Ansprache der Bevollmächtigten des Rates zum Entsendungsgottesdienst für deutsche Diplomaten, die ihren Dienst im Ausland antreten

Prälatin Anne Gidion, Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union in der Französischen Friedensstadtkirche zu Berlin

„Sechs Tage sollst Du arbeiten und all deine Werke tun. Aber am siebten Tag ist der Sabbat des Herrn. Da sollst Du keine Arbeit tun.“

Liebe Entsendungsgottesdienst-Gemeinde,

je schwieriger die Zeiten, desto größer die Sehnsucht nach starken Trost-Worten. In den Büchern Mose, am Beginn der Bibel, steht einer der zentralen Texte. Es gibt ihn in zwei verschiedenen Varianten an zwei Stellen. Zunächst im zweiten Buch Mose, im Buch Exodus, als Teil der großen Erzählung vom Volk Israel auf dem Weg durch die Wüste hin ins gelobte Land. Wir haben es gerade gehört: Gott spricht und lässt Mose die Lebensordnung verkünden. Ich bin der Herr, Dein Gott, der dich aus der Knechtschaft geführt hat. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, keine Bilder, keine Gleichnisse. Danach ein großes „Wehe, wenn!“: Wehe, wenn Du meinen Namen missbrauchst. Wenn Du mich verrätst an die anderen Götter. Mir nicht folgst.

Und dann plötzlich – die himmlische Work-Live-Balance: Sechs Tage sollst Du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebten Tag sollst Du keine Arbeit tun.

Gott hat erst grundlegend gearbeitet – die Fundamente erschaffen und alles, was darauf wohnt und lebt. Und hat dann geruht. Und wir sollen das auch. Da, so heißt es, liegt Segen drauf. Gott hat Himmel und Erde geschaffen, das Meer, alles, was darinnen ist, und ruhte am siebten Tag. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn.

Danach kommen sie alle, die kurzen, knappen, fundamentalen Ansagen für ein Leben vor den Augen von Gott: Du sollst, Du sollst nicht, nicht, nicht. Nicht töten, ehebrechen, stehlen, falsch Zeugnis reden. Nicht begehren. 
So weit, so streng, so klar.

Ich blättere mit Ihnen voraus, in eine andere biblische Zeit. Im fünften Buch Mose kommt das alles nochmal. Mit anderem Zungenschlag und aus anderer Erfahrung mit dem Leben und mit Gott:

Das fünfte Buch Mose heißt auch Deuteronomium, das bedeutet: neuer Bund, neues Gesetz – für jetzt und für immer. Gott schließt – so das erzählerische Konstrukt – noch einmal einen neuen Bund mit seinem Volk. Obwohl der Tempel in Jerusalem zerstört ist, die Bundeslade weg, die Textrollen verbrannt sind und das Volk im Exil lebt. Moses geht wieder auf den Berg und bekommt von Gott wie neu die Gebote mitten ins Herz:

„Und Mose sprach: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut! Der HERR, unser Gott, hat einen Bund mit uns geschlossen am Horeb. Nicht mit unsern Vätern hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.
Er hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet.
Und er sprach: 
Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat, aus der Knechtschaft.
Du sollst …“

Der Dekalog ist von Christenmenschen viel zu lange als eine To-do-Liste empfunden worden, um einen strengen Gott bei Laune zu halten. So hielten es die Väter, und deren Väter. Und wohl auch manche Mütter. Und wir? 
„Nicht mit unsern Vätern (und Müttern) hat der HERR diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.“ Mit dem Ende der fünf Mose-Bücher werden die Gebote aktualisiert. Neu synchronisiert ins Jetzt. In der Bibel selbst. Weniger in ihren Ausführungs- und Unterbestimmungen, Regeln und Verordnungen. Sondern in neuem Sound:
„Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernt sie und bewahrt sie, dass ihr danach tut! 

Mose redet von Gott. Und dieser Gott spricht von Angesicht zu Angesicht zu den Menschen. Aus dem Feuer, auf dem Berg – in Extremsituationen. Die Gebote und Rechte im Zusammenleben der Menschen und im Zusammenleben mit diesem Gott sind ein Bund – das lernen wir von den jüdischen Geschwistern. Und dürfen Teil dieser Beziehung sein. Keine Norm, über deren Klinge es zu springen gilt. Sondern etwas zum Auswendig- und vor allem zum Inwendiglernen. Zum Leben. Zum Tun.

