Weihnachtspredigt in der Marktkirche Hannover
Margot Käßmann
Gnade sei mit euch und Friede von Gott und dem Herrn Jesus Christus. Amen!
Liebe Gemeinde,
da ist sie nun, die Heilige Nacht. Wie haben wir gewartet, wie uns vorbereitet! Jedes Jahr neu erwarten wir die Geburt dieses Kindes. Das ist schon spannend! Bei anderen würden wir vielleicht ein Gedenken des Geburtstages durchführen: 50 Jahre, 150 Jahre, 200 Jahre, 250 Jahre. Bei Christus feiern wir die Geburt neu, jedes Jahr, seit 2000 Jahren. Unsere Sehnsucht nach erfülltem Leben, nach Sinn, unsere Sehnsucht nach dem Geheimnis Gottes wartet Jahr für Jahr in dieser Heiligen Nacht auf Erfüllung.
Wir haben uns vorbereitet auf dieses Kommen des Gotteskindes, nichts anderes meint Advent. Ehrlich gesagt ist die Vorbereitung für mich durchaus getrübt gewesen in diesem Jahr. Weihnachten steht in der Gefahr, dem Druck der Kommerzialisierung zum Opfer zu fallen. Da sind die viel zu früh eröffneten Weihnachtsmärkte und Schaufensterdekorationen. Manche können nur noch zynisch lächeln, wenn im August die Spekulatius-Saison eröffnet und der Weihnachtsmarkt vor Totensonntag. Oder die Firma, die in diesem Jahr ganz wunderbar eine Weihnachtsfrau namens Nikola und einen Weihnachtsmann namens Niklas auf den Markt gebracht hat. In der Beschreibung heißt es man habe versucht, dem Wunsch nachzukommen, dass der Nikolaus "einen jungen Feger" als Partnerin hat.. Ich zitiere: "Angefangen bei der Form, die in den ersten Stadien noch sehr kräftig, um nicht zu sagen pummelig ausfiel und in mehreren Schritten durch eine Diät laufen musste", setzte sich dann "die Forderung nach dem deutlichen Busen, in den beim Ausgießen jedoch zuviel Schokolade gelaufen wäre und der das Stanniolieren sehr erschwert hätte", durch Testverkäufe eine Nikola durch, die sich "bezüglich der Schönheitsideale" ..."bei der Statur an dem berühmtesten Pin-up, dem der kalifornischen Rettungsschwimmerin orientiert" durch. Zum Trost darf ich Ihnen sagen, dass dazu eben ein Niklas konstruiert wurde, der, ich zitiere: "eine sportlich, muskulöse Figur mit knackigem Hintern" darstellt und "die gewünschte Bart- und Brustbehaarung" dazu liefert.
Ach, Seufz, liebe Gemeinde, da könnte ich fortfahren und lamentieren über all die Kommerzialisierung von Weihnachten etc. pp. Lassen wir das. Als Christinnen und Christen wollen wir uns am Heiligen Abend auf das konzentrieren, worum es bei Weihnachten wirklich geht unter dieser dicken Schicht von Kommerz und Kitsch. Wir haben es gehört im Lukasevangelium:
"Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren."
Das ist die Botschaft von Weihnachten. Es geht darum, dass uns ein Kind geboren ist. Das ist das Geschenk, um das sich Weihnachten dreht, und das kann kein gekauftes Geschenk je aufwiegen. Uns ist ein Kind geboren zu Bethlehem. Und dieses Kind sagt uns Frieden zu. Können wir dem nachgehen? Lassen Sie los, was Sie bewegt, was Sie umtreibt. Es geht nicht darum, ob das Abendessen gelingt, ob die Harmonie in der Familie perfekt sein wird, ob sich alle freuen und zusammenstehen können. Nein, es geht um dich und um mich. Es geht um jeden und jede, die sich heute hier in der Kirche und in Kirchen auf der ganzen Welt versammeln. Es geht um unser Leben und darum, was wir mit diesem Leben anfangen. Diesem begrenzten Leben. Der Predigttext für diesen Abend stammt aus dem Johannesevangelium. Dort heißt es im 7. Kapitel in den Versen 28 ff.:
"Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und wißt, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt."
