Predigt im evangelischen Fernsehgottesdienst am 1. Weihnachtsfeiertag 2020, aus St. Matthäus, München
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Es gilt das gesprochene Wort
Warum eigentlich berührt uns die Weihnachtsgeschichte Jahr für Jahr so sehr im Herzen? Mir jedenfalls geht es so. Und: ich höre sie in jedem Jahr anders. Als Kind hat mich das Jesuskind in der Krippe besonders angesprochen. Als junger Familienvater war es die Geburt des Kindes unter so schwierigen Umständen. Später wurde mir wichtig, wie die Hirten als arme einfache Menschen die ersten sind, die die frohe Botschaft hören.
Dieses Jahr sind es besondere Gefühle, mit denen ich, mit denen wir, die Geschichte der Geburt Jesu hören. Da sind Angst, Sorge, Fragen: Wie lange wird dieses Virus uns noch im Griff haben? Da ist Trauer über vieles, was verloren gegangen ist. Manche haben einen lieben Menschen verloren, der heute an Weihnachten ganz besonders fehlt. Da ist Müdigkeit: Dieser Ausnahmezustand verlangt uns wirklich viel ab. Und: Da ist eine neue Nachdenklichkeit, mit der wir Weihnachten feiern: Manches, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben, erkennen wir jetzt ganz neu in seinem Wert – und wir lernen viel: Dankbar sein. Das Wichtige vom weniger Wichtigen unterscheiden.
So vieles von dem, was wir in diesem Jahr erlebt haben, spiegelt sich in der Weihnachtsgeschichte: Josef und Maria sind zu einer Volkszählung aufgebrochen, aufgebrochen, um sich „schätzen zu lassen“. Ein Weg ins Unbekannte. Und wir sind heute von morgens bis abends umgeben von der Welt der Infektionszahlen, der Inzidenzwerte, der R-Werte und der Prozentsätze der Übersterblichkeit. Und wissen nicht, wohin das führen wird.
Der Herbergsvater in Bethlehem weist das Paar ab, weil – wie es bei Lukas heißt - kein Raum in der Herberge ist. Und wir denken an all die Gasthäuser, Hotels und Pensionen, die in diesen Tagen pandemiebedingt niemanden aufnehmen dürfen.
Jesus wird als verletzliches Kind in einfachsten, einer Geburt unwürdigen Verhältnissen geboren. Und wir denken an die Verletzlichkeitserfahrung, die wir machen, die eine ganze Gesellschaft, eine ganze Welt gerade macht: durch dieses nur im Mikroskop sichtbare kleine Virus.
Die Hirten auf dem Felde wachen, unter freiem Himmel bei ihren Schafen. Und so manchen Moment hadern sie mit ihrem Schicksal. Und ich denke an all die Menschen, die durch die Pandemie in Not geraten sind, oder deren Not sich durch die Pandemie noch verschärft hat. Ich denke an die Obdachlosen, mit denen wir hier in dieser Kirche gestern Gottesdienst gefeiert haben, die an diesem Weihnachtsfest kein warmes Zuhause haben und dieses Jahr auch nicht wie sonst hier im großen Gemeindesaal in einer Gemeinschaft mit vielen anderen ein Festessen erleben können.
Und ich denke an die, die ein Dach über dem Kopf haben, vielleicht sogar ein schönes, aber deren Seele obdachlos ist, die einsam sind und denen das an diesem Weihnachten mit all den Einschränkungen noch viel mehr weh tut.
Engel verkünden den Frieden auf Erden. Wir hören diese Botschaft voller Zweifel angesichts all der Kriege, die vor unseren Augen stattfinden – in Bergkarabach, in Äthiopien und immer noch in Afghanistan und in Syrien. Die Engel sagen: „Fürchtet Euch nicht!“ Und wir sehnen uns danach, dass ihr Ruf in unseren Herzen wahr wird. Denn zum Fürchten gibt es momentan mehr als genug.
Und jetzt stehen wir selbst hier an der Krippe.
Lesung Predigttext
Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König! Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden’s mit ihren Augen sehen, wenn der Herr nach Zion zurückkehrt. Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst. Der Herr hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.
