„Zeitansage“ beim EKD-Jahresempfang in Berlin - Kurschus: „Wir sind der immer neuen Krisen müde“
Ratsvorsitzende wirbt in ihrer Johannisrede dafür, Frieden und Sicherheit nicht gegen Klima- und Umweltschutz auszuspielen
Für einen besonnenen, umsichtigen Umgang mit den Herausforderungen durch immer neue Krisen hat die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Annette Kurschus, in ihrer Rede anlässlich des Johannisempfangs der EKD in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin geworben. Gegenwärtig mache sich in Kirche und Gesellschaft eine gereizte und latent aggressive Erschöpfung breit. „Wir sind der immer neuen Krisen überdrüssig“, sagte Kurschus in Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sowie zahlreichen Bundespolitiker*innen. Zusätzlich zum Krieg gegen die Ukraine und der Bedrohung durch Corona sorgten die Transformationsprozesse in Sachen Mobilität, Digitalisierung und Klimaschutz für Überforderung und hoch emotionale Wallungen. „Wenn Wallung der Gemüter auf körperliche und seelische Erschöpfung trifft, dann wird´s brenzlig. Hoch explosive Begegnungen können daraus entstehen, die hier und da ein Gift freisetzen, das lange nachwirkt.“ Dabei dürfe es nicht bleiben, so die Ratsvorsitzende: „Frönen wir nicht dem Verdruss!“
In ihrer mit „Eine Zeitansage im Sommer“ überschriebenen Rede warnt Kurschus vor dem Trugschluss, „die Welt in den Griff zu bekommen und das Unverfügbare verfügbar zu machen“. Aus christlicher Perspektive sei die Unverfügbarkeit weder Fluch noch böses Schicksal, sondern gehöre zur menschlichen Existenz. „Es ist weise und redlich, wenn wir zugeben, in den großen Fragen von Leben und Tod, Krieg und Frieden keine leicht fertigen und darin leichtfertigen Antworten zu haben.“ Zwar fordere das „neue Kriegs- und Seuchenzeitalter“ dazu heraus, Entscheidungen zu treffen und Fragen zu beantworten, „aber ein simples Ja oder Nein darf die komplizierte Wirklichkeit, der die Antwort gelten und standhalten soll, nicht eindampfen und beschneiden.
Kurschus: „Könnte es auch im gegenwärtigen Streit um Krieg und Frieden die Aufgabe von Christinnen und Christen sein, sich als Anwälte und Anwältinnen der Unverfügbarkeit zu verstehen? Also ausdrücklich dem Nichtwissen das Wort zu geben, der Skepsis ihr Recht einzuräumen, dem Zweifel den Platz freizuhalten? Ich meine: ja, unbedingt.“ Aporien und Dilemmata müssten akribisch benannt werden, so die Ratsvorsitzende. „Die Orientierung an Jesu Wort verlangt danach, immer neu auszuloten, wie wir das Recht und die Würde von Menschen in Not verteidigen und uns zugleich für Frieden einsetzen können. Das ist mühsam! Und es führt in eine bisweilen unauflösbare Spannung, in der es oft kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“ gibt“, so die Ratsvorsitzende.
Gleichzeitig dürften Fragen nach Frieden und Sicherheit nicht ausgespielt oder aufgerechnet werden gegen Fragen des Klimaschutzes und der Bewahrung der Schöpfung. „Klimawandel ist der größte Hungertreiber. Klimapolitik ist auch eine Frage von Gerechtigkeit und Sicherheit. Wenn Menschen um ihre Existenzgrundlage kämpfen, wenn es so kommt wie prognostiziert, nämlich dass sich bis 2030 rund 700 Millionen Klimaflüchtlinge auf den Weg machen werden, um ihr Leben zu retten, dann steigt die Kriegsgefahr. Deshalb halte ich es für kurzsichtig, an der einen Seite zu sparen und alles in die Aufrüstung zu stecken. Klima- und Sicherheitspolitik, die ihren Namen verdient, wird nie zu Lasten, sondern stets zugunsten der Armen in aller Welt und auch zugunsten der Armen in unserem Land geschehen können und müssen. Darauf werden wir als Christ*innen achten, und daran werden wir erinnern. Auch und zuallererst uns selbst. Alles hängt mit allem zusammen, und darum brauchen wir sie so dringend: himmelweite Hoffnung und unerschöpfliches Vertrauen“. Gerade in Krisen- und Kriegszeiten sei es „rettungsvoll realistisch, wenn wir mit der Möglichkeit des Unmöglichen rechnen – also damit, dass Gott in die Welt kommt. Unverfügbar. Unvermittelt. Unverhofft“, sagte Kurschus.
Der Einladung zum Jahresempfang am Berliner Gendarmenmarkt waren zahlreiche Gäste aus Politik, Kirchen, Kultur und Wirtschaft gefolgt. Im Rahmen des Empfangs wurde der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, Prälat Martin Dutzmann, in den Ruhestand verabschiedet. Dutzmann hatte das Amt des Bevollmächtigten seit Oktober 2013 inne. Zuvor war er Bischof für die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr und Landessuperintendent der Lippischen Landeskirche. Bis zur Wahl einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers übernimmt der stellvertretende Bevollmächtigte, Stephan Iro, seine Aufgaben.
Die Johannisrede der Ratsvorsitzenden wird im Internet live gegen 18 Uhr übertragen unter www.ekd.de/johannisempfang2022.
Hannover/Berlin, 22. Juni 2022
Pressestelle der EKD
Carsten Splitt
Komplette Rede von Annette Kurschus zum Johannesempfang in Berlin