Abschiebungen dürfen nicht mehr stattfinden

Interview mit Christiane Maurer

Christiane Maurer aus Bottrop engagiert sich seit langem ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe und setzt sich insbesondere für die Rechte von Jesid*innen ein. Aus ihrer langjährigen Erfahrung weiß sie, dass die drohende Abschiebung für Jesid*innen, die einst vor den Terroristen des Islamischen Staats fliehen mussten, eine Retraumatisierung bedeutet. Deswegen fordert sie einen generellen Abschiebestopp für Jesid*innen.

Seit vielen Jahren begleiten und unterstützen Sie ehrenamtlich jesidische Familien. Wie sind Sie dazu gekommen?

Durch einen Zufall. Mein Mann und ich haben im Frühjahr 2015 für das Projekt „Wohnraum für Flüchtlinge“ eine Wohnung zur Verfügung gestellt und haben darüber ein jesidisches Ehepaar aus dem Irak kennengelernt. Die Frau war hochschwanger, und das Paar besaß so gut wie nichts. Wir beschafften das Nötigste an Möbeln und Hausrat. Nach einigen Wochen rief mich eine Frau aus der Nachbarwohnung an, die sich Sorgen machte, weil sie die Frau nachts oft schreien hörte.

Wie haben Sie reagiert?

Mir schwante bereits, dass die beiden traumatisiert und mit allem überfordert waren. Ich informierte mich über Jesiden und suchte nach Hilfsangeboten. Es gab aber nichts, vor allem keine jesidischen Dolmetscher und erst recht keine psychologische Hilfsmöglichkeit. Vor den wenigen verfügbaren kurdischen Dolmetschern hatten sie Angst. Die Gesellschaft Ezidischer Akademiker vermittelte uns schließlich den Kontakt zu einer jesidischen Psychologiestudentin. Das gemeinsame vierstündige Gespräch werde ich nie mehr vergessen. Es war selbst für die junge Psychologin so unfassbar, was Menschen anderen Menschen angetan hatten. Vor allem die Ehefrau wollte erzählen von dem Schmerz, den der IS ihr und ihrer Mutter zugefügt hatte. Auch ihr Mann erzählte in Etappen; elf seiner Familienmitglieder waren vom IS abgeschlachtet, weitere verschleppt worden. Mir wurde klar, dass diese Menschen nicht zur Tagesordnung übergehen können, sondern besonderen Schutz und Hilfe brauchen.

Der Bundestag hat 2023 die Verbrechen des sog. Islamischen Staates an den Jesiden als Völkermord anerkannt. Gibt es Möglichkeiten, die traumatischen Erfahrungen, die insbesondere Frauen und Mädchen erlitten haben, zu besprechen und zu bearbeiten?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Zugleich: Schutzlos und ohnmächtig einer entmenschlichenden Vernichtungsabsicht ausgesetzt zu sein, ist eine kollektive traumatische Erfahrung. Alle sind Opfer. Ich habe verstanden, dass das Sprechen über das eigentlich Unsagbare so wichtig ist und ein Teil des Heilungsprozesses sein kann, vorausgesetzt, es besteht ein Vertrauensverhältnis. Ich hätte mir für das Paar so sehr professionelle psychologische Hilfe zur Traumabewältigung und Stabilisierung gewünscht. Mittlerweile gibt es Psychosoziale Zentren für traumatisierte Flüchtlinge, die mit Dolmetschern arbeiten. Das ist toll. Aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein und die Wartelisten sind lang. Hinzu kommt, dass solche Angebote den Betroffenen kaum bekannt sind und es generell um ein kultursensibles Thema geht. Psychische Erkrankungen werden auch als ein Makel angesehen. Neben den psychischen Traumata sind natürlich auch die körperlichen Folgen, z. B. aufgrund einer Vergewaltigung, mit einem Tabu oder Scham behaftet.

Wie sieht die Situation jesidischer Geflüchteter inzwischen aus, etwa mit Blick auf Schule, Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitssuche?

Ich fand es beeindruckend, dass alle mir bekannten jesidischen Geflüchteten einen hohen Integrationswillen mitgebracht haben. Die Erwachsenen mit einigermaßen Vorbildung kamen nach den Integrationskursen recht schnell in Arbeit. Zumeist in Helfertätigkeiten in der Gastronomie, auf Baustellen, in Pflegeheimen, mit Lager- und Fahrertätigkeiten. Auch die Kinder haben ihre Bildungschancen genutzt und mittlerweile Ausbildungen begonnen oder abgeschlossen, manche beginnen ein Studium.

Und wer keinen Bildungshintergrund hat?

