Predigt am Buß- und Bettag in Bremen (1. Mose 4, 1 - 16 a)
Stephan Reimers
Liebe Gemeinde,
wie ist das Böse in die Welt gekommen und woher gewinnt es immer wieder seine ungeheure Macht? Für den Bußtag ist das eine zentrale Frage. Deshalb möchte ich mit Ihnen heute über die biblische Geschichte von Kain und Abel nachdenken:
Diese Erzählung über die beiden ungleichen Brüder können wir auch als den Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem Bösen verstehen. Elie Wiesel, der Friedensnobelpreisträger, der als junger Jude Auschwitz überlebte, schreibt in seinem Buch "Adam, oder das Geheimnis des Anfangs":
" Wir verstehen die beiden nicht, spüren aber dunkel, dass ihr Schicksal uns angeht. Was sie erleben, ist der erste Völkermord und mehr als das Modell für einen Krieg. Ihr Verhalten ist uns nicht fremd. Alles, was sie dazu treibt, nimmt unser eigenes Verhalten in sogenannten Extremsituationen vorweg. Im Grenzbereich konfrontieren sie uns mit einem doppelgesichtigen Wesen, das wir nicht anschauen können, ohne vor Angst zu zittern. Und Angst, das ist der Name für diese Geschichte. Eine grund- und ausweglose Angst, die keine Überwindung und keine Erlösung kennt."
Ja, Angst ist ein Schlüssel für diese Geschichte. Ich verstehe das Gespräch, das Gott unmittelbar vor der Tat mit Kain führt, als einen Versuch, diese Angst aufzuspüren, um die kommende Katastrophe zu verhindern:
"Warum senkst du deinen Blick, Kain, (...) wenn du fromm bist, so kannst Du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, sie giert nach dir, du aber werde Herr über sie."
Dem Sinn dieser Anrede Gottes an Kain kommen wir ein Stück näher, wenn wir das hebräische Wort, das Luther mit "fromm" übersetzt, in seiner ganzen bedeutungsbreite ansehen. Das hebräische Wort "tam" heißt von seinem ursprünglichen Wortsinn her soviel wie: ganz, vollendet, vollständig, unversehrt. Gottes Rede an Kain ließe sich vielleicht so ausdrücken:
"Wärest du ganz, Kain, und würdest in dir ruhen, dann könntest du dich mitfreuen, dass das Opfer seines Bruders mir behagt. Vielleicht würdest du mich offen fragen, was mir an deinem nicht so gut gefällt. Aber du würdest dich nicht in dich hinein verkrampfen und mit finsterem Blick herumlaufen. Kain, du bist noch nicht "tam" - vollendet - dir fehlt noch etwas, weil du immer noch Angst hast, zu kurz zu kommen."
Die Angst, zu kurz zu kommen, den Reichtum des eigenen Lebens nicht sehen, ist das nicht ein Gefahr des Menschen, die ihn immer umgibt? Wir brauchen nur an uns selbst zu denken. In welch einem reichen Land dürfen wir leben, welche sozialen Sicherheiten erfahren, welchen kulturellen Reichtum genießen.
Und dennoch - trotz dieser unwahrscheinlichen Lebensmöglichkeiten kann all dies in unserem Bewusstsein zusammenschrumpfen und vergessen werden. Missmut und Leere und die Gefühle, "es fehlt noch etwas" oder "es ist doch alles zu mühselig" können den einzelnen so rasch überfluten, so dass wir die Frage "Warum ergrimmst du, und warum senkst du deinen Blick?" oft genug auch an uns selbst zu richten haben.
In dieser Eigenart gleicht der moderne Mensch dem ersten Menschenpaar aufs Haar. Denn über Adam und Eva heißt es: sie hatten alles - den wunderschönen Garten Eden und Unsterblichkeit - aber es war nicht genug. In Zeiten wirklichen Mangels kann diese Angst alles überfluten. Struggle for life, Kampf ums Überleben, die Angst, zu kurz zu kommen. Die großen Katastrophen unseres Jahrhunderts, die Rückfälle in die Barbarei, gründen sie nicht alle in diesem Motiv? Der Hamburger Historiker Fischer hat eindrucksvoll aufgezeigt, wie die deutschen Eliten in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg fürchteten, die Deutschen könnten als Volk ohne Raum bei der kolonialen Aufteilung der Welt zu kurz kommen. Der Griff nach der Weltmacht und in seiner Folge der 1. große Weltkrieg waren Frucht und Konsequenz dieser Urangst. Hitler steckte die Welt in Brand, weil er nach Raum für das deutsche Herrenvolk im Osten gierte.
