Predigt Huber 23
Wolfgang Huber
Predigt I
"Sorgt euch um nichts", liebe Gemeinde. Die unbefangene Freiheit von der Sorge wird uns am letzten Tag des alten Jahres zugerufen. Sorgt euch um nichts; denn unser Leben wird nicht aus unserer Sorge geboren, sondern aus der Liebe Gottes. Und es erneuert sich nicht durch unsere Kraftanstrengung, sondern durch Gottes Gnade.
Gewiss reden die Religionen unterschiedlich von Gott. Verschieden begreifen sie auch das Verhältnis zwischen Gottes Gnade und dem, was wir Menschen leisten können. Aber eines ist ihnen gemeinsam: Wo immer Menschen sich auf Gott verlassen, wo immer sie dem Heiligen Raum gewähren, kann ihrer eigenen Sorge kein letzter Ernst zukommen. Denn wo immer die eigene Sorge als das wichtigste gilt, ist der Unterschied zwischen Gott und dem Menschen schon verspielt. Wer auf Gott setzt, nimmt sich selbst nicht zu wichtig. Er hofft auf eine Würde, die er sich nicht selbst erwerben kann. Er achtet die Heiligkeit des Lebens, die er nicht selbst hervorbringt.
Schon wieder ist ein Jahr vergangen - das so heiß ersehnte Jahr mit den drei Nullen. So besonders, wie erwartet, war es nicht. In unserer Verschiedenheit zusammenzuleben, haben wir noch immer nicht gelernt. Mit dem respektvollen Dialog zwischen den Kulturen und Religionen hapert es sehr. Verantwortungslose Gewalttaten haben gezeigt, dass der Antisemitismus unter uns keineswegs ausgerottet ist. Noch immer beklagen wir den Geist der Verachtung, der sich selbst überhebt. Noch immer beklagen wir die Opfer von Krieg und Gewalt, auch im Nahen Osten, wo der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern immer wieder aufflammt.
Wo kämen wir hin, wenn wir für die Bilanz dieses Jahres selbst geradestehen müssten? Wie wäre uns zumute, wenn wir alles, was Menschen sich antun, selber verantworten müssten? Auch wenn alles, was uns selbst in diesem Jahr misslungen ist, ein für allemal auf unserem Schuldkonto stünde - wie sollten wir dann wieder ins Freie finden? "Sorgt euch um nichts", schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Philippi, "sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden!"
Der Mensch ist mehr, als er in seiner Sorge aus sich macht. Das ist die Grunderfahrung des Glaubens. Sie gibt uns die Kraft zum Neuanfang. Für Christen verbürgt Jesus diesen neuen Anfang. Andere Religionen reden darüber anders. Aber diese Verschiedenheit hindert uns nicht daran, voneinander zu lernen. Voneinander und miteinander wollen wir lernen, für die Gegenwart Gottes offen zu sein und dem Heiligen Raum zu lassen. Wir wollen uns nicht der Macht des Faktischen ausliefern und unserer eigenen Sorge das letzte Wort lassen.
Was ihr empfangen habt, sagt Paulus, das soll euer Handeln bestimmen. Dann wird der Gott des Friedens mit euch sein.
Predigt II
Die Freiheit von der Sorge ist ein Grundthema der biblischen Weisheit. Besonders deutlich spricht Jesus von ihr: "Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen."
Nicht unsere Sorge, sondern die Wirklichkeit Gottes sollte im Gespräch zwischen den Religionen das Thema sein. In diesem Gespräch ist aber oft nur unser menschliches Handeln im Blick. Können die Religionen nicht eine gemeinsame Moral für die Menschheit hervorbringen, wird gefragt. Die Suche nach dieser gemeinsamen Moral endet oft sehr schlicht. "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!" Dabei bleibt es dann meistens.
Ich schätze die Suche nach gemeinsamen Maßstäben des Zusammenlebens nicht gering. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für eine Kultur der Achtung einzutreten: der Achtung vor dem menschlichen Leben wie vor der Schöpfung im Ganzen. Aber eine solche Kultur der Achtung gewinnt nur Kraft, wenn die religiösen Quellen nicht versiegen, aus denen sie sich speist.
Religion ist mehr als Moral. Glaube ist mehr als Werteerziehung. Gläubige Menschen sind nicht nur Moralapostel, wie es oft abfällig heißt. Für die Zukunft der Menschheit müssen die Religionen mehr einbringen als nur die Hoffnung auf einen besseren Menschen. Für die Zukunft der Menschheit können sie nichts Wichtigeres einbringen als die Hoffnung auf Gott, der auch dann für die Gerechtigkeit einsteht, wenn wir vor ihr versagen. In ihrem Dialog können die Religionen sich nicht darauf beschränken, über den Menschen zu reden. Dem Gespräch über Gott können sie nicht ausweichen. Dass sie über Gott friedlich streiten, ist ihr wichtigster Beitrag zum Frieden.
Wir dürften die Zukunft der Menschen nicht länger Gott überlassen, hat neulich einer gesagt. Gegen solche Überheblichkeit ist Widerspruch vonnöten. Hier sollten die Religionen mit einer Stimme sprechen.
Gibt es eine wichtigere Hoffnung als die, dass der Gott des Friedens mit uns ist? Sie trägt uns auch über die Schwelle des neuen Jahres. Nicht unsere Leistungsbilanz gibt uns den Mut für ein neues Jahr - auch nicht die Lautstärke der Knaller, mit denen wir es begrüßen. Dass wir unsere Bitten vor Gott bringen, ist das A und O.
Bevor wir handeln können, empfangen wir. Bevor wir neu anfangen, hat Gott schon mit uns angefangen.
Amen