Wer ist dieser Jesus?, diese Frage treibt Menschen seit 2000 Jahren um. Schon die drei Weisen, die einen König suchten und ein Kind fanden. Auch Maria, der Großes prophezeit wurde. Josef, der mit Frau und Kind auf der Flucht war. Die Hirten, die Heil erwarteten und dieses Elend sehen mussten. Wer ist Jesus?
Zum einen, sagt Jesus im Predigttext, ist er natürlich ganz profan der Sohn der Maria, der Sohn des Josef, stammend aus Nazareth. Das haben ihm Menschen auch immer wieder vorgeworfen: Was bildest du dir ein, die Schrift auszulegen, du Zimmermannssohn! Und doch haben viele gespürt, dahinter, hinter diesen profanen Daten, ist ein ganz anderer, einer, der etwas weiß von der Liebe Gottes, der spürbar, erfahrbar, sichtbar macht, wie Gott sich Menschen zuwendet. Jesus sagt: "ich kenne ihn, der mich gesandt hat". Er ist der, der Gott kennt. Der uns beibringt ihn Vater zu nennen, als Mutter zu erfahren, nah, zugänglich. Nicht der ferne Weltenlenker, sondern Gott uns nahe, zur Welt gekommen. Gott, der Menschen besucht, in Beziehung zu ihnen tritt.
Liebe Gemeinde, ob das die Geschichte von Weihnachten ist? Dass wir uns fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen? Die Geburt Jesu schlägt einen Bogen von Gott zu Mensch. Selbst in unserer so hoch technisierten Welt spüren wir ja, dass wir nicht alles beherrschen, nicht alles erklären, nicht alles im Griff haben. Und die große Sehnsucht an diesem Weihnachtsabend, die große Sehnsucht, die uns erfüllt, ist eine Sehnsucht nach Sinn, nach dem Wissen von woher und wohin. Der Hoffnung, dass wir wissen, was unser Leben bedeutet.
Jesus sagt in dem Predigttext aus dem Johannesevangelium, dass er nicht ist, von dem alle meinen, dass sie schon wüssten, wer er ist. Er ist auch ein ganz anderer vor Gott, weil Gott ihn selbst ansieht und ihm einen Auftrag gegeben hat. Das ist unser Weihnachtsthema. Wir alle leben ja mit solchen Fassaden, mit Erklärungen. Natürlich wissen wir, wer wir sind. Geboren am, Tochter oder Sohn von, dies und das in der Vita. Viele Äußerlichkeiten prägen uns, und andere nehmen uns wahr über diese Äußerlichkeiten. Wenn Sie und ich uns heute Abend Gott stellen müssten und sagen müssten, wer wir sind, dann würden wir wahrscheinlich ins Trudeln geraten. Wenn wir sagen müssten, was wir denken, fühlen, empfinden - das wäre vor Gott schon ein schonungsloser Angang, eine Offenbarung.
Mich hat Dietrich Bonhoeffer da stets beeindruckt, der im Gefängnis folgendes Gedicht geschrieben hat:
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloß.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
Liebe Gemeinde, Weihnachten macht Mut, uns offen und schonungslos anzuschauen. Wer bin ich? Woher komme ich? Was sind meine Wurzeln? Wo liegen meine Stärken, wo habe ich festen Boden unter den Füßen? Heute kann ich das Wagnis eingehen, mich zu fragen, wo ich stehe. Ist mein Leben eines, das im Einklang steht mit dem, was ich denke, was ich fühle? Wohin will ich gehen in der Zeit, die mir bleibt?
Weihnachten ist eine Herausforderung, weil jeder und jede von uns vor Gott steht. Wir sehen dieses Kind in der Krippe an und wissen: Gott hat die Welt nicht allein gelassen. Gott ist gar nicht verborgen, sondern Gott ist erfahrbar. Ja, ich glaube, dass die Engel, die den Hirten begegnet sind, mit denen Maria sprach und die auch nach dem Tode Jesu die Jünger ausgesandt haben, dass diese Engel uns berühren und uns fragen: Was willst du mit deinem Leben. Weihnachten ist auch eine Zeit des Trostes, liebe Gemeinde. Wir können vor Gott nämlich auch sagen: Das ist mir nicht gelungen. Da habe ich große Fragen. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Anderen bin ich wieder nicht gerecht geworden. Auch gegenüber meinen eigenen Ansprüchen habe ich versagt. Das soll neu werden. Ich bin einsam. Hilf mir, ich habe Angst.