Es gab auch die Gruppe derjenigen, die über keinerlei oder kaum Schulbildung verfügen und nicht in ihrer Muttersprache lesen und schreiben konnten. Sie hatte einen großen Hilfsbedarf. Im Irak haben sie abseits und isoliert gelebt, und so fehlte es ihnen an nahezu allem, was man braucht, um in unserer hochtechnisierten Welt zurechtzukommen. Was es bedeutet, überhaupt nicht alphabetisiert zu sein, hatte ich stark unterschätzt. Unser System ist auf solche Menschen gar nicht eingerichtet. Ohne besondere Unterstützung würden sie untergehen. Sie waren völlig verängstigt und trauten sich kaum vor die Tür. Gerade in der Anfangszeit sind ihnen aus Unwissenheit und mangelnder Erfahrung viele kleinere oder manchmal auch größere Dramen passiert. Dabei konnten sie dafür nichts, schämten sich aber trotzdem.

Können Sie Beispiele nennen?

Es gab unter anderem einen gesprengten Wassersprudler, eine schäumende Waschmaschine, die irrtümliche Verwendung von Weichspüler zur Körperpflege, Probleme bei der Bedienung der Heizung und anderer technischer Geräte, falsch identifizierte Lebens- und Reinigungsmittel bis hin zum Fahren mit dem Fahrrad auf der Autobahn. Manchmal gingen sie irgendwo verloren. Sie konnten ja keine Fahrpläne und Straßennamen lesen oder einfach nach dem Weg fragen kann.

Wie ging es für diese Menschen weiter?

In der ersten Zeit ging es nur darum, ihnen in der Alltagsbewältigung zu helfen und dass sie Schreiben und Lesen lernen. Sie haben sich alles sehr, sehr hart erkämpfen müssen und das verdient Hochachtung. Auch sie besuchten Integrationskurse, die sie erfolgreich abschlossen, worauf sie stolz sein können. Auch wenn die meisten von ihnen es kaum zu einem Ausbildungsberuf bringen werden, werden sie als zuverlässige Arbeitskräfte gebraucht und geschätzt. Es hat eben alles nur ein bis zwei Jahre länger gedauert, bis auch sie fast alle in Arbeit kamen. Eine große Freude war es, als die Ersten kürzlich ihren unbefristeten Aufenthalt in Form einer Niederlassungserlaubnis erhalten haben. Das nächste Ziel ist die Einbürgerung.

Der IS ist für besiegt erklärt, die Flüchtlingslager im Irak werden geschlossen, die Menschen sollen zurückkehren können in ihre Orte, aus denen sie vertrieben wurden. Wie geht es nun denen, die von Abschiebung bedroht sind?

Die islamistische Ideologie, die besagt, dass Jesiden schmutzige Ungläubige sind und den Teufel anbeten und deshalb getötet oder versklavt werden sollen, ist für Jesiden das wohl Schlimmste. Weil selbst gemäßigte muslimische Nachbarn seinerzeit zu Verrätern und Tätern wurden und zum IS überliefen. Aufgrund dieser Erfahrungen wird diese Ideologie als andauernde und immer präsente Bedrohung wahrgenommen, die jederzeit wieder in Massengewalt ausarten kann. Immer wieder höre ich, dass der August 2014 nicht aus dem Nichts kam, sondern nur eine Fortsetzung wiederkehrender Angriffe und Verfolgung war.

Was wünschen Sie sich für sie?

Ich würde mir von Herzen wünschen, dass eine sichere Rückkehr in das ehemalige Siedlungsgebiet möglich wäre. Allein aus dem Grund, damit dieses insgesamt nur noch eine Million zählende bedrohte Volk überhaupt so etwas wie eine Heimat hätte und seine uralte Religion, Traditionen und kulturellen Wurzeln bewahren könnte. Aber ihr ehemaliges Gebiet ist weder sicher noch derzeit menschenwürdig bewohnbar, weil kein Wiederaufbau stattgefunden hat. Zu dem Schluss kommt, neben vielen anderen Gutachten, auch der aktuelle Asyllagebericht. Dies ist allen politischen Akteuren bekannt.

Was bedeutet es für Jesiden, wenn eine Abschiebung droht?

Eine Abschiebung stellt für Jesiden eine Retraumatisierung und den erneuten Verlust von Sicherheit und Vertrauen dar. Es bedeutet faktisch, dass ihnen wieder einzelne Familienmitglieder entrissen werden, die keinen Schutzstatus erhalten haben. Im November 2023 gingen bei mir Hilferufe von verzweifelten Jesiden aus der Abschiebehaft ein. Friedliche Menschen, die gearbeitet und nichts falsch gemacht hatten, befanden sich plötzlich, wie Verbrecher, in Haft. Ich stellte zunächst Petitionen und Härtefallanträge, um den konkret Betroffenen zu helfen. In meinem Bundesland NRW gelang es, diese Abschiebungen zu verhindern, weil in der Landespolitik fraktionsübergreifend der politische Wille dazu vorhanden war. Es kam auch ein Abschiebestopp, der aber ausgelaufen und nicht verlängerbar ist. Eine dauerhafte Lösung fällt in die Zuständigkeit des Bundes, genauer des Innenministeriums oder der Innenministerkonferenz, wo das Thema aber bis heute nicht gelöst wurde. Aber genau deshalb dürfen wir nicht nachlassen, uns dafür einzusetzen, dass Abschiebungen nicht mehr stattfinden.

Die Fragen stellte Sabine Dreßler