Gemeinsame Stellungnahme zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren

Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin und der Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union

Gemeinsame Stellungnahme
des Kommissariats der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin
und
der Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union
zum Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern und für Heimat eines Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren


Die beiden großen Kirchen in Deutschland danken dem Bundesministerium des Innern und für Heimat für die Möglichkeit, zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren Stellung zu nehmen. Aufgrund der Kürze der für die Stellungnahme zur Verfügung stehenden Zeit, die zusätzlich in die Ferienzeit fällt, werden nur einige wesentliche Punkte des Gesetzesentwurfes kommentiert. Zu weiteren Vorschlägen behalten sich die beiden großen Kirchen vor, zu einem späteren Zeitpunkt Stellungnahme zu beziehen.

Allgemeine Erwägungen

Der Gesetzesentwurf bezweckt eine auch aus kirchlicher Sicht wünschenswerte Beschleunigung des Asylprozesses und des Asylverfahrens und enthält Ansätze, die, wie zum Beispiel die Abschaffung der anlasslosen Widerrufsprüfung, eine signifikante und effiziente Entlastung der Verwaltung und damit auch der Gerichte versprechen. In dem Entwurf werden aber auch zahlreiche Maßnahmen vorgeschlagen, die grundlegende Verfahrensgarantien der Asylbewerbenden beschneiden, ohne dass diese Vorschläge überhaupt geeignet sind, die gewünschte Verfahrensbeschleunigung zu erreichen.

Bevor die Regelungen im Einzelnen betrachtet werden, möchten die Kirchen hervorheben, dass es Verfahrensbeschleunigungen nicht zu jedem Preis geben sollte. Je höher der sachliche Gehalt des als verletzt behaupteten Rechtsgutes ist, desto höher sind die Anforderungen an den wirkungsvollen Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.[1] Im Asylrecht geht es regelmäßig um das hohe Rechtsgut des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit im Sinne von Art. 2 S. 1 GG. Bei Beschleunigungsvorhaben im Bereich des Rechtsschutzes im Asylrecht sollte deswegen immer auch abgewogen werden, dass zwar Einschränkungen der Verfahrensgarantien von Schutzsuchenden zu einer Beschleunigung der Verfahren führen können, der Preis aber ist, dass zugleich die Effektivität des Rechtsschutzes eingeschränkt wird.

Aus kirchlicher Perspektive ist wünschenswert, dass das Sonderverwaltungsrecht im Ausländerrecht wieder mehr an das allgemeine Verwaltungsrecht angeglichen wird und zum Beispiel die engen Grenzen der Zulassung zur Berufung (§ 78 Abs. 3 AsylG) wieder regulär erweitert werden (§ 124 VwGO). Die Verkürzung der Rechtsmittelinstanzen – auch mit dem Ziel der Beschleunigung – hat im Ergebnis zu einem Mangel an Leitentscheidungen geführt. Diese Folge nun mit einer neuen Sonderregel, zum Beispiel durch eine Tatsachenrevisionsinstanz beim Bundesverwaltungsgericht, zu kompensieren, ist systemfremd und führt nach Auffassung der Kirchen nicht zu der gewünschten Verfahrensbeschleunigung bzw. Reduktion der Verfahrenszahlen.

In Bezug auf die Asylverfahrensberatung (§ 12a AsylG-E) möchten die Kirchen keine eigene Stellungnahme abgeben, sondern auf die Stellungnahmen der beiden kirchlichen Werke Caritas und Diakonie verweisen und sich diese zu eigen machen.

Im Einzelnen
Videodolmetschen (§ 17 Abs. 3 AsylG-E)

Der in § 17 Abs. 3 AsylG-E vorgesehene Einsatz von Dolmetschenden im Asylverfahren per Video ist einerseits wegen seiner Flexibilität zu begrüßen, andererseits in seiner Allgemeinheit abzulehnen. Aus dem Normtext selbst sollte klar hervorgehen, dass Video-Dolmetschen eine absolute Ausnahme bleiben sollte, auf die nur in zwingenden Situationen zurückgegriffen werden darf, so wie es die Gesetzesbegründung bereits andeutet.[2] Die Kirchen haben in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass nicht nur in komplexen Asylverfahren, wie beispielsweise der Anerkennung aufgrund religiöser Konversion, die physische Anwesenheit eines Dolmetschenden die Qualität der Asylverfahren erheblich steigert: Neben technischen Schwierigkeiten lassen sich manche Nuancen der Kommunikation kaum erfassen, wenn die übersetzende Person lediglich per Video-Tool zugeschaltet ist. So bedarf es beispielsweise bei spontanen Beiträgen der Antragstellenden ebenso wie bei Rück- oder Verständnisfragen einer besonderen Sensibilität und Aufmerksamkeit. Die Kirchen würden es daher sehr befürworten, wenn der Ausnahmecharakter des Vorschlages im Gesetz selbst auftauchen würde, zum Beispiel durch den Zusatz „nur in Ausnahmefällen“ oder „nur in Fällen, in denen eine Vor-Ort-Übersetzung nicht erreichbar war“.

