Predigt am 1. Weihnachtsfeiertag in der Münchner Matthäuskirche
EKD-Ratsvorsitzender Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
1. Johannes 3,1-6
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen noch erkannt.
Liebe Kinder Gottes hier in der Münchner Matthäuskirche,
nachdem ich die Worte aus dem Johannesbrief eben gelesen habe, kann ich Sie gar nicht anders anreden heute als genau so. Denn das sind wir, Kinder Gottes. Und das als Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten hierher kommen, mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen und vielleicht auch mit ganz unterschiedlichen Gefühlen.
Die einen hatten gestern Abend eine wunderbare Zeit. Sie hatten liebe Menschen um sich, haben sich an Geschenken gefreut, an diesen kleinen und großen Zeichen der Liebe. Sie durften die Harmonie erleben, von der in den Weihnachtstagen immer so viel die Rede ist. Die anderen haben sich genau dies auch gewünscht, es vielleicht ersehnt, aber sind enttäuscht worden. Haben Streit erlebt, der angesichts all der großen Erwartungen möglicherweise umso machtvoller und schmerzhafter aufgebrochen ist. Oder sie hatten gar niemand um sich, mit dem sie hätten gemeinsam feiern können.
Die einen, die heute hier sind, sind seit langem zu Hause im Glauben, verwurzelt in der Tradition, vertraut mit den Liedern und Texten des Weihnachtsfestes. Die anderen sind skeptisch, zweifelnd, kritisch, aber vielleicht auch suchend und neugierig, weil sie sich angezogen fühlen von den Lichtern, von der wunderbaren Musik, die einen großen Trost ausstrahlen. Die einen haben allen materiellen Wohlstand zum Leben, den sie brauchen. Andere müssen jeden Tag kämpfen, um zurechtzukommen.
So unterschiedlich sind wir alle, hier in der Münchner Matthäuskirche und überall auf der Welt, und doch gilt uns allen gemeinsam, was der 1. Johannesbrief sagt: „wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Weihnachten ist das Fest, an dem uns dieses „schon und noch nicht“, vielleicht in besonderer Weise deutlich wird. Da wohnt zum einen etwas in uns von dem, was die Bibel Gottes Kindschaft nennt. Eine Erfahrung, die wir als Kind machen durften. Eine Unschuld, eine unbedingte Freude, ein Lebendig Sein, das uns als Kind ganz und gar eins sein ließ mit unserem Schöpfer. Vielleicht haben Sie gestern Abend in staunende und glückliche Kindergesichter geschaut und sich an dieses Gefühl erinnern lassen. Und dann die Erfahrung, die wir im Erwachsenwerden unseres Lebens täglich machen: wir sind hineingeworfen in ein Leben mit all seinen Anforderungen und Verantwortungen, auch all seinen damit verbundenen Widersprüchen, in dem wir spüren, dass noch etwas aussteht, dass wir immer wieder abgeschnitten sind von der Gotteskindschaft.
An Weihnachten erleben wir, vielleicht auch zunächst nur in liebgewordenen Bräuchen und Ritualen, etwas von dem, was noch aussteht, in ganz sinnlicher Weise schon jetzt. Da sind der Weihnachtsbaum, die Äpfel und die Kugeln und der ganze Schmuck, die das Paradies versinnbildlichen. Da sind die Erinnerungen an die Kindheit und die leuchtenden Augen und die Sehnsucht danach wieder wie die Kinder in unschuldigen, paradiesischen Zuständen leben zu können, ohne Sorgen und ohne Ängste.
Mit dieser Sehnsucht machen wir uns auf zur Krippe. Wir kommen, weil wir noch nicht fertig sind. Weil wir mehr wollen. Weil wir eine Sehnsucht haben, die noch nicht erfüllt ist. Weil noch nicht offenbar geworden ist, was wir sein werden. Wir stehen an der Krippe und gleichzeitig sind und bleiben wir immer unterwegs zu ihr, so wie die Weisen aus dem Morgenland.
„Das Leben“ – so hat Martin Luther einmal gesagt (Sie finden das Zitat hinter dem Lied 200 in unserem Gesangbuch) – „ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung. Wir sind´s noch nicht, wir werden´s aber. Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“
Ja, es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden, aber wir spüren, wir ahnen es – vielleicht in keiner anderen Zeit mehr als an Weihnachten. Die Lichter berühren etwas in uns, was den Blick auf eine Zukunft öffnet, in der alle Dunkelheit überwunden ist. Die Klänge der Musik erreichen unser Herz und unsere Seele und eröffnen ein Gefühl des Ganzseins, des Heilseins, das den Alltag nach vorne öffnet und uns froh macht. Die Engel da oben auf der Empore singen „Jauchzet, frohlocket, preiset die Tage, rühmet, was heute der Höchste getan!“ Und wir Kinder Gottes hören es und stimmen an diesem Weihnachtstag innerlich ein und sagen: mehr davon! Denn es ist zwar noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Aber in manchen Zeiten können wir es ahnen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“
Vermutlich hatten der Texter und der Komponist des Luther-Pop-Oratoriums Michael Kunze und Dieter Falk die Worte aus dem Johannesbrief nicht vor Augen, als sie den Refrain in dem Lied dichteten, das zum absoluten Schlager des Reformationsjahres 2017 geworden ist. Aber es ist erstaunlich, dass genau die zentralen Worte aus dem Johannesbrief hier wieder auftauchen. Johannes spricht von Gottes Kindern. Er spricht von den Sündern, er spricht von der Hoffnung und der Liebe, die uns mit Gott und miteinander verbindet.