Liebe Gemeinde, wenn wir Weihnachten von allem Kitsch entzerren könnten, wenn wir Weihnachten frei machen könnten von all den Verpackungen, unter denen es steckt, dann könnte es für uns eine Befreiung sein. Freiheit bedeuten von allen Bindungen dieser Welt, weil wir nur Gott gegenüber verantwortlich sind. Das "nur" ist allerdings eine Untertreibung. Weil vor Gott verantwortlich sein heißt, dass Sie und ich, dass du und ich unser Leben bloßlegen und angucken, schonungslos. Und dann ist Weihnachten keine süße Soße, sondern ein Trost, wenn ich einsam bin, krank, allein und versagt habe. Und eine Ermutigung, dass mein Leben Sinn macht, dass ich neue Wege finden kann, auch wenn manches hoffnungslos erscheint.
Weihnachten ist eine Friedensbotschaft. "Friede sei mit euch" das ist die Visitenkarte Jesu von Anbeginn an in seinem Leben. Diesen Frieden vermitteln die Engel, die ihn ankündigen, und diesen vermittelt ganz zum Ende der Evangelien auch der Auferstandene: "Friede sei mit euch". Friede sei mit euch heißt für mich, dass ich einen Einklang finden kann zwischen meiner äußeren Fassade und dem, was ich bin, wer ich wirklich bin. Friede sei mit euch heißt, dass ich mit meinen Kindern und Eltern, mit meinen Freundinnen und Freunden, mit Bekannten offen sein kann, über Fehler und Schwächen sprechen kann und mich auch öffnen kann dafür, dass ich vielleicht die Trösterin oder der Tröster bin, der starke Arm, den manche brauchen. "Friede sei mit euch", das gilt auch für unser Land. Ich wünsche mir, dass Menschen in unserem Land erkennen, dass es Heimat werden kann für Schwarze und Weiße, für Schwache und Starke, dass eine Solidargemeinschaft neu entsteht, die ein gesellschaftliches Gewebe miteinander erzeugt wird, das Kraft ausströmt und Halt für viele. Für die Familien, die keine Lobby haben. Für die Kinder, die Angst vor Weihnachten kennen, weil es Krach gibt und Schläge. Ich denke an die jungen Männer in den Justizvollzugsanstalten, die allein sind und Orientierung brauchen. Ich denke an die Mütter, die sich aufopfern und doch keinen Ausweg sehen, von denen jede vierte als Alleinerziehende auf Sozialhilfe angewiesen ist. Ich denke an die Alten, die sich einsam und abgeschoben fühlen. An die, die allein leben und nicht dem Image des coolen Single entsprechen.
Und es geht um Frieden auf dem ganzen bewohnten Erdkreis. Wir verknüpfen uns heute in der Sehnsucht nach Heil und Frieden mit denen, die hungern auf dieser Welt. Denen, die Opfer von Gewalt und Krieg und Ungerechtigkeit sind. Uns allen ist heute der Heiland geboren. Deshalb wenden wir uns von anderen nicht ab und denken nur über uns selbst nach. Deshalb wenden wir uns anderen zu: wir sind gemeinsam Gottes Kinder, das lernen wir von Gottes Kind.
Den aufrechten Gang lehrt die Geschichte von Weihnachten. Den Hirten, den Gelehrten aus dem Ausland, der schwangeren Frau, dem verunsicherten Mann, ihnen wird damals wie heute gesagt: Du bist gemeint. Du bist von Gott gewollt.
Weihnachten ein Geschichte von Trost und Ermutigung, von Liebe und von aufrechtem Gang, von Gemeinschaft und Mut und Widerstand. Liebe Gemeinde, gehen Sie in diese Heilige Nacht und nehmen Sie etwas mit von dem Jubel der Engel, von dem Jubel der Hirten. Das kann uns erfüllen, und das kann uns tragen. Gott kommt in die Welt. Gott will dich und will mich. Gott will aus unserem Leben Gutes machen und uns Frieden zusagen als Einzelne, als Land, als Welt. Was kann Besseres für diese Welt geschehen, als dass Gott zur Welt kommt und uns sagt: "Friede sei mit euch".
Amen