Ein Freudenbote inmitten der Zerstörung und des Unheils! Die Trümmer sollen feiern!
Und wir fragen uns: Wie soll das gehen? Wie soll man in Trümmern jubeln?
Viele Trümmer habe ich in diesem Jahr gesehen. Im Juli habe ich ein Pflegeheim besucht. Eine Angehörige sagte: „Wochenlang konnte ich meine Mutter nicht besuchen. Und als ich dann wieder zu ihr konnte, hat sie mich nicht mehr erkannt." Mir ist das sehr nahegegangen.
Ich denke an die Besitzerin eines Hotels. Im Frühjahr habe ich dort als fast einziger Gast einmal übernachtet, und sie sagt mir: „Mehr als zwei weitere solche Monate schaffe ich nicht mehr.“ Und ich frage mich: Wird sie es jetzt noch schaffen?
Ich habe mit KiTa Mitarbeiterinnen gesprochen, die ihre KiTa-Kinder mit so viel Phantasie und Liebe durch die Ausnahmemonate bis heute gebracht haben und die jetzt einfach sehr müde sind. Werden sie es noch weiter durchhalten? Ich hoffe es so sehr.
Trümmer gibt es auch aus anderen Gründen. Ich habe mit Menschen gesprochen, deren Seelen in Trümmern liegen, weil ihnen sexualisierte Gewalt angetan wurde – von Menschen, zu denen sie eigentlich Vertrauen gefasst hatten. Und das im Raum der Kirche, in dem sie sich doch eigentlich hätten sicher fühlen dürfen. Wie soll jubeln, wer so verwundet worden ist!?
Ich habe mit Menschen gesprochen, die weit weg von hier im Irak aus den Trümmern ihrer Dörfer oder Städte geflohen sind, die auch in Pandemie-Zeiten hier in engsten Unterkünften leben, und immer noch auf eine Arbeitserlaubnis warten.
Wir haben in Deutschland in diesem Jahr an das Ende des Zweiten Weltkriegs gedacht. Vor 75 Jahren lagen viele Regionen der Welt in Trümmern. Bombenstürme hatten viele Städte in Trümmer gelegt. Auch hier in München legten besonders 1944 zigtausende Bomben weite Teile der Stadt in Schutt und Asche. Hunderttausende Obdachlose und Verletzte irrten durch die Trümmer. Noch Jahre nach Kriegsende waren die Trümmer zu sehen.
Da war kein Jubel. Aber: Aus den Trümmern der Stadt entstand neues Leben. Der Friede zog ein – lang erwartet und ersehnt. Die Friedensboten hatten auch in der Zeit der Hoffnungslosigkeit nicht aufgehört, ihre Botschaft zu verkünden. Und - sie haben Recht behalten. Seit 75 Jahren leben wir in Deutschland und weiten Teilen der Welt ohne Krieg und ohne Trümmer und hier in Deutschland auch ohne Diktatur. Was für ein Geschenk!
Wie kann aus Trümmern etwas Neues entstehen? Ich habe den Keim dazu bei meinen Gesprächen immer wieder rausgespürt. Eine Stationsleiterin im Pflegeheim sagte: "Es war megastressig. Wir Pflegekräfte waren Seelsorger, Kummerkasten und Prellbock. Körperlich und psychisch sind wir hier alle am Anschlag. Trotzdem sind wir stolz, dass wir es gemeinsam geschafft haben.“ Und sie fügte hinzu: „Die Beziehungen zu den Bewohnern haben sich stark verändert. Die Menschen sind offener geworden und lechzen nach Berührung.“
Kann aus der Ausnahmesituation eine neue Offenheit füreinander entstehen. In der wir die Verletzlichkeit, die wir gerade so schmerzlich erfahren, miteinander teilen? In der wir die Müdigkeit, die wir spüren, nicht verstecken, sondern offenbaren? Und einander stärken und trösten? Können wir die Erfahrung machen, dass Trümmer, so wie das nach dem Krieg der Fall war, auch zusammenschweißen und zu Solidarität und umso stärkerem Lebenswillen führen können?