All das nimmt der Refrain aus dem Luther-Oratorium auf, wenn es da heißt: „Wir sind Gottes Kinder, wo auch immer. Keiner ist allein. Und sind wir auch Sünder, es muss niemand ohne Hoffnung sein.“
Manchmal muss man die alten Worte in eine Sprache übersetzen, die jenseits aller exegetischen Feinheiten und Kontextualisierungen ihren Kern in die Herzen der Menschen von heute bringt. Das Pop-Oratorium war für mich genau deswegen eines der Highlights des Reformationsjubiläumsjahres, weil es das geschafft und damit viele Hunderttausend Menschen erreicht hat. Der Popsong intoniert die alten Worte aus dem Johannesbrief, die erstmal fremd klingen, aber die wunderbare Vision ausdrücken, die mit der Geburt Jesu Christi Wirklichkeit geworden ist:
„Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! … Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder… Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist… Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme.“
Gott ist in dem Kind in der Krippe erschienen, um unsere Sünde wegzunehmen. Deswegen dürfen wir jetzt sagen: wir sind schon Gottes Kinder. Das, liebe Gemeinde, ist die schönste Weihnachtsbotschaft, die ich mir vorstellen kann. Es ist die große Befreiungsbotschaft für unser persönliches Leben ebenso wie für die Welt.
Gott wird Mensch. Gott erneuert unsere Beziehungen. Gott nimmt uns mit auf den Weg der Heilung. Darin überwindet er die Sünde. Denn die Sünde ist ja nicht irgendeine böse Natur, die in uns drin steckt. Die Sünde ist auch nichts Moralisches. Sünde ist die große Beziehungsstörung, die unser Leben immer wieder so sehr belastet und manchmal sogar kaputt macht. Sünde ist dieses große Gift, das sich in die Beziehungen zwischen Nationen, zwischen Religionen, zwischen Kulturen hineinschleicht und sie solange vergiftet, bis sie sich gegenseitig verdächtigen, gegenseitig abwerten und irgendwann gegenseitig umbringen.
Niemand hat für mich besser auf den Punkt gebracht, was Sünde bedeutet, als Martin Luther. Der Mensch ist verkrümmt in sich selbst – das ist Sünde, hat er gesagt. Der Mensch verschließt sich der Zuwendung Gottes. Und genauso verschließt er sich dem Mitmenschen. Er sieht nur noch sich selbst, seine Errungenschaften, seine Interessen, seine Ansprüche und wird blind gegenüber Gott und gegenüber dem Mitmenschen.
Wir kennen das aus unserem eigenen persönlichen Leben. Aber auch Gemeinschaften können verkrümmt sein in sich selbst. Wer die Welt nur noch als Kampfplatz der Interessen sieht und mit dieser Brille, gegen andere gewendet, sagt: „Amerika zuerst“, oder „Deutschland zuerst“, oder was immer sonst „zuerst“, der öffnet nicht die Beziehungen hin zu den anderen, sondern der verschließt sie. Nichts spricht dagegen, den je eigenen Lokalpatriotismus zu pflegen, sich an seiner Heimat zu freuen und sie zu lieben. Es gibt vielleicht nichts Schöneres als eine Heimat zu haben und sie zu lieben. Aber echtes Heimatgefühl braucht keine hierarchische Überordnung der einen über die anderen. Es ist nicht verkrümmt in sich selbst, sondern es ist offen für die anderen. Es heißt sie willkommen.
Weihnachten ist die größte Kraftquelle dafür. Denn Weihnachten ist das Fest der Liebe. In Jesus kam Gott als Mensch in die Welt. Er wurde geboren in einer ärmlichen Unterkunft in Bethlehem. Jesus war Jude, aber seine Botschaft von Gottes Liebe hat alle Ländergrenzen übersprungen. Denn Gottes Liebe gilt jedem Menschen auf dieser Erde. Darum ist der christliche Glaube eine große Bewegung der Humanität und der Hoffnung. Gott wird Mensch. Er wird nicht zuerst Deutscher, Amerikaner, Russe oder Chinese. Er wird einfach nur Mensch. Und legt damit den Keim zu einer Revolution der Menschenliebe, der größten Revolution die die Welt je gesehen hat. Die Weihnachtsfreude in so vielen Ländern der Erde, die von dieser Revolution der Menschenliebe zeugt, ist die stärkste Medizin gegen den Virus des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und des religiösen Fanatismus in Europa und in der Welt, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben.
Ja: „Wir sind Gottes Kinder, wo auch immer. Keiner ist allein. Und sind wir auch Sünder, es muss niemand ohne Hoffnung sein.“
Lasst uns die Weihnachtsenergie in unseren Alltag mitnehmen. Lasst uns mit unserem eigenen Leben Christus, den Heiland der Welt bezeugen, der in die Dunkelheit des Hasses, des Unrechts und der Gewalt das Licht der Liebe und der Gerechtigkeit Gottes gebracht hat – ein Licht, das niemand mehr auslöschen kann.
Der Schluss des Liedes aus dem Luther-Oratorium bringt es auf den Punkt. Der leicht abgewandelte Refrain nimmt die Zukunft in den Blick, die sich für uns am Weihnachtstag öffnet: „Wir sind Gottes Kinder, wo auch immer. Keiner ist allein. Wir sind Gottes Kinder, lasst uns mutig und wahrhaftig sein. Und frei!“
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
AMEN