen für die Brüdergemeine entwarf, gab es viel Kritik. So bat er 1734 die Tübinger Fakultät um ein Gutachten zur Frage, ob die Brüdergemeine bei ihren "Einrichtungen und bekannter disciplina ecclesiastica verbleiben und dennoch ihre Connexion mit der evangelischen Kirche behaupten könne und solle".
Die Fakultät hat dies damals geprüft und dann ihre Zustimmung zum Ausdruck gebracht mit dem bemerkenswerten Argument, "man müsse auch einmal für die Sache Gottes etwas wagen".
Miteinander wachsen - ich denke, das war so in diesen Tagen - das tun wir zwischen Ost und West in unserem Land. Deshalb freue ich mich darüber, dass gerade aus den Kirchen in den neuen Bundesländern Anstöße kommen, die Zuversicht ausstrahlen: "Minderheit mit Zukunft", "Kirche mit Hoffnung", "Wachsen gegen den Trend".
So können wir uns mit den Gaben, die Gott uns gegeben hat, gegenseitig helfen und Mut machen, gerade bei jenem unerwarteten Wachstum, das die Niedrigen erhöhen, die Schwachen stark, die Armen reich und die Traurigen fröhlich machen kann.
Und einer der großen der Ökumene, Leslie Newbigin, hat am Ende des 20. Jahrhundert äußern können, es sein ein Privileg, in diesem Jahrhundert, in diesem ökumenischen Jahrhundert zu leben.
Wenn Leslie Newbigin etwas zu seiner Person sagen musste, dann hat er in den letzten Jahren sich bescheiden als "retired missionary to India" vorgestellt.
Und noch etwas: Roger Schutz, der Prior der Brüder von Taizé, hat jungen Menschen zugerufen: "Lebe, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es." Davon hängt mehr ab, als uns oft bewusst ist.
"Das Leben der Christen ist die Bibel der Welt." Diese Aussage stammt von Pestalozzi . Was ist an unserem Leben abzulesen? Für mich gehört dazu auch, dass uns Christen in Indonesien oder im Sudan sagen, warum sie in Not und Bedrängnis an ihrem Glauben festhalten.
"Lebe, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist."
"Eins in Christus", d. h. dann, zusammentragen, was wir verstanden haben, miteinander leben, wozu uns die Liebe Christi drängt. Denn dies hat die große Verheißung, auf die uns die Jahreslosung des nächsten Jahres hinweist:
"In Christus liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis" (Kol 2,3).
Amen