Absehen von der Anhörung bei Unmöglichkeit (§ 24 Abs. 1 S. 6 AsylG-E)

Die Kirchen sehen keinen Bedarf für den geplanten Eingriff in das Asylverfahren mit dem die Anhörung, das Kernstück des Asylverfahrens, abbedungen werden kann: Nach der Neuregelung kann gemäß § 24 Abs. 1 S. 6 AsylG-E von der Anhörung abgesehen werden, wenn sie aufgrund dauerhafter Umstände unmöglich ist. Grundlage der Asylentscheidung ist dann die Aktenlage und gerade nicht das, was sich aus der persönlichen Vernehmung und Begegnung mit dem Asylsuchenden ergibt. Der drohende Schaden für die Antragstellenden, wenn aufgrund der neuen Regelung fälschlicherweise auf die Anhörung verzichtet wird, ist riesig. Im Gegensatz dazu bietet die geringe, vom Gesetzgeber lediglich geschätzte Zahl von Fällen, in denen tatsächlich keine Anhörung stattfinden würde,[3] keine tragfähige Grundlage, um so wichtige Kernelemente des Asylrechts wie die Anhörung zur Disposition zu stellen. Zudem handelt es sich bei Art. 14 Abs. 2 S. 1 Buchstabe b) der Asylverfahrensrichtline[4] nur um eine optionale Möglichkeit, die nicht in nationales Recht umgesetzt werden muss. In jedem Fall sollte von der Anhörung nur mit dem Einverständnis des Antragstellenden oder dessen Bevollmächtigten abgesehen werden können.

Hinweis auf § 14 VwVfG und Fragerecht in der Anhörung nur am Ende (§ 25 Abs. 8 AsylG-E)

Die Kirchen begrüßen den klarstellenden Hinweis auf § 14 (insb. Abs. 4) VwVfG in § 25 Abs. 8 S. 1 AsylG-E, wonach Beistände im Asylverfahren zugelassen sind und anwesend sein dürfen. In vielen Fällen gibt die Begleitung Schutzsuchenden ein Gefühl von Sicherheit in einer für sie fremden Situation und Umgebung. Viele kirchliche ehrenamtlich Engagierte begleiten Antragstellende in die Anhörung und berichten, dass die Asylbewerbenden bereits durch ihre Präsenz ruhiger sind.

Problematisch hingegen ist die Idee, Begleiter – also Beistände und Rechtsanwälte gleichermaßen – per se erst am Ende der Anhörung das Wort zu erteilen (vgl. §25 Abs. 8 S. 2 AsylG-E). Die an dieser Stelle wenig ausführliche Gesetzesbegründung[5] verweist lediglich auf die Umsetzung der Asylverfahrensrichtlinie (Art. 23 Abs. 3 und 4). Allerdings handelt es bei der entsprechenden Vorschrift lediglich um eine „Kann-Vorschrift“, sie ist also keinesfalls zwingend in deutsches Recht zu übernehmen. Warum nun diese – dem deutschen Vertretungsrecht völlig systemfremde – Regelung eines späten Beteiligungsrechts ohne Begründung eingeführt wird, erschließt sich den Kirchen nicht. Das dem Gesetzesentwurf zugrunde liegende Ziel der Beschleunigung des Verfahrens wird durch diese Neuregelung nicht erreicht und führt zu keiner Verbesserung der Verfahrensökonomie: Wenn die bevollmächtigten, in der Regel aktenkundigen Rechtsanwälte oder auch Beistände erst am Ende der Anhörung auf einen besonders wichtigen Aspekt hinweisen können, wird dies die gesamte Anhörung verlängern. Einfacher ist es, wenn direkt auf Missverständnisse (z.B. beim Dolmetschen) hingewiesen werden kann – dies dient der Qualität der Anhörung und führt letztlich zu weniger Gerichtsverfahren. Im Übrigen bleibt die entscheidende Person Herrin des Verfahrens und kann im unwahrscheinlichen Fall, dass Begleiter durch ihre Beiträge nicht der Qualität des Verfahrens dienen, Einhalt gebieten. Wir plädieren deshalb dafür, § 25 Abs. 8 S. 2 AsylG-E aus dem Entwurf zu streichen.