In diesem Sommer hat uns die Sorge über rechte Gewalt bewegt. Sie hat verschiedene Ursachen. Aber ein Kern ist sicher, dass sich im Denken von perspektivlosen jungen Menschen die Stammtischrede einnistet: "Die Asylbewerber kriegen Wohnungen und Geld, und wir Deutschen kommen zu kurz."
In diesen Tagen wurden die Täter aus Guben verurteilt. Die Autorin Jana Simon beschreibt in ihrer Recherche über diese Stadt, was damals geschah und wie andere Bürger in Guben darüber sprechen:
"In Panik hatte er (der Algerier Farid Guendoul) kurz davor die gläserne Haustür eingetreten und sich das Bein aufgeschnitten. Er blutete stark. Draußen fahren Jugendliche Schleifen um das Haus und schreiben "Türken raus" und "Hass, Hass". Vor ihnen ist er geflohen.
Einer der Bewohner ruft in dieser Nacht die Polizei, vor seine Tür wagt er sich erst als es ruhig ist. Zu spät. Mehrer Nachbarn stehen rund um Guendoul. Ein paar Minuten drauf ist er tot, verblutet. Keiner der Nachbarn hat sich getraut, den Algerier ohne Handschuhe anzufassen. Er hätte ja Aids haben können, sagt einer von ihnen.
Ein junger Mann sagte mir: ´Was hat der um diese Zeit auf der Straße zu suchen, jeder weiß doch, dass es hier viele Rechtsradikale gibt.´ Er war kein Rechtsextremer oder frustrierter Arbeitsloser. Er arbeitete in der Glaserei seines Vaters und seine Freundin studierte Medizin. Er erzählte von seiner Welt in Guben. Davon, wie er Asylbewerber beim Einkaufen beobachtet- wie sie Strumpfhosen für 3,90 Mark und nicht die billigen für 99 Pfennig erwerben."
Neid und wirtschaftlicher Druck wird in solchen Bemerkungen spürbar. Die Folgen der deutschen Vereinigung wirken schmerzhaft nach, Ausgrenzungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen sind häufige Ventile. Am unteren Ende der Erfolgsleiter einer Wohlstandsgesellschaft will niemand stehen. Wie im Kinderspiel wird der "schwarze Peter" rasch weitergegeben.
Guben ist weit weg von Bremen. Aber hinter jedem Ostproblem steckt auch ein Westproblem. Die Menschen im Osten sahen sich mit einer Lage konfrontiert, die einer zwischen Eltern und Kindern nicht unähnlich ist: Für die Kinder gibt es immer jemanden, der schon besser weiß, wie es geht, der wirtschaftlich überlegen und an Erfahrungen gesättigt ist. Der wirtschaftliche Druck, auf eigenen Beinen zu stehen, ist groß. Die wechselseitigen überhöhten Erwartungen führen zu einer Art Vereinigungsstreß, der beide Seiten unfrei macht.
"Bist Du nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, sie giert nach dir, du aber werde Herr über sie." Diese letzte Warnung Gottes an Kain spricht jedem und jeder von uns eine wichtige Verheißung zu: Zwar lauert Sünde vor der Tür. Stets ist mit ihr zu rechnen, immer ist sie da, aber sie ist kein übermächtiges Schicksal, dem wir als Verlierer prinzipiell unterworfen sind. Das mit Gottes Hilfe erreichbare Ziel heißt: "Du aber werde Herr über sie."
Ich habe mich Anfang des Monats an eine Begegnung in Los Angeles erinnert. Ich war Teilnehmer einer deutschen Reisegruppe, und wir hatten uns mit jungen amerikanischen Juden zu eine Gespräch verabredet. "Habt Ihr Euch geändert?" Diese Frage kam ohne Vorwarnung auf uns zu und machte viele aus unserer Gruppe wütend.
Als ich am 9. November in Berlin vergeblich versuchte, durch die dichtgedrängte Menschenmenge zur Synagoge in der Oranienburger Straße vorzudringen, habe ich an jene Frage gedacht und die große Demonstration der über 200 000 Menschen im Herzen Berlins als einen Beitrag zu ihrer Beantwortung empfunden. Parteien, Sozialpartner und Kirchen haben gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde zu der Demonstration aufgerufen, aber das muss in einer freiheitlichen Demokratie noch lange nicht heißen, dass die Leute auch wirklich auf die Straße gehen.
Dass in unserem Land Lehren aus der Geschichte gezogen werden, ist auch daran ablesbar, wie in Deutschland über Eugenik, Euthanasie und Sterbehilfe diskutiert wird. Bei der aktuellen Diskussion über die EU-Grundrechtecharte haben wir daher auch sehr aufmerksam auf Artikel 25 geachtet, der den Rechten von Menschen mit Behinderungen gewidmet ist. Es heißt darin:
Integration von behinderten Menschen
Die Union anerkennt und achtet den Anspruch behinderter Menschen darauf, dass für sie Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft getroffen werden.
