„Diese Verfassung ist ein Glücksfall“
Der Jurist Jacob Joussen, Mitglied des Rates der EKD, im Interview über 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung
Vor 100 Jahren trat die Weimarer Reichsverfassung in Kraft und veränderte das Verhältnis von Kirche und Staat nachhaltig. Der Jurist Jacob Joussen, Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, spricht im Interview über die Errungenschaften dieser Neuerungen, über die Trennung von Kirche und Staat sowie über aktuelle Herausforderungen für das deutsche Religionsverfassungsrecht.
Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland wird 100 Jahre alt. Die entsprechenden Artikel im Grundgesetz stammen aus der Weimarer Reichsverfassung, die vor einem Jahrhundert verabschiedet wurde. Was halten Sie für die größte Errungenschaft der damaligen Neuerungen? Was haben wir der Weimarer Verfassung zu verdanken?
Jacob Joussen: Letztlich können wir heute noch dankbar sein für die klaren Entscheidungen, die die Weimarer Reichsverfassung für das Verhältnis von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften getroffen hat. Es sieht im Einzelnen mühsam aus, weil der Ansatz der WRV eben kein einfacher Weg ist. Er sieht weder eine völlige Trennung noch eine Staatskirche vor.
Aber gerade darin liegt für mich das Positive. Der Staat verhält sich allen Religionen gegenüber gleich: neutral, aber nicht indifferent. Ihm ist nicht gleichgültig, ob und dass es Religionen gibt, sondern er ermöglicht es ihnen, sich zu entfalten, ohne sie zu vereinnahmen. Das scheint mir die größte Errungenschaft zu sein.
Für manche ist das Alter Anlass zur Kritik: Das Gesetz müsste dringend mal überdacht und erneuert werden. Ist das Religionsverfassungsrecht in Deutschland Ihrer Meinung nach noch zeitgemäß?
Joussen: Der große Charme eines guten Verfassungstextes ist es, dass er nicht hinfällig wird, wenn sich die Zeiten ändern. Eine gute Verfassung wie das Grundgesetz mit ihren aus der WRV übernommenen Regelungen macht dies besonders deutlich: Der Stellenwert der Religionen hat sich im Laufe der letzten 100 Jahre in der Gesellschaft sicher verändert, aber die Antworten, die unsere Verfassung gibt, sind nach wie vor gute Antworten: Weil der Staat dem Einzelnen das verbriefte Recht auf die Ausübung seiner Religion nach wie vor gewährt und sichert. Das ist zeitgemäß – wenn man es nicht verengt auf nur eine Religion. Aber genau das tut das Grundgesetz nicht.
„Es besteht keine Staatskirche“, stellte die Weimarer Reichsverfassung fest und so steht es nach wie vor im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Mitunter wird aber bemängelt, die Trennung von Kirche und Staat ginge nicht weit genug in Deutschland. Sehen Sie da Defizite, und wenn ja, wo?
Joussen: Die Aussage, dass keine Staatskirche besteht, hat unverändert Geltungskraft. Von einer Staatskirche sind wir in Deutschland – ich meine: zum Glück – weit entfernt. Der prägende Grundsatz des von der Verfassung vorgegebenen Verhältnisses zwischen Staat und den Religionsgemeinschaften ist der der so genannten „wohlwollenden Neutralität“. Der Staat darf keine Religion gegenüber einer anderen bevorzugen oder benachteiligen – aber er darf sie auch nicht gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren schlechter stellen. Er muss ihnen ihre Ausübung ermöglichen. Das tut er auch. Wie er das tut – das ruft verständlicherweise in einer demokratisch verfassten, pluralen Gesellschaft im Einzelfall Kritik hervor.
Ob er etwa an stillen Feiertagen ein Tanzverbot verhängen muss? Da bin ich selbst anderer Auffassung als viele Menschen in den Kirchen, aber daran sieht man, dass der Staat versucht, Anliegen der Religionsgemeinschaften Rechnung zu tragen. Dabei muss er immer wieder abwägen: Greift das zu stark in die Rechte Einzelner ein? Das ist der große Vorzug der „wohlwollenden Neutralität“ – insofern sehe ich das Verhältnis zwischen Staat und Religionen nicht als defizitär geregelt an.
Wo sehen Sie aktuelle Herausforderungen für das Religionsverfassungsrecht? Wo knirscht es?
Joussen: Zweifellos ist die größte Herausforderung für unser Religionsverfassungsrecht die Frage, wie wir mit Religionen umgehen, die sich nicht so organisieren (können), wie es unser Rechtssystem immer erwartet hat. Dieses gewährt die verfassungsrechtlichen Rechte im Wesentlichen denjenigen Religionen, die bereit und in der Lage sind, sich in bestimmter Weise zu organisieren, nämlich als Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Das können die christlichen Kirchen, das können auch die jüdischen Gemeinden. Islamische Gemeinschaften können das nicht – denn sie haben ein völlig anderes Mitgliedschaftsverständnis. Das passt auf unser System nicht. Und doch handelt es sich bei diesen Gemeinschaften doch unzweifelhaft um Religionsgemeinschaften. Wie kann man mit dieser Herausforderung umgehen? Denn der Islam gehört mit seinen muslimischen Gläubigen zu unserem Land, in unser Rechtssystem genau so wie die christliche Religion. Also müssen wir unser Recht auch darauf hin überprüfen und es gegebenenfalls weiterentwickeln, dass wir dieser Religion gerecht werden.
Wenn es an Ihnen wäre, den geltenden Artikel 140 des Grundgesetzes zu aktualisieren: Was würden Sie ändern – hinzufügen oder abschaffen?
Joussen: Ich würde ihn nicht ändern – und auch nichts hinzufügen, abschaffen erst recht nicht. Er wird in der Lage sein, auch die geschilderten Herausforderungen zu meistern, davon bin ich überzeugt. Denn diese Verfassung ist in ihrer Struktur und Anlage, gerade auch für die Fragen des Religionsrechts, ein Glücksfall. Sie bedarf keiner Veränderung – sondern sie bedarf der Akzeptanz. Und zugleich der Bereitschaft, ihr Verständnis auch weiterzuentwickeln.
Das ist bei dem Schutz von gleichgeschlechtlichen Beziehungen beispielhaft gelungen, nicht erst, als die „Ehe für alle“ auf dem Prüfstand stand. Artikel 6 des Grundgesetzes (GG) hat mit dem Schutz der Ehe 1949 die gleichgeschlechtliche Beziehung sicher nicht gemeint, aber heute wissen wir, dass wir auch diese darunter verstehen können. Das ist gelebtes Verfassungsrecht. Eine derartige Weiterentwicklung des bewährten Artikel 140 GG wird auch gelingen, wenn es darum geht, muslimische Gemeinschaften in dieses System zu integrieren. Das Grundgesetz kann das. Und wir müssen es wollen.
Interview: Kathrin Althans