Sind Bevollmächtigte und Beistände verhindert, soll die Anhörung gleichwohl stattfinden (§ 25 Abs. 8 S. 3 AsylG-E). Dies konterkariert das vorgesehene Recht der Asylsuchenden auf einen Beistand. Wie aus der Begründung hervorgeht,[6] wird nur mit einer sehr kleinen jährlichen Zahl an Fällen gerechnet, in denen ein Termin möglicherweise verlegt werden müsste. Die Kirchen plädieren deshalb auch hier dafür, auf die Änderung in § 25 Abs. 8 S. 3 AsylG-E zu verzichten.

Keine Abschiebungsverbote prüfen bei unzulässigen Asylfolgeanträgen (§ 31 Abs. 3 S. 2 AsylG-G)

In § 31 Abs. 3 S. 2 AsylG-E ist vorgesehen, dass bei Ablehnung eines Asylantrages wegen Unzulässigkeit keine Abschiebungsverbote mehr geprüft werden, wenn diese bereits vom BAMF an anderer Stelle geprüften worden sind. Dabei wird es sich im Wesentlichen um Folgeverfahren handeln. Die Kirchen halten diese Regelung für unsachgemäß, weil sich die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen von Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG) bis zur Durchführung eines Folgeverfahrens oftmals ändern, denn die Entwicklungen in den Herkunftsländern sind dynamisch. Exemplarisch zeigt sich dies gerade bei abgelehnten Asylbewerbenden aus Iran und Afghanistan deutlich: In Ihrem Erstverfahren wurde die Lage in ihrem Herkunftsland anders bewertet als derzeit. Heute würde eine Prüfung richtigerweise zu einem Abschiebungsverbot führen. Die Frage, ob Abschiebungsverbote vorliegen, ist allein schon deshalb stets zu prüfen, weil sich diese Pflicht aus Art. 3 EMRK ergibt.

Zwar kann eine Prüfung von Abschiebungsverboten über ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG angestrebt werden. Dann gilt allerdings nicht, dass die Abschiebung erst nach Mitteilung des BAMF über das (Nicht-)Vorliegen von Abschiebungsverboten vollzogen werden darf (§ 71 Abs. 5 S. 2 AsylG). Um einen vergleichbaren Abschiebungsschutz zu wahren, müssten Betroffene die Gerichte anrufen im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO). Die beabsichtigte Entlastung der Justiz würde damit nicht erreicht.

Widerruf und Rücknahme (§§ 72 – 73b AsylG-E)

Die Änderungen in Bezug auf § 72 AsylG-E begrüßen die Kirchen grundsätzlich, weil sie die aktuelle Rechtslage um das Erlöschen des internationalen Schutzes von Gesetzes wegen wesentlich besser darstellen, als das bisher der Fall war.

Bei der Neuformulierung der Gründe für Widerruf und Rücknahme bezieht sich der Gesetzesentwurf in § 73 Abs. 1 S. 2 AsylG-E insbesondere auf Art. 11 Abs. 1 der Qualifikationsrichtline[7], der nicht ganz wortgetreu übernommen wurde. Allerdings wäre eine Ergänzung um die konkretisierten Vorgaben, wann laut Bundesverwaltungsgericht „freiwillige Unterschutzstellung“ im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG-E vorliegt, wünschenswert.[8]

Auch die Neuformulierung des § 73 AsylG-E dient der Rechtsklarheit und Lesbarkeit. Im Ergebnis ist es sehr zu begrüßen, dass Widerruf und Rücknahme nur noch anlassbezogen stattfinden sollen. Die Regelüberprüfungen haben nur in den wenigsten Fällen tatsächlich zum Widerruf geführt.[9] Daher führt die Abschaffung zu einer Entlastung des BAMF, ohne dass es zu Qualitätsmängeln kommt. Auch für die Anerkannten ist das zu begrüßen, da die sogenannten „Mitwirkungsaufforderungen“, zum Beispiel in Konversionsfällen, zu einer hohen, in der Regel unbegründeten Verunsicherung bei Anerkannten geführt haben.

Die im Zuge der Einführung der anlasslosen Widerrufsprüfung geregelten umfangreichen Mitwirkungspflichten werden nicht geändert. Wir regen an, diese zu überprüfen und auf ein realistisches Maß zu reduzieren.

