„Heimatvertriebene und Heimatverbliebene: Gemeinsam für ein friedliches Europa“

Geistliches Wort der Bevollmächtigten anlässlich des „Tages der Heimat 2024“ des Bundes der Vertriebenen am 24. August 2024  in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin
 

Liebe Gedenkgemeinde,

„Heimat“ – ein warmes Wort. Geräumig. Ein Wort für zuhause. Für vertraute Räume, Zeiten. Für Menschen. Wo Du bist, ist Heimat für mich – manches Paar spricht sich das in der Trauung zu. Heimat ist, wo jemand herkommt. Wo jemand hingehört. Bleibt oder zurückkehrt. Was einen Menschen definiert, seine Grenzen markiert, seine Kriterien. Heimat kann Zimtgeruch sein, Wind im Gesicht, Zitronencremegeschmack. 

Saša Stanišić musste als Kind mit seiner Familie aus dem zerfallenden Bosnien-Herzegowina fliehen. In Heidelberg lernt er Deutsch, auf Deutsch wird er Schriftsteller. In seinem Buch „Herkunft“ schreibt er: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, (…) Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“

Wir denken heute an viele, die den Zufall nicht beeinflussen konnten. Sie und viele andere, Ihre Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten sind aus ihrer Heimat vertrieben worden, haben sie verloren. Landschaften, Städte, Dörfer, Häuser, Kirchen. Das Vertraute, Bekannte, das Zuhause eben. 

Ehe etwas Neues auch Heimat werden kann, braucht es Zeit. Und es braucht vor allem das Gefühl, willkommen zu sein. Viele erzählen, auch wenn sie neue Orte zum Leben gefunden haben, Häuser gebaut, den Akzent angenommen und die Kinder in die Schule geschickt: Ein Leben lang bleibt das Gefühl, nicht dazuzugehören. Niemand hat auf uns gewartet, sagen manche. Fremd und anders zu sein, das Gefühl bleibt einigen ein Leben lang und als stille Post geht es weiter in die nächsten Generationen. 

Sie wissen: Die Bibel ist voller Geschichten von Flucht und Vertreibung. Ob vor dem eigenen Bruder weggejagt oder sogar getötet (wie es von Kain und Jakob erzählt wird) oder von dem Unterdrückervolk drangsaliert (wie von Moses und den Israeliten geschildert wird). Ob Josef und Maria mit dem Kind im Bauch ihre Heimat verlassen mussten oder die ersten Christen, deren Verfolgung durch die Texte der Apokalypse und der Evangelien schimmert: Die biblischen Geschichten erzählen von einem ambulanten Gott. Ein Gott, der mitgeht – auch wenn das Vaterland kein Zuhause mehr sein kann und die Muttersprache mitgenommen werden muss. An diesen Geschichten wird deutlich, dass es Rituale braucht für unterwegs – Geschichten, am Feuer erzählt, Gebete um Ernte, Wasser, Fruchtbarkeit. 

Jedes Vertreibungsleid ist einzigartig. Es verdient, gesehen und gewürdigt zu werden. Immer wieder und immer neu. Zugleich kann die eigene Lebensgeschichte, von anderen respektiert und bewahrt, auch sensibel machen für das Leid von anderen. So viel Flucht und Vertreibung noch heute in Europa, in der ganzen Welt. So viele Menschen, die nicht das Glück haben, den Zufall beeinflussen zu können. Weil Krieg und Klimawandel, unmenschliche Despoten und chronische Konflikte Menschen zwingen, die Heimat zu verlassen – oft in neue Krisen hinein. Unzählig viele Menschen werden jeden Tag in das getrieben, was ihnen dann neu zur Heimat werden muss. Schrecklich, aus dieser neuen Heimat dann wieder vertrieben zu werden. 

Umso stärker berührt mich das Motto Ihres heutigen Tages gerade in dieser Zeit der heißen und destruktiven Debatten: „Heimatvertriebene und Heimatverbliebene: Gemeinsam für ein friedliches Europa“. Bei allem, was unseren Kontinent erschüttert und wer immer ihn schlechtredet und den engen Blick nur auf die eigene Nation für eine Lösung hält, es bleibt doch wahr: Europa ist ein privilegierter Ort zum Leben. Demokratisch, sozial, wirtschaftsstark, innovativ, menschlich – und vor allem: fast überall friedlich. Es ist unsere Aufgabe, diesen Frieden zu erhalten und auf ganz Europa auszudehnen.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn ihrer ist das Himmelreich“ (Mt. 5,9) verspricht Jesus in der Bergpredigt. Das Reich Gottes ist die uns versprochene Heimat. Der Horizont des Glaubens, der mitwandert. Hier sind wir Gäste – auch das ein Jesuswort. Aber wir Menschen sind nicht nur auf der Durchreise. Wo wir leben, sind wir gefordert. Zum Frieden beizutragen. Zu Gerechtigkeit. Zum konstruktiven Miteinander. Zum Zusammenhalt in der Gesellschaft. Auch wenn es anstrengend ist. 

