Predigt am 2. Advent in Berlin-Nikolasee (Jesaja 35 ,3-10)

Wolfgang Huber

"Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Saget den verzagten Herzen: ‚Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.' Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen. Und es wird dort eine Bahn sein, die der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen; und Schmerz und Seufzen werden entfliehen."


1.


"In diesem Land leben achtzig Millionen Behinderte. Mein großer Vorteil besteht darin, dass man es mir ansieht." Der Satz verfolgte mich in den Schlaf. Am späten Abend hatte ich ihn gehört. Unterwegs, allein in einem Kasseler Hotel, hatte ich den Fernseher angestellt, eher gedankenlos, ohne Ziel, nur um mich auf andere Gedanken zu bringen. Und dann dieser Satz: "In diesem Land leben achtzig Millionen Behinderte. Mein großer Vorteil besteht darin, dass man es mir ansieht."

Der ihn aussprach, war contergangeschädigt, ein Opfer jenes Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan, das, während der Schwangerschaft genommen, schwere Missbildungen bei dem Neugeborenen zur Folge hatte. Vor allem wegen ihrer kurzen Arme sind die "Contergankinder", die Anfang der siebziger Jahre zur Welt kamen, bekannt. Ich frage mich nach den Konflikten, die ihre Eltern heute, in einer Zeit der Pränataldiagnostik, durchstehen müssten. Dürften diese Kinder heute noch das Licht der Welt erblicken?

Thomas Quasthoff, von dem ich diesen Satz hörte, ist ein Contergankind. Eingeschränkt ist er durch mehr als nur durch zu kurze Arme. Aber er ist mit einer großen Musikalität und mit einer wunderbaren Stimme begabt. So sehr er in seinen Bewegungsmöglichkeiten behindert war, so konnte er doch Gesang lernen. Heute ist er ein bewunderter Sänger; als Professor lehrt er andere das Singen. Bald wird er auf der Opernbühne auftreten, behindert wie er ist. Unter Simon Rattle zum Beispiel wird er in Salzburg auftreten. Er erwartet, das Publikum werde dann mehr auf die Musik achten, weniger auf den pomphaften Auftritt. Denn die Menschen sehen ja, dass er behindert ist. Aber wir sind es alle.

Die Aussage von Thomas Quasthoff verfolgte mich in den Schlaf. Sie kam mir wieder in den Sinn, als mir die Aufforderung im Buch des Jesaja begegnete: "Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!" Da wird nicht eine kleine Gruppe von Leuten angeredet, denen es an den nötigen Kräften fehlt. Keiner von uns hat die Kraft, Bäume auszureißen. An bestimmten Punkten sind wir alle am Ende. Grenzen hat jeder; wir alle stoßen auf unsere Endlichkeit.

2.


Da werden Menschen ermutigt, nicht zu verzagen: "Saget den verzagten Herzen: ‚Seid getrost! Fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt und wird euch helfen!'"

Diese Zusage hat in der Geschichte Israels einen besonderen Ort. Wahrscheinlich hat es mit ihr folgende Bewandtnis. Im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt, in der Zeit des babylonischen Exils, kündigte ein namentlich nicht bekannter Prophet, der in der Tradition des großen Jesaja stand, den nach Babylon deportierten Juden ihre Befreiung an. Er versicherte ihnen, dass sie in das gelobte Land zurückkehren dürften. Er sagte ihnen eine neue Heilszeit an. Tatsächlich kehrten die Juden in das Land ihrer Väter und Mütter heim; sie kamen wieder nach Jerusalem zurück, an den Zion, zum Berg Gottes. Die Führungsschicht, die nach Babylon deportiert worden war, vereinigte sich wieder mit denen, die führungslos in der Heimat hatten zurückbleiben müssen.

Doch auf die Freude der Rückkehr folgten die Mühen der Ebene. Die erhofften paradiesischen Zustände ließen auf sich warten. Enttäuschung breitete sich aus. Das sollte der Lohn sein für die doppelte Anstrengung, für die Entbehrungen des Exils und für den Aufwand des Weges zurück? Das Grummeln nahm zu, die Unzufriedenheit wuchs. Was erreicht worden war, wurde kleingeredet. In den Gesprächen zählte nur noch, was fehlte. Auch uns ist dergleichen nur allzu gut bekannt.

Da tritt ein neuer Prophet auf, der die Verheißungen aus der Zeit des babylonischen Exils in Erinnerung ruft. Wer behauptet, die früheren Verheißungen seien übertrieben gewesen, der irrt. So sagt er. Ihre endgültige Erfüllung steht vielmehr noch bevor. Die Rückkehr ins gelobte Land, die Heimkehr nach Jerusalem war nur eine Etappe auf dem Weg. Der Wiederaufbau des Tempels war nur ein Angeld auf die messianische Zeit, die noch kommt. Die Mühen der Ebene sind kein Grund, an der Verheißung Gottes zu zweifeln. Die Zeit kommt noch, versichert er, in der die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Die Zeit kommt noch, in der die Menschen nicht mehr auf die Erlösung warten, sondern sie erleben. Dann wird keiner mehr sagen: Erlöster müssten mir die Glaubenden aussehen. Nein, dann sieht man es ihnen an.

Dank solcher Propheten hat die messianische Hoffnung alle Enttäuschungen überlebt. Vor allem im Volk Israel hat sie überlebt, das mehr Enttäuschungen erleben musste als andere Völker. Ohne diese messianische Hoffnung hätte es vielleicht seinen Zusammenhalt verloren. Ohne diese Hoffnung wäre der Plan einer Rückkehr in das verheißene Land nicht so beharrlich verfolgt worden, wie es die zionistische Bewegung tat. Unter dem Eindruck des Mordes am europäischen Judentum, der Shoah, kam es - auch dank dieser Hoffnung - schließlich zur Gründung des Staates Israel. Aber noch einmal wiederholte sich die Erfahrung: Wer nun den Anbruch einer messianischen Zeit erwartet hatte, sah sich enttäuscht. Der Verheißung ist zu viel Unfrieden untergemischt, bis zu den schrecklichen Zusammenstößen unserer Tage in Beit Jala und anderswo. Und der Rücktritt des israelischen Ministerpräsidenten Barak, der für den heutigen Tag angekündigt ist, macht die Lage weder einfacher noch hoffnungsvoller.

Viele von uns leiden in diesem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern auf beiden Seiten mit: auf der Seite israelischer Freunde, die ihre staatliche Existenz im Frieden sichern wollen und Ruhe finden wollen im Land ihrer Väter, und auf der Seite der Glieder unserer palästinensischen Partnerkirche, der kleinen evangelisch-lutherischen Kirche, die so sehr in Mitleidenschaft gezogen wird durch die Gewalt, der ihre eigenen Glieder zum Opfer fallen, und durch das Leid, das in den Familien einzieht durch sinnlose Gewalt von beiden Seiten.

Dass der Messias auf sich warten lässt - viele finden das auf grausame Weise bestätigt durch die Friedlosigkeit im Nahen Osten und an vielen anderen Orten. Auch uns ist die Versuchung nicht fremd: dass wir mutlos werden und die Hoffnung auf den Messias sinken lassen.

3.


Brauchen auch wir einen neuen Propheten, der die Verheißung wiederbelebt und uns erklärt: Ihre Erfüllung steht noch aus? Die Evangelien berichten, dass Johannes der Täufer aus dem Gefängnis heraus bei Jesus anfragen ließ, ob er der zu erwartende Messias sei - "oder sollen wir auf einen andern warten"? Darauf gab Jesus den Abgesandten des Johannes die Antwort: "Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert" (Matthäus 11,4-6).

Jesus knüpft an die Verheißung aus dem Jesajabuch an. In dem, was Gott mit ihm vorhat, bricht die Heilszeit sich Bahn. Wer hofft, hofft nicht ins Leere. Wer wartet, tut es nicht umsonst.

Aber das Heil kommt nicht so, dass alle Wunschträume sich erfüllen. Unser menschlich-allzumenschliches utopisches Bewusstsein kann sich nicht zur Ruhe legen, weil nun alles Sehnen zum Ziel kommt. Auch wenn Jesus Menschen aufrichtet, schafft er nicht alle Gebrechlichkeit aus der Welt. Auch wenn er Menschen auferweckt, macht er dem Tod noch kein Ende. Auch wenn er die Friedensstifter selig preist, führt er doch nicht eine neue Weltordnung herbei, in der es keinen Streit mehr gibt und kein Geschrei.

Am zweiten Adventssonntag muss man es ausdrücklich sagen: Der Unterschied ist noch nicht aufgehoben zwischen dem ersten und dem zweiten Advent, zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Messias. Wir leben schon in seiner Gegenwart und warten doch zugleich auf sein Kommen. Schon in der frühen Christenheit sind manche durch diese Spannung ins Grübeln und ins Zweifeln gekommen. Solches Grübeln und Zweifeln begegnet zum Beispiel im 2. Petrusbrief. Da fragt einer: "Wo bleibt denn Jesu verheißene Wiederkunft? Seit die Väter entschlafen sind, ist alles geblieben, wie es seit Anfang der Schöpfung war" (2. Petr. 3,4).

Was ist denn geblieben von der großen Vision des Jesajabuchs, dass wilde Tiere niemanden mehr ängstigen und dass die Erlösten auf dem heiligen Weg zum Tempel von nichts und von niemandem gestört werden? Was ist mit dem Traum, dass die Wüsten blühen und dass Verwüstung nirgendwo mehr um sich greift? So jedenfalls hat Jesus die messianische Verheißung nicht erfüllt. Aber er hat sie auch nicht zum kleinen Traum von der heilen Welt verkommen lassen, den manche verschämt jedes Jahr zu Weihnachten träumen. Die Projektion unserer Wunschträume schüttelt Jesus ab. Er weckt eine andere Art von Hoffnung, die nicht an der Oberfläche liegt, sondern in der Tiefe.

Mit Jesus entsteht nicht eine "schöne neue Welt", eine "brave new world", die auf ihre Weise auch zum Alptraum werden kann. Sondern mit ihm erscheint diese Welt in einem neuen Licht, im Licht einer unbefangenen und unbedingten Liebe, die uns ergreift und unserem Leben Sinn und Richtung gibt. Der Geist Christi erfüllt uns mit einem Lebensmut, der seine Kraft nicht aus unseren Wunschträumen, sondern aus dieser unbefangenen und unbedingten Liebe schöpft. In dieser Liebe kommt Gott uns nahe. In dieser Liebe verwandelt er unsere Befangenheiten in neue Kräfte, unsere Behinderungen in neue Gaben. Der Satz, wir seien alle behindert, verliert seine Schrecken. Denn wir sind alle mit Liebe beschenkt und zur Liebe begabt.

4.


Wirklich alle? Reicht die unbefangene und unbedingte Liebe Christi dafür aus? Vielleicht hilft auch Ihnen eine gleichnishafte Erfahrung bei der Antwort - eine gleichnishafte Erfahrung, auf die Christoph Aigner aufmerksam macht.

Jeder, der einen Sonnenuntergang am Meer erlebt, kann diese Erfahrung machen. Wenn ich am Strand stehe und der Sonne nachblicke, dann läuft der Lichtweg, den sie aussendet, vom Horizont geradewegs auf mich zu. Der Lichtweg, dem das Meer ein Bett bereitet, kommt mir in einer geraden Linie entgegen, nur mir. Welch ein Glück habe ich, dass ich an der richtigen Stelle stehe! Nur mir, so scheint es, gilt dieses Licht. Aber jeder, der von anderen Stellen des Strandes aus die untergehende Sonne beobachtet, hat auch einen solchen Lichtweg, der geradewegs über das Meer auf ihn zuläuft. Keine und keiner ist ausgeschlossen. Für alle reicht dieses Licht; für alle hat es einen besonderen Lichtweg bereit. Die Quelle all dieser Lichtwege wird nicht aufgebraucht; es will auf uns alle zukommen. Aber wir müssen uns dafür öffnen. "Wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nicht erblicken."

Dass wir alle unseren Lichtweg in dieser Adventszeit sehen und ihn den andern gönnen, das ist mein Wunsch zu diesem Zweiten Advent.

Amen