Trümmer haben nicht die Macht, den Neubeginn zu verhindern. Was zerstört ist, kann in ganz unerwarteter Form neu werden. Aber es kostet fast übermenschliche Anstrengung. Die Trümmer, die unsere Seele belasten, sind schwer.
Mit all diesen Trümmern stehen wir jetzt an der Krippe.
Gott hat sein Volk getröstet und erlöst… aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.“
Wird das so sein? Werden wir das einmal im Rückblick so sagen können? Die Pandemie stellt uns vor eine Frage, die auch die Menschen vor 2500 Jahren im Exil beschäftigt hat: wo ist – haben sie gefragt - der Gott eigentlich, auf den wir früher vertraut haben, den wir gefeiert haben? Hat er sich zurückgezogen? Ist er schlicht irrelevant geworden? Ist er stumm und wird er stumm bleiben?
Die Israeliten im Exil in Babylon haben gezweifelt. Diese Fragen haben sie umgetrieben. Aber sie haben Gott nicht aufgegeben. Sie haben ihm ihr Leid geklagt. Der Psalm 137 ist ein berührendes Zeugnis über diese Zeit: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten… Wie könnten wir des Herrn Lied singen in fremdem Lande?“
So ähnlich fragen auch wir uns: Wie können wir jetzt jubeln und singen in einem Leben, das so fremd geworden ist? Wenn die Seele sich nach Heimat sehnt? Und da kommt jetzt dieses Weihnachtsfest „Und die Botschaft von der Freude an einer neuen Heimat, die hier plötzlich laut wird und die an diesem Weihnachtsfest in den Herzen der Menschen einzieht – ob sie traurig sind oder froh. Es gibt eine innere Kraft, die immer da ist, die mich immer begleitet, die mir immer wieder aufhilft, egal wo ich bin, egal wer ich bin und egal ob ich sie jetzt gerade spüren kann. Es ist eine Kraft des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung. Und sie hat einen Namen. Sie hat ein Gesicht. Sie ist Mensch geworden.
An Weihnachten hören wir eine Botschaft, die stärker ist als alles, was uns jetzt runterziehen will und auch stärker ist als jedes Virus: Jesus Christus ist deine Heimat. Und deswegen darfst Du an diesem Weihnachten 2020 jubeln, vielleicht nicht einmal laut, vielleicht ganz leise. Aber du darfst jubeln. Weil du mit seiner Hilfe durch diese Zeit kommen wirst. Weil du dann irgendwann auch einstimmen können wirst in diese Hymne einer neuen Heimat: „Seid fröhlich und jubelt miteinander, (…) der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.“
Freudenboten sind schon unterwegs. Ich habe mit so vielen gesprochen in den letzten Monaten. Z.B. mit den Diakoniemitarbeiterinnen im Altenheim: wie sie für die Bewohner*innen ihres Heims Skype und WhatsApp eingerichtet haben. Wie die erst skeptisch waren gegenüber diesen elektronischen Kästchen mit polierter Glasplatte. Und wie sie dann reagiert haben, als plötzlich der Sohn, die Tochter oder der Enkel auf dieser Glasplatte auftauchte und sie von ihnen fröhlich gegrüßt wurden, wie sie sich mit ihnen wie im „normalen“ Leben unterhalten konnten - obwohl sie doch so viele Kilometer entfernt waren. Es war – so haben mir diese diakonischen Freudenbotinnen berichtet, wie ein kleines Wunder, als sich auf dem Gesicht von schwer dementen Menschen spontan ein Lächeln abzeichnete. Und Manche ihren Angehörigen zuwinkten und sich freuten, sie zu sehen.
Ja, liebe Gemeinde, die Freudenboten sind da an diesem Weihnachten 2020. In der Nachbarwohnung, in den Krankenhäusern und Heimen, hinter der Theke in der Bäckerei. In dem Licht, das ein Kind weitergibt und das in der Dunkelheit scheint. Sie sind da, wo Menschen getröstet werden und neue Hoffnung schöpfen.
Halten wir die Augen offen für diese Freudenboten und für den einen Freudenboten unseres Lebens: Jesus Christus. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.
Amen.