Was unseren Vorfahren geschehen ist, prägt uns. Ob wir es wollen oder nicht. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Umso wichtiger ist es, ein Bewusstsein für Treibungen und Vertreibungen zu schaffen. Was in dieser Welt an Leid passiert, geht jeden und jede etwas an. Auch dafür ist Gedenken so wichtig. Gern trage ich deshalb die Worte vor, die in jedem Jahr an diesem Gedenktag laut werden. Sie rufen auf zu Wachsamkeit – und mit wachem Sinn für unsere gemeinsame Welt:  

Wir gedenken hier der alten Heimat, der Heimat unserer Eltern und Großeltern mit den Kirchen und Häusern, die sie gebaut, den Bäumen, die sie gepflanzt, mit den Äckern, die sie bearbeitet haben, mit den Menschen – auch aus anderen Völkern –, deren Lieder sie gern gesungen haben, deren Sprache ihnen vertraut war, bei deren Klang ihnen heute noch die Tränen kommen. Wir wollen sie weiter in unseren Herzen bewahren, die Erinnerung an sie pflegen und weitergeben.

Wir gedenken hier der vielen Todesopfer bei Flucht und Vertreibung, bei Deportation und Zwangsarbeit. Wir gedenken der Kinder, der Frauen und Männer, die auf der Flucht mit den Trecks umkamen, auf verschneiten und verstopften Straßen, von Kälte, Entkräftung und Verzweiflung überwältigt, von Panzern überrollt, von Bomben und Granaten zerrissen; ihre Leichname blieben oft unbegraben zurück.

Wir gedenken hier derer, die auf der Flucht im winterkalten Wasser des Kurischen und des Frischen Haffs und der Flüsse versanken, weil das Eis nicht mehr hielt oder unter Beschuss zerborsten war. Wir gedenken hier derer, die in unvorstellbar großer Zahl bei Schiffsuntergängen nach Torpedo- und Fliegerangriffen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken.

Wir gedenken hier der in den Jahren 1944-47 aus der alten Heimat verschleppten und seitdem verschollenen Frauen, Männer und Kinder, der auf den Straßen entkräftet Zusammengebrochenen, der Erschossenen und Erschlagenen, der auf den wochenlangen Bahntransporten in den Weiten Sibiriens Umgekommenen und an den Bahntrassen unbestattet Zurückgelassenen.

Wir gedenken hier derer, die in den Straf-, Internierungs- und Todeslagern der Rache für die nationalsozialistischen Verbrechen hilflos ausgeliefert waren, ohne Recht und Gerichtsverfahren blieben und dort schließlich auf elende Weise zu Tode kamen.

Wir gedenken hier all derer, die als Opfer von Massakern, von willkürlichen Vergeltungs- und sogenannten Säuberungsaktionen starben und an deren Gräber sich niemand mehr erinnert.

Wir gedenken hier der in den letzten Kriegstagen und in der ersten Nachkriegszeit in der alten Heimat in großer Zahl an Hunger und Epidemien ohne ärztliche Hilfe Verstorbenen und in Massengräbern hastig Verscharrten.

Wir gedenken hier der verwaisten und vermissten Kinder, deren Spur sich in den Kriegswirren und Heimen verloren hat. Wir erinnern uns hier an das grausame Schicksal derer, die auch noch Jahre nach Kriegsende willkürlich und zu Unrecht, oft unter grausamen und entwürdigenden Umständen, aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben und abtransportiert wurden.

Wir erinnern uns in Dankbarkeit an die Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe ungeachtet eigener Gefährdung und oft selbst große Not leidend den deutschen Deportierten, Vertriebenen und Flüchtlingen Hilfe geleistet und das karge Brot mit ihnen geteilt haben.

Im Gedenken an unsere Toten der „vorigen Zeiten“, in der Erinnerung an die Grausamkeit von Flucht und Vertreibung nehmen wir mitfühlend Anteil am Schicksal der Menschen unserer Tage, die vor Krieg, Not und Religionshass auf der Flucht sind oder aus ihrer angestammten Heimat im Zuge ethnischer, politischer oder religiöser sogenannter Säuberungen vertrieben werden.

Die Erinnerung mahnt uns, zu unseren Zeiten für Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme.

Wir vertrauen darauf, dass Gott, der Gerechte und Barmherzige seiner Menschenkinder gedenkt, dass sie mit ihrem Namen und Schicksal in seinem Gedächtnis bewahrt bleiben und dass dies auch für unsere Verschollenen und an unbekannten Orten ruhenden Toten gilt. So vertrauen wir sie aufs Neue ihm an. Mögen sie in Frieden ruhen und das Licht des neuen Lebens in der anderen Welt schauen.

Amen.