Predigt zum 1. Advent 2020 in St. Lorenz in Nürnberg

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

(Es gilt das gesprochene Wort)

Predigttext (Sacharja 9,9-10)

Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. 10Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde. (Sacharia 9)

Symbolbild - Predigt am ersten Advent 2020, brennende Kerze

Liebe Gemeinde,
wie hätte das wohl ausgesehen, wenn der König unter Corona-Bedingungen nach Jerusalem eingezogen wäre? Wie wäre es gewesen, wenn er, ein Gerechter und ein Helfer, arm, auf einem Esel eingeritten wäre in die Stadt?

Im Neuen Testament wird ja geschildert, wie diese Szene, die der Prophet Sacharja vor rund 2500 Jahren vor sich sah, 500 Jahre später tatsächlich Realität wurde. Die Evangelien berichten, wie Jesus nach Jerusalem einzieht und die Leute „Hosianna“, übersetzt: Hilf uns! Rette uns!“ rufen. Bibelfilme inszenieren diese Szene gerne aufwendig mit unzähligen Komparsen, die eine riesige Menschenmenge bilden und jubelnd am Straßenrand Palmenzweige oder Kleider schwenken.
Und jetzt ist alles anders. Es sind nur Monate, noch nicht einmal ein Jahr, die es inzwischen fast schon schwermachen, sich diese Szene jetzt ganz bildlich vorzustellen. Es sind fast schon Erinnerungen an eine ferne Zeit, die hochkommen, wenn wir daran denken, wie es sich anfühlt, in einer Menschenmasse zu stehen. Was es heißt, vorne nichts zu sehen, weil der nächste neben mir so nahe steht, dass ich nur seinen Hinterkopf sehe. Ich werde mit dieser wunderschönen Lorenzkirche immer meine Amtseinführung vor nun gut 9 Jahren verbinden, in denen hier alle eng zusammensaßen, auf Tuchfühlung und kein Platz unbesetzt blieb.

Und nun ist das unbeschwerte Zusammensein nicht mehr möglich. Der Nürnberger Christkindlesmarkt ist abgesagt. Ein enges geselliges Zusammenstehen vor den Buden beim Glühwein wird es dieses Jahr nicht geben. Auch unser traditioneller Empfang mit Punsch und Lebkuchen nach diesem 1. Adventsgottesdienst muss heute ausfallen. Und das ist traurig. Wir wissen, dass es nicht anders geht. Die meisten Menschen sind bereit, die Kontaktbeschränkungen weiter mitzutragen, um ihre Gesundheit und die anderer zu schützen. Aber unsere Seelen sind müde und erschöpft. Wie lange geht das noch? Wann können wir endlich wieder unbeschwert Gemeinschaft erleben? Wann können wir endlich wieder die Gesichter der anderen sehen? Vielleicht auch ihr Lächeln?! 

„Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!“ – sagt der Prophet Sacharja. Und er spricht damit zu dieser Stadt, die für die Israeliten beides zugleich ist: Ort großer Leid- und Unheilerfahrung und Verheißungsort, der für die Überwindung dieses Leiden steht, an dem Gott sich mit seiner Macht durchsetzt. Sie ist der Sehnsuchtsort des Volkes Israel, zu dem der Prophet spricht. 

Und wir sagen heute: Ja, lieber Sacharja, wir hören das! Aber wie sollen wir in diesen Zeiten jauchzen?! Wie sollen wir in diesen Zeiten hoffen, dass Gott sich machtvoll in seiner Güte zeigt?

Das ist vielleicht die dringlichste Frage an diesem 1. Advent des Jahres 2020. Wir sehnen uns nach Gemeinschaft. Wir sehen uns nach Hoffnung. Wir sehen uns danach, dass alles gut wird. Wir sehnen uns nach Licht.

Und das umso mehr, weil es ja neben dem, womit wir selbst zu kämpfen haben, auch noch all das Leid in der Welt gibt, das über die Fernsehbildschirme in unser Wohnzimmer kommt und das wir manchmal einfach nicht mehr aushalten können. Besonders wenn es so sinnlos ist. Wenn Krieg ausbricht und die Gewalt immer schlimmer wird. Wenn, wie jetzt in Äthiopien, sogar ein Friedensnobelpreisträger in einen neuen Krieg hineingezogen wird. Meistens sind es unschuldige Menschen, die die ersten Opfer sind. 

Mich hat in den letzten Wochen der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan in Bergkarabach besonders bewegt. Nachdem ich vor zwei Jahren auf Einladung von Patriarch Karekin II. Armenien besucht habe, den Präsidenten und den Ministerpräsidenten getroffen und berührende Gespräche geführt habe, ist mir das alles sehr nahe gekommen. Und es kam in mir immer wieder die Frage auf: Warum setzt sich die Gewalt immer wieder durch? Warum scheinen wir so oft einfach machtlos gegenüber der Gewalt? Warum lassen sich Völker immer wieder zur Gewalt aufstacheln, obwohl doch am Ende in Kriegen immer alle verlieren? 