In der englischen Textfassung steht an der Stelle von Menschen "persons". Damit wird im Zeichen der inklusiven Sprach das mehrdeutige Wort "man" vermieden. Allerdings ist Vorsicht geboten. Seit der australische Philosoph Singer bezweifelt hat, ob alle Menschen den Qualitätsgrad "Person sein" erreichen, ist auf solche Schlüsselbegriffe genau zu achten. Deshalb ist es gut, dass die englische Fassung "persons" durch das eindeutige deutsche Wort "Mensch" interpretiert und im Sinn der dignitas humana, der Menschenwürde, festlegt wird. Denn im Blick auf die Themen der Bioethik weht im angelsächsischen Raum der Wind eines anderen Geistes, der nicht durch die geschichtlichen Erfahrungen von Euthanasie und Eugenik wie in unserem Land geprägt ist.
Ende September erschien in der FAZ ein Artikel des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers James Watson, in dem er Fragen stellt, die nicht nur mich sehr unruhig gemacht haben:
"Wird es in Zukunft als unmoralisch gelten, die Geburt von Kindern mit gravierenden genetischen Defekten zuzulassen?
Und können diese Kinder später rechtlich gegen ihre Eltern vorgehen, weil diese nicht verhindert haben, dass ihre Kinder mit nur einer kleinen Chance auf ein Leben ohne physisches und seelisches Leiden auf die Welt kamen?"
Und einige weitere Formulierungen des Nobelpreisträgers:
"Ich sehe daher nur unnötiges Leid durch Gesetze entstehen, die auf der Grundlage der Macht willkürlicher religiöser Eingebungen die Geburt erblich behinderter Kinder erzwingen, obwohl die Eltern es vorziehen würden, solche Schwangerschaften abzubrechen, weil sie hoffen, dass ihr nächstes Kind gesund sein wird."
Watsons Argumentation läuft darauf hinaus, dass zwar nicht der Staat, sondern die Eltern über Schwangerschaftsabbrüche zu entscheiden hätten. Aber er geht davon aus, dass die öffentliche Meinung schon genügend Druck machen werde und schließlich nur noch religiöse Neurotiker die eugenische Abtreibung verweigern.
Ich habe mich gefreut, dass Bundespräsident Rau umgehend zu diesem Artikel öffentlich kritisch Stellung genommen hat. Seine Sorge - wie auch die Sorge der Kirche - sei es, dass außer den Fachleuten der Biotechnologie kaum noch jemand in der Lage sei, zu beurteilen, was auf diesem Gebiet wirklich geschehe. Hier drohe die Wissensgesellschaft, sich in Richtung auf eine Unwissensgesellschaft zu entwickeln, in der die Gefahr der kollektiven Manipulierbarkeit dramatisch zunehme. Die EKD hat zu diesem Thema zur Zeit viele aktuelle Arbeitsvorhaben.
Wir Christen sind, so denke ich, stehen vor großen Konflikten angesichts von neuem Wissen. Martin Luther formuliert im Kleinen Katechismus ganz knapp: "Wir sollen Menschen sein und nicht Gott. Das ist die Summe." Die Unterscheidung zwischen Himmel und Erde, zwischen Schöpfer und Geschöpf gehört zu den Grundwahrheiten des christlichen Glaubens. Eine Herausforderung an uns ist, in einer freiheitlichen Gesellschaft plausibel zu machen, dass das neue Wissen die Gefahr in sich birgt, Menschen zu vereinnahmen und unter der reinen Perspektive der Nützlichkeit zu sehen. Die Hoffnung der Christen bezieht sich nicht auf die perfekte Ausschaltung von Leid durch den Zugriff auf Leben. Die Hoffnung der Christen gründet sich in der Bestimmung des Menschen zum Leben, auch über den Tod hinaus.
Hilde Domins Gedicht, das ich Ihnen zum Abschluss vorlesen möchte, ist ein leidenschaftlicher Widerspruch gegen die Endgültigkeit des Todes und gegen die Resignation vor Entwicklungen, die wir meinen, nicht beeinflussen zu können. Es heißt:
Abel steh auf
es muss neu gespielt werden
täglich muss es neu gespielt werden
täglich muss die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muss ja sein können -
wenn Du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Als Christen glauben wir an einen, der aufgestanden ist - an einen, der ganz war, der darum keine Angst hatte, das Seine hinzugeben für die vielen. Durch sein Tun hat er ein befreiendes Beispiel gegeben und durch sein Wort wissen wir, zu welcher Umkehr er uns ruft.
Amen