Das Gebot, den Sabbat zu halten, zeigt das so besonders klar – und mich berührt, dass Sie es sich für heute gewünscht haben – diese Tageslosung mitten in aufgescheuchte Zeiten. Weil Gott geruht hat, sollst Du auch ruhen. Wie zutiefst menschlich ist diese göttliche Anweisung: Das Ausruhen vom Schaffen ist Teil der Schöpfung. Die Pause ist Teil der Schöpfung. Die Möglichkeiten zum Atemholen sind es, die Zwischenräume. In all dem Schaffen und Strampeln ein Moment Sendepause. Menschen sind ja auch da, wenn sie nicht auf Sendung sind. Das ist keine vom Betriebsrat errungene Dienstvereinbarung. Das legt von Anbeginn die Spur: Wir sind mehr als das, was wir tun und sagen. Wir sind Beziehungswesen – miteinander und mit Gott – und dazu braucht es die Pause.

Nicht nur damals und in alter Zeit und mit unseren Vätern und Müttern. Sondern hier jetzt, heute. Die wir heute hier sind und leben.

Und wie die Gebote in der Bibel zwei Mal stehen, können sie auch in einem Menschenleben immer neu Bedeutung bekommen.

Das Volk Israel im Exil bekommt seine Gebote neu und interpretiert sie neu. Gerade als die Leute sich darauf einstellen, unbedeutend zu bleiben. Weil ihr Tempel zerstört ist und andere regieren. Just dann kommt die zentrale Zusage in neuer Form, im neuen Bund, neu relevant, mit alt-neuem Auftrag.

Nicht als nostalgische Heldengeschichte von damals, als alles besser war und die Welt noch geordnet. Sondern als je neue Verbundenheit. Zwischen dem Gott, der immer neu liebt. Der die schwierigste Variante gewählt hat, um mit Menschen in Beziehung zu sein: selbst Mensch zu werden.

Manche haben als Kind die Gebote auswendig lernen müssen. Und haben sich mit der Pubertät, mit dem Erwachsenwerden, mit dem Nicht-mehr-Kind-Sein davon getrennt und all das abgestreift mit dem Glauben und der Kirche – wie den kratzenden Pullover von Tante Inge, der endlich zu klein wurde. Und bei Manchem kommt vielleicht später im Leben, erwachsen längst, selbst Elternteil vielleicht und auf einmal vor großen Schritten, Abschieden, Entscheidungen noch einmal neu die Frage: Was trägt eigentlich? Woher weiß ich, was richtig ist für mich und meine Lieben?
In den Geboten, hier und jetzt und immer neu und heute gerade für Ihren Tag, steckt auch der tiefe weise Kern von dem Gott, der sagt: Ich bin der Gott, der dich in die Freiheit geführt hat – deshalb musst und brauchst und wirst Du: nicht töten, wirst Deine Eltern ehren, nicht stehlen, nicht begehren, was dir nicht gehört. Wirst mit den Ärmeren teilen, Dich für Schutzsuchende einsetzen und eingreifen, wo das Recht mit Füßen getreten wird.
Und du wirst Ruhe halten und Ruhe brauchen. Nicht, weil das Überstundenkonto platzt, sondern weil jede Beziehung Zeit und Pflege und Innehalten braucht und die zu Gott, zu meinen Liebsten und die zu mir selbst eben auch. Von Anfang an.

Alles, was dahinter kommt, steht in dem einen Anfang. Ist Hoffnungssprache eines liebenden Gottes.
In den Worten eines Rabbiners liest sich der Zusammenhang von Freiheit und Gebot so: Im Buch Exodus steht zu den Zehn Geboten, dass sie von Gott in Stein (hebr: charut) eingegraben worden seien. Dazu sagen die Rabbinen: Lies nicht charut sondern cherut: Freiheit! Die Gebote gewähren die Freiheit, weil sie das Augenmerk auf die je anderen richten, auf Gerechtigkeit, auf die Gebote als Garanten der Freiheit. Und der Ruhe mittendrin. Den Schabat mittendrin.

All das wünsche ich Ihnen. Schabat und Cherut. Tiefe Herzensruhe und Freiheit.

Auf all Ihren Wegen.

Heute und immer.

Amen.