„Man darf nicht wegsehen“
Zeitzeugin Eleonore Kujawa erinnert an das Kriegsende vor 80 Jahren
Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg – Eleonore Kujawa erlebte das Kriegsende als 14-Jährige in Berlin. Im EKD-Gespräch berichtet die heute 94-Jährige von ihren Erinnerungen an jene Zeit und zieht Parallelen zur Gegenwart. Angesichts heutiger Konflikte ruft sie dazu auf, das Leid der Zivilbevölkerung nicht zu übersehen. Besonders hebt sie die Bedeutung von Hilfsorganisationen hervor, die Menschen in Kriegsgebieten unterstützen.

Die Erinnerungen an den Krieg sind Eleonore Kujawa immer präsent. Die Zeiten im Keller etwa, die immer länger wurden. „Zuletzt haben wir ganze Tage dort verbracht“, sagt die 94-jährige Berlinerin. „Der Beschuss war zum Dauerzustand geworden.“ Ohne Heizung, auf einen Korbsessel gekauert, vor sich hin dösend, ein wenig schlafen. Immer mit dabei – die Angst. „Ein Kind im Krieg lebt nur im Angstzustand“, sagt Kujawa. Vor allem da es spürt: die Erwachsenen haben dieselbe Angst: vor den Bomben, vor den anrückenden Russen. Davor, getroffen zu werden, wenn man den Keller verlassen muss, um Essen zu besorgen. Als es dann vorbei war mit dem Schießen, Anfang Mai 1945, „der Himmel wunderbar blau, die Stille, man hörte Vögel zwitschern – ein absolut unwirkliches Gefühl.“
Doch zu Ende war es noch nicht. Zurück in der Wohnung, die halbwegs heil geblieben war, ging es weiter mit Hunger und Kälte. Die Fensterscheiben waren kaputt, die Öffnungen notdürftig mit Decken verschlossen. „Wir lagen überwiegend im Bett, weil wir einfach keine Kraft mehr hatten.“ Die Mutter wog gerade noch 40 Kilo. An Essen zu kommen war schwierig. Als in der Nachbarschaft eine Kuh geschlachtet wird, gelingt es der Mutter, ein Stück vom Euter zu ergattern. Wasser zum Kochen müssen sie sich aus einem gegenüberliegenden Garten holen, im Beistellherd verfeuern sie Möbelstücke. „Es schmeckte nach nichts“, erinnert sich Eleonore Kujawa, damals noch nicht 15 Jahre alt, an das erste Stück Fleisch seit langem. „Wir hatten ja auch keine Gewürze, nur ein bisschen Salz.“
Mit der zunehmenden Bombardierung der Städte werden viele Kinder und Jugendliche evakuiert. Doch Eleonore will nicht weg aus Berlin. Bei einer Kinderlandverschickung hatte sie die Schikane und Indoktrination der BDM-Führerinnen erfahren. „Wir mussten durchs Dorf marschieren und Soldatenlieder singen. Außerdem hatte ich furchtbares Heimweh.“ Das möchte sie nicht wieder erleben und so bleibt sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern in der Stadt. Zur Schule muss sie ins Umland, denn innerhalb Berlins findet kein Unterricht mehr statt. Das tägliche Pendeln mit dem Zug ist angesichts von Fliegerangriffen gefährlich. Der Vater, ein gelernter Bankbeamter, ist während des Krieges als Straßenbahnschaffner zwangsverpflichtet und wird 1945 noch zum Volkssturm eingezogen.
Im Februar 1945 wird Eleonore noch konfirmiert. Den Unterricht bei einer Gemeindehelferin mit biblischen Geschichten und Kirchenliedern besucht sie grundsätzlich gern. Gleichzeitig ist diese eine glühende Hitler-Verehrerin, die im Konfirmationsunterricht für den „Endsieg“ betet. Eleonore erinnert sich an ihre Ablehnung dessen und die vorsichtige Reaktion: „Die anderen haben denselben Gott, und alle beten zum lieben Gott, sie möchten den Krieg gewinnen. Was soll denn der liebe Gott machen?“ Die Antwort der Helferin: „Frag nicht so dumm. Der liebe Gott weiß, dass wir gewinnen müssen.“ Dass überzeugte Nationalsozialisten im nahen Umfeld und auch in kirchlichen Rollen präsent waren, war Teil von Eleonores Realität – ebenso wie das Ringen um einen eigenen Standpunkt. Zur Einsegnung gibt es ein schwarzes Kleid, Schuhe und Blumen auf Bezugsschein. Der Vater bekommt Urlaub, die Mutter backt einen Kuchen aus Mehl, Wasser und Süßstoff. Eine kleine Auszeit vom Krieg.
Unmittelbar nach Kriegsende schließt sich die ältere Schwester einer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit an. Zu den Veranstaltungen nimmt sie auch Eleonore mit. „Da gingen uns nach und nach die Augen auf, was Deutschland angerichtet hat.“
„Die nackten Zahlen berühren einen nicht – aber wenn man sieht, wie ein Toter auf dem Boden liegt, schon.“
Nach dem Abitur 1949 studiert Eleonore Kujawa an der neu eröffneten pädagogischen Hochschule. Dort lehren Reformpädagogen fortschrittliche Modelle wie Gruppenunterricht, die die junge Studentin begeistern. Mit Ausbildungslehrern und Schulräten, die noch anderen Vorstellungen anhängen, gerät sie in Konflikt und rasselt zunächst durch die Lehramtsprüfung. „Mit der Begründung: Sie sind zu eigensinnig.“ Im zweiten Anlauf schafft sie es und arbeitet bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin und Leiterin einer Grundschule.
Früh schon setzt sie Projekte zu Umweltschutz und Friedensarbeit um und bemüht sich um die Integration von Gastarbeiterkindern. „Meine Arbeit hat mir viel Freude gemacht“, sagt sie. Außerdem engagiert sich Kujawa bei der Liga für Menschenrechte und der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft.
Seit einigen Jahren pflegt Eleonore Kujawa auch wieder intensivere Kontakte zur Kirche. In der Berliner Gedächtniskirche sprach sie als Zeitzeugin im Gottesdienst. Sie schätzt den sozialen Einsatz der Kirchen und findet es „außerordentlich wichtig, dass Kirche sich auch politisch engagiert – auch wenn Frau Klöckner das anders sieht“.
Die Ausstellung „Endlich Frieden?“, die noch bis 11. Mai am Brandenburger Tor in Berlin gezeigt wird, hat Kujawa besonders beeindruckt. „Jeder, der den Krieg nicht erlebt hat, muss sich das ansehen“, sagt sie. „Die nackten Zahlen berühren einen nicht – aber wenn man sieht, wie ein Toter auf dem Boden liegt, schon.“ Neben dem Wissen sei auch Emotion nötig, „sonst bleibt nichts hängen“. Aus den Kriegserfahrungen von einst leitet Kujawa eine bleibende Verpflichtung ab: „Überall da hinzugucken, wo heute Krieg ist – vor allem auf die Zivilbevölkerung, denn die leidet unendlich, wenn Krieg ist.“
Text: Jörg Echtler (ekd.de) / Interview EKD/Frei und Gleich