Und dann hören wir die Sätze des Sacharja. Es sind innerlich rettende Sätze. Es sind Sätze von einem, der in seiner Erfahrung weiter ist und weiß, dass Gott den Frieden wirken wird: „Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.“ 

Diese Sätze helfen mir, die Hoffnung auf Frieden am Leben zu halten. Sie stellen die Erfahrungen, die wir jetzt machen, in das Licht einer Zukunft, in der die Gewalt überwunden sein wird und alle Tränen abgewischt sind. Dafür steht die Tochter Zion, das himmlische Jerusalem. „Der Kriegsbogen soll zerbrochen werden“ – wenn ich diese Friedenserklärung Gottes in mein Herz einlasse, kommt die Kraft zurück, ist wieder Hoffnung da, kann ich wieder leben.

Was in der großen Weltpolitik gilt, gilt auch in meinem eigenen Leben: Es gibt sie, diese Erfahrungen von Dunkelheit. Manchmal treten sie in den Hintergrund und manchmal nehmen sie überhand. Aber sie sind nicht das letzte Wort. Gott malt das Bild des himmlischen Jerusalem in unsere Seele hinein, in dem wir jauchzen werden. Und zündet in dieser dunklen Jahreszeit, in dieser dunklen Weltzeit, ein Licht an, das niemand mehr auslöschen kann. 

Deswegen ist es so wichtig, dass auch jetzt, in diesem Pandemie-Advent, überall die Lichter zu sehen sind. Deswegen ist es so wichtig, dass jetzt die Adventskerze brennt. Es ist nur eine einzige Kerze, die an diesem 1. Advent brennt. Es ist nur ein einziges kleines Licht, das die Dunkelheit durchbricht. Es ist nur eine zaghafte Helle, die zu scheinen beginnt.  Aber sie ist da. Und sie fängt an, uns aus der Dunkelheit unseres Herzens herauszuholen. Das kleine Licht ist schon jetzt die Brücke zwischen der Wirklichkeit, in der wir leben und dem himmlischen Jerusalem, auf das wir hoffen.

Schauen wir auf das Licht! Hier in der Kirche oder, wenn wir die Kerze zu Hause anzünden. Schauen wir auf das Licht und lassen unseren Blick von der Dunkelheit hin zu dem führen, was in unserem Leben schon jetzt ein echter Lichtblick ist.
Vielleicht ist es eine Beziehung in unserem persönlichen Leben, die durch die Gemeinsamkeit im Durchstehen dieser schweren Zeit wieder neu zusammenwächst. Vielleicht sind es Nachbarn, zu denen Kontakt zu halten, in all der Alltagshektik immer untergeht und nun seinen Anlass findet, weil man sich in diesen Zeiten absprechen muss.
Vielleicht ist es aber auch die Erfahrung, dass trotz Corona überraschende Erfahrungen von Gemeinschaft möglich werden, die wir so noch nicht kannten.

Mein größtes Licht diese Woche war unsere bayerische Landessynode. Wir mussten sie zum ersten Mal in der Geschichte unserer Kirche digital abhalten. Und niemand wusste vorher, wie das gehen würde. Und dann war eine inhaltliche Konzentration und eine gemeinschaftsstiftende Kraft spürbar, die jedenfalls ich kaum für möglich gehalten hätte. Die ganze Zeit hatten wir, unabhängig davon, wo zu Hause oder im Büro wir saßen, die Gesichter der anderen auf den Bildschirmen direkt vor uns. Es wurde digital geklatscht, dann eben mit einem Klatschsymbol auf dem Bildschirm, es wurde digital gebetet und es wurde immer wieder digital herzlich gelacht. Und im informellen Chat am Rande des Bildschirmes wurde neben den offiziellen Diskussionen immer wieder gedankt für all das, was Menschen geleistet hatten, damit wir so konzentriert miteinander beraten konnten. 

Sogar mein traditionelles Frühstück mit einer befreundeten Synodalen musste nicht ausfallen. Frühstücksbrot und Kaffeetasse standen einfach dem Bildschirm, auf dem sie zu sehen war, wie sie leibt und lebt. So hatte ich am Donnerstag zum Schluss bei meinem Reisesegen wirklich allen Anlass, den Satz aus ganzem Herzen mitzusprechen, der der Herrnhuter Losungsvers für diesen Tag war: "Nun, unser Gott, wir danken dir und rühmen deinen herrlichen Namen.“

„Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin.“ Dass der Gerechte und der Helfer, dass der Retter, den das Volk Israel erwartete und den Sacharja ankündigte, nicht mit Prunk und großem Gefolge, sondern als Armer auf einem Esel in die Stadt geritten kommt, möge uns ein Hinweis sein: die Hoffnung, die mit dem Advent verbunden ist, gründet in etwas, das auch ganz unscheinbar und leise daherkommen kann. Sie gründet in der Zusage, dass Gott sein Volk nie alleine lassen wird, dass er in einem Menschen in unsere Dörfer und Städte und in unsere Herzen einzieht, durch den die Liebe immer mehr Raum gewinnt und am Ende alles durchstrahlt. So dass irgendwann selbst der Krieg nicht mehr sein wird, der Kriegsbogen zerbrochen wird seine Friedenherrschaft sein wird von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.

Diese Botschaft zu hören. Sie in den Lichtern um uns her zu sehen. Sie im Herzen zu spüren. Das ist Advent in diesem Pandemiejahr 2020. „Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze!“ 

Nein wir werden auch in diesen Zeiten nicht stumm werden. Wir werden in diesen Ruf einstimmen, vielleicht ein bisschen trotziger als sonst. Aber wir werden auf die Adventskerzen schauen - und Gott loben.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN