Predigt zum Buß- und Bettag am 18. November 2020 in St. Matthäus, München

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm im Talar

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (Archivbild)

Jesaja 1,10-18

Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra!  11 Was soll mir die Menge eurer Opfer?, spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke.  12 Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor meinem Angesicht – wer fordert denn von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet?  13 Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Gräuel! Neumond und Sabbat, den Ruf zur Versammlung – Frevel und Festversammlung – ich mag es nicht!  14 Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen.  15 Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.  16 Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, 17 lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!  18 So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der HERR. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Purpur, soll sie doch wie Wolle werden.

Liebe Gemeinde,

Zukunft. Dieses große Wort steht als Schlüsselwort unserer diesjährigen Buß- und Bettagskampagne vorne auf Ihrem Gottesdienstprogramm. Darunter finden Sie einen Schalter, der auf OFF steht. Da ist etwas ausgeschaltet. Und doch stehen daneben noch zwei Buchstaben, die alles verändern. E und N. Aus dem OFF wird OFFEN. Zukunft, die abgeschaltet scheint, wird zur Zukunft, die offen ist. Das ist – in das Bild des Schalters gebracht – der Kern des Buß- und Bettags. Es sind nur zwei Buchstaben vom OFF zum OFFEN. Aber sie machen den entscheidenden Unterschied.

Was sind unsere zwei Buchstaben an diesem so besonderen Buß- und Bettag des Jahres 2020? Wir können sie wahrhaft gebrauchen in Zeiten, in denen das OFF großgeschrieben ist. So vieles ist ausgeschaltet. Wir können heute nicht wie sonst am Bußtag in der Matthäuskirche in einer vollen Kirche feiern, sondern müssen uns in großen Abständen auf die Kirche verteilen. Den traditionellen Bußtagsempfang nach dem Gottesdienst, zu dem wir sonst immer Politik, Gesellschaft, Verwaltung, Gerichte eingeladen haben, können wir in diesem Jahr nicht feiern. Wir stehen damit in einer großen Gemeinschaft von Menschen, die vieles, was unser Leben bisher geprägt hat, auf OFF schalten müssen.

Und wir werden müde. Wir spüren, dass wir innerlich verwundet sind. Dass die Geduld zu Ende geht. Dass wir allmählich auch innerlich auf OFF schalten. Dass wir genau solche zwei Buchstaben brauchen, um vom OFF wieder zum OFFEN zu kommen. Um die Seele, die sich verschließen will, wieder zu öffnen. Was ist es, das uns dazu helfen kann? Wir sehnen uns nach Kraftquellen, die uns aufrichten. Nach Stärkung, die uns neue Energie gibt. Nach Worten, die die Zukunft öffnen.

Und dann kommt solch ein herausfordernder, solch ein auf Attacke gebürsteter, solch ein zorniger Predigttext an diesem Buß- und Bettag 2020! Ausgerechnet jetzt! Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem wir nun wirklich genug Herausforderungen zu tragen haben! „Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor meinem Angesicht – wer fordert denn von euch, dass ihr meine Vorhöfe zertretet? Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin's müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.“

Ja, es ist eine zornige Stimme, die da laut wird. Sie ist rund zweieinhalbtausend Jahre alt. So lange ist es her, dass der Prophet Jesaja zum Volk Israel gesprochen hat. Und er hatte Grund, zornig zu sein. Denn er sah, wie die Gebote Gottes zum Schutz der Armen immer mehr ignoriert wurden. Wie selbst in den Gottesdiensten die Ungerechtigkeit, die doch eigentlich direkt vor Augen stand, einfach ausgeblendet wurde.

Jerusalem war eine reiche Stadt zur Zeit Jesajas. In Jerusalem wohnten die Landbesitzer. Rund herum pachteten arme Bauern das Land und mussten Zinsen dafür bezahlen. Allzu oft reichte der Ertrag dazu nicht. Immer mehr gerieten sie in Schuldknechtschaft. An Euren Händen klebt Blut, sagt Jesaja zu den reichen Landbesitzern in Jerusalem. Wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.

Wie kann ein Prediger, der sich doch freuen müsste, wenn die Menschen beten, so etwas sagen?

Die Antwort für Jesaja zu geben, ist nicht schwer. Weil Jesaja die vergessenen Gebote Gottes in Erinnerung rufen wollte, drastisch in Erinnerung rufen wollte. Und vielleicht auch das: weil er das Gebot der Liebe zu Gott und den Mitmenschen, das später Jesus uns allen, zusammengesetzt aus den Sätzen der hebräischen Bibel, mit auf den Weg geben würde, selbst im Herzen trug. Weil er mit den Armen mitfühlte und ihn die Ignoranz der anderen so zornig machte.

Es ist nicht überliefert, wie die Angesprochenen auf die harten Worte des Jesaja reagiert haben. Ob sie aufgestanden sind? Rausgegangen sind? Und sich gesagt haben: ich gehe in den Tempel, um Kraft zugesprochen zu bekommen und nicht, um mich beschimpfen zu lassen!? Oder ob sie geblieben sind, aber abgeschaltet haben, weil jetzt wieder nur die moralischen Ermahnungen kommen?

Oder ob sie bis zu Ende zugehört haben und sich von den Worten Jesajas haben berühren lassen?

Denn er lässt es ja nicht bei der Konfrontation mit dem, was falsch läuft. Er zeigt eine Perspektive auf: „Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen. Lasst ab vom Bösen, lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!“

Ja, das ist eine echte Perspektive. Nicht das schlechte Gewissen bleibt übrig, nicht die Verzagtheit angesichts all der Umkehrforderungen, nicht das Gefühl, kleingemacht worden zu sein, sondern was bleibt, ist eine geöffnete Tür in die Zukunft. Die Worte Jesajas sind tatsächlich ein bisschen wie das E und das N auf unserem Gottesdienstblatt: sie legen den Schalter um vom OFF auf das OFFEN.

Waschen, reinigen, Gutes tun lernen, sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen, den Unterdrückten helfen, dafür sorgen, dass auch die Witwen und Waisen, dass auch die Armen leben können, morgens mit dem Gefühl aufstehen und abends mit dem Gefühl schlafen gehen zu können, nicht gegen die anderen zu leben, sondern mit den Anderen zu leben, das ist gutes Leben!!

Mich, liebe Gemeinde, berühren diese Worte des Jesaja an diesem Bußtag im Pandemiejahr zutiefst. Denn ich kann sie nicht vergessen, all die Menschen hier bei uns und in der ganzen Welt, die wir doch im kirchlichen Kontext so oft unsere „Brüder und Schwestern“ nennen und die jetzt unsere geschwisterliche Solidarität wirklich brauchen. Vielleicht geht mir ihre Not noch mehr nah, weil ich die Verwundung selbst spüre.

Habe ich die Kraft dazu, etwas zu ändern? Können die Worte Jesajas mein Herz von OFF auf OFFEN schalten? Bin ich in der Lage, diese große Herausforderung zu bewältigen? Die ehrliche Antwort kann eigentlich nur ein Nein sein.

Wenn da nicht dieser letzte Satz wäre: „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Purpur, soll sie doch wie Wolle werden.“ Es ist ein lösender Satz, es ist ein heilender Satz. Es ist ein rettender Satz.

Es ist ein Satz, der uns in den Kern des Buß- und Bettags führt. Der uns in eine Bewegung unserer Seele leitet, die von der Buße zur Vergebung und darin zur Freiheit führt. Und es sind wieder zwei Buchstaben, zwei griechische Buchstaben, die uns vom OFF zum OFFEN führen. Das übereinandergeschriebene Chi und Rho ist als Christusmonogramm bereits seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. bekannt und ist damit eines der ältesten christlichen Embleme. Es zeigt die ersten beiden Buchstaben des griechischen Wortes Χριστός Christós.

Ja, Christus ist es, der die Tür in die Freiheit öffnet. Wir dürfen heute mit all unserer Angst, mit all unseren Fragen mit all unserem Nichtkönnen zu ihm kommen. Seinem Heilandsruf folgen und ihm vertrauen: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Wir können mit unserer Schuld zu ihm kommen und Vergebung empfangen.

Wir können Christus in unsere Seele einlassen. Und spüren, wie der Schalter für unsere Zukunft sich umlegt: Vom OFF zum OFFEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

AMEN