Verzicht auf mündliche Verhandlung im Ermessen des Gerichts (§ 77 Abs. 2 AsylG-E)

Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann bisher im Einverständnis mit den Parteien auf mündliche Verhandlung verzichtet werden (§ 101 Abs. 2 VwGO). Dies soll das Gericht nun alleine entscheiden können, sofern die klagende Partei anwaltlich vertreten ist und die mündliche Verhandlung nicht ausdrücklich beantragt (§ 77 Abs. 2 AsylG-E). Die mündliche Verhandlung ist das Kernstück des gerichtlichen Verfahrens und sollte nur im Ausnahmefall und nur im Einvernehmen mit den Parteien verzichtbar sein. Die Kirchen regen daher an, von der Änderung abzusehen und bei der geltenden Regelung zu bleiben.

Modifizierung des Beweisantragsrechts im Asylgerichtsverfahren (§ 77 Abs. 4 AsylG-E)

Die Kirchen lehnen den Vorschlag ab, Rechtsschutzbegehrenden im Asylverfahren die Möglichkeit zu nehmen, auf die Ablehnung eines Beweisantrages im Gerichtsverfahren angemessen zu reagieren. Der Gesetzesentwurf sieht nämlich vor, dass die Begründung der Ablehnung des Beweisantrages erst in der das Verfahren abschließenden Entscheidung auftauchen kann (§77 Abs. 4 AsylG-E). Durch diese Neuregelung werden die Prozessrechte der betroffenen Personen unverhältnismäßig stark eingeschränkt und es wird vom Grundprinzip des § 86 Abs. 2 VwGO zu stark abgewichen. § 86 Abs. 2 VwGO normiert, dass ein in der mündlichen Verhandlung gestellter Beweisantrag nur durch Beschluss, der zu begründen ist, abgelehnt werden kann. Auch in ständiger Rechtsprechung des BVerwG[10] ist geklärt, dass dieser Beschluss vor der Urteilsverkündung eröffnet werden muss. Sinn dieser Bestimmung ist es, den Antragstellenden die zur Ablehnung seines Antrags führenden Erwägungen des Gerichts zur Kenntnis zu bringen, um ihm zu ermöglichen, etwa einen neuen oder veränderten Beweisantrag zu stellen oder im abschließenden Vortrag sich mit der im Beschluss zutage getretenen Auffassung des Gerichts auseinanderzusetzen. Die in der Begründung[11] angegebene Entlastung der Gerichte, weil so „rechtsmissbräuchliche Beweisanträge“ nicht mehr zur Verfahrensverschleppung führen können, teilen die Kirchen nicht: Die Ablehnung offensichtlich rechtsmissbräuchlicher Beweisanträge wird regelmäßig nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, alle anderen, länger dauernden Behandlungen von Beweisanträgen sind insoweit nicht missbräuchlich und gerade Ausdruck des Rechts auf rechtliches Gehör.

Die Neuregelung in § 77 Abs. 4 AsylG-E sollte deswegen nicht übernommen werden.

Bundesverwaltungsgericht als Tatsacheninstanz (§ 78 Abs. 8 AsylG-E)

Die Kirchen gehen davon aus, dass es zu keiner Beschleunigung der gerichtlichen Verfahren führen wird, eine Tatsacheninstanz über den Weg der Revision beim Bundesverwaltungsgericht einzuführen. Dies würde vielmehr den wirkungsvollen Rechtsschutz der Betroffenen begrenzen. Sie schlagen statt einer systemfremden Neuregelung vor, die Berufungszulassung durch die vollständige Streichung des § 78 AsylG wieder dem allgemeinen Verwaltungsrecht anzugleichen (Vgl. § 124a Abs. 2 VwGO).

Die im Gesetzesentwurf vorgesehene Änderung (§ 78 Abs. 8 AsylG-E) soll zu einer Vereinheitlichung und Beschleunigung der Rechtsprechung führen durch die Zulassung der Revision für die Bewertung der Lage in einem Zielstaat. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass sich die Lage in den Krisenregionen, aus denen die Schutzsuchenden kommen, dynamisch entwickelt und somit auch die Rechtsprechung immer wieder an die gegenwärtige Lage angepasst werden muss. Die Entscheidung über einen Asylantrag darf laut dem Bundesverfassungsgericht nur auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse getroffen werden, es besteht also die „Pflicht zur tagesaktuellen Erfassung der entscheidungserheblichen Tatsachen“.[12]  Daraus folgt, dass trotz einer „Leitentscheidung“ immer wieder geklärt werden müsste, ob die letzte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gemäß dem neuen Gesetzesvorschlag noch anwendbar ist oder schon von neuen Erkenntnissen überholt wurde. Auch die Reichweite der Leitentscheidungen, zum Beispiel für welche konkreten Regionen oder Personengruppen sie gelten, müsste immer wieder (gerichtlich) geklärt werden. Diese Problematik wurde im Entwurf gesehen und mit einem Vorschlag zur weiteren Einschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten begegnet: So wird in dem Gesetzesentwurf eine Nichtzulassungsbeschwerde auf den neu geschaffenen Revisionsgrund ausgeschlossen. Revisionsgründe, die nicht durch eine Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, sind völlig systemfremd, vgl. § 133 VwGO. Es muss aus rechtsstaatlichen Erwägungen für den Kläger prozessual möglich sein, die gerichtlichen Einschätzungen dahingehend zu überprüfen, ob die Nicht-Zulassung der Revision durch dasselbe Gericht tatsächlich angemessen ist. Dies gilt allemal, wenn es um „die Beurteilung der allgemeinen asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevanten Lage in einem Zielstaat“ geht, die sich ständig ändern kann.

Beispiele für schnelllebige Änderungen der Tatsachen aus jüngster Zeit sind der Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine, die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, die Aufstände im Iran, Covid-19 oder die Flut in Pakistan. Durch die angestrebte Neuregelung besteht die Gefahr, dass auf Grundlage einer Leitentscheidung pauschal Tatsachen angenommen werden, die dem Einzelfall nicht gerecht werden können. Der Rechtsschutz der Betreffenden wäre also verkürzt.

Statt ein neues, komplexeres Sonderverwaltungsgerichtsprozessrecht zu schaffen, wodurch neuer gerichtlicher Klärungsbedarf entsteht, sollte eine Rückkehr zu den Grundsätzen des allgemeinen Verfahrensrechts angestrebt werden.

Pflichtbeiordnung von Rechtsanwältinnen in Abschiebehaftverfahren

Die beiden Kirchen möchten den Gesetzesentwurf zum Anlass nehmen, darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der Änderungen des Asylprozessrechts auch einer Stärkung der anwaltlichen Vertretung bei der Anordnung von Abschiebungshaft bedarf. Dies könnte durch eine Pflichtbeiordnung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten bei der Anordnung geschehen.

Qualität schon im Verwaltungsverfahren verbessern

Damit es zu weniger Gerichtsverfahren kommt, ist es sinnvoll, auch die Qualität des asylrechtlichen Verwaltungsverfahren weiterhin zu verbessern. Die Kirchen möchten deswegen ihr Angebot erneuern, bei dem asylrechtlich höchst komplexen Thema der Konversion zum Christentum vor oder während des Asylverfahrens ihre Expertise in Glaubensdingen beizusteuern, wie dies bereits 2019 in einem einmaligen Austausch mit dem BAMF gelungen ist.

Stand: 24. Oktober 2022

 

Fußnoten

[1] Vgl. BVerfG, Beschl. V. 20.04.1982, 2 BvL 26/81, BVerfGE 60, 253 <297>;

[2] Sh. S. 39 der Gesetzesbegründung.

[3] Sh. S. 32 der Gesetzesbegründung.

[4] Richtline 2013/32/EU, im Folgenden: „Verfahrensrichtlinie“.

[5] Sh. S. 41 der Gesetzesbegründung.

[6] Sh. S. 32 der Gesetzesbegründung.

[7] Richtlinie 2011/95/EU, im Folgenden: „Qualifikationsrichtlinie“.

[8] BVerwGE 89, 321 (jedenfalls für Flüchtlinge): Annahme eines Vorteils durch den Heimatstaat; subj. Freiwilligkeit der Vorteilsnahme und die obj. Einordnung der Handlung als Unterschutzstellung. Auch eine Klarstellung, dass die Regelvermutung, dass Passannahme oder -erneuerung freiwillig ist und widerlegt werden kann, zum Beispiel zur Eheschließung, wäre erstrebenswert (ebenda).

[9] Vgl. BT-Drs. 19/31393.

[10] BVerwG in ständiger Rechtsprechung, grundlegend Urteil vom 6.10.1982, 7 C 17/80.

[11] Vgl. S. 50 der Gesetzesbegründung.

[12] BVerfG, ständige Rechtsprechung; bspw. BVerfG, Beschl. v. 9.2.2021, 2 BvQ 8/21; BVerfG, Kammer-Beschl. v. 25.4.2018, 2 BvR 2435/17; BVerfG, Beschl. V. 27.03.2017, 2 BvR 681/17.

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