Grußwort zum 100. Geburtstag von Harald Poelchau

Wolfgang Huber

Es gilt das gesprochene Wort.

„Ohr der Kirche, Mund der Stummen“

I.
Sehr beeindruckt habe ich wahrgenommen, wie konzentriert das Programm Ihrer Tagung hier in Schwanenwerder sich dem Leben und Wirken von Harald Poelchau zuwendet. Eine Reihe weiterer Veranstaltungen – im Haus Kreisau und in der Evangelischen Studierendengemeinde, im Filmmuseum in Potsdam oder in der Johanniskirche Schlachtensee – treten dem zur Seite. All diese Veranstaltungen unterstreichen, dass Weg und Erbe von Harald Poelchau in der Erinnerungskultur unserer Kirche einen festen Platz haben. Mir liegt persönlich sehr daran, dass die Bedeutung dieses Theologen durch die Veranstaltungen dieser Tage noch deutlicher ins Bewusstsein treten. Er gehört wie manche seiner Altersgenossen zu den Zeugen des 20. Jahrhunderts, deren Leben und Werk im Gedächtnis bleiben sollten. Den wenig älteren Kurt Scharf nenne ich oder den wenig jüngeren Dietrich Bonhoeffer, aber auch die unlängst verstorbenen, etwas jüngeren Otto Perels und Winfried Maechler. Von ihnen geht dann ein gleitender Übergang zu den etwas jüngeren Zeitzeugen, die – Gott sei Dank! – noch unter uns sind und die wir auch heute in diesem Kreis begrüßen können. Ich freue mich sehr darüber, dass Klaus Harpprecht, ein fürwahr erfahrener Biograph, sich der Lebensgeschichte von Harald Poelchau zugewandt hat und bin schon jetzt auf sein Buch sehr gespannt. Und ich hoffe, dass die Gedenktagung der Evangelischen Akademie zu Berlin wichtige Einsichten erschließt. Bezugspunkte im Leben dieses beherzten Theologen zu unserer Stadt und zu unserer Kirche gibt es wahrlich viele.

Der Biographie von Harald Poelchau haben Sie sich gestern schon angenährt. Bezeichnenderweise trug die Einführung den Titel „You look so happy. oder: Über die Verarbeitung von Extremsituationen“. Wenn es so etwas gibt, wie einen Gottesbeweis in Extremsituationen, dann finde ich ihn im Leben von Menschen wie Harald Poelchau. Jedenfalls einen Hinweis auf die Wirklichkeit von Gottes Güte finde ich bei Menschen, die wie Harald Poelchau dies beides beieinander halten können: Klugheit und Hoffnung, Bescheid wissen und Fröhlichkeit, informiert sein und gut schlafen können, problembewusst sein und glaubensstark. 

Denn oft erscheint uns das als allzu schwer. Die Wahrnehmung der Welt stellt sich dem Glauben oft unbarmherzig in den Weg.  Vor allem wenn man so bewusst lebt, sich so vorbehaltlos auf die Seite der Bedürftigen und Benachteiligten stellt wie Poelchau. An der Biographie von Harald Poelchau beeindruckt mich am meisten, dass er in seinem beruflichen Weg stets höchst ungewöhnliche Orte gewählt hat, von denen er überzeugt war, dass an ihnen sein Dienst besonders nötig sei. Offenbar wollte er sehr bewusst eigene Akzente setzen und  - weit hinausgreifend über den Raum, der ihm aus der Tradition seiner Familie, einer Pastorenfamilie seit der Zeit der Reformation, vertraut war – sich auch den einfachen Menschen zuwenden, die in schwieriger Lage waren.

II.
1932 entscheidet Poelchau sich für den Dienst als Gefängnisseelsorger in Tegel. Rückblickend beschreibt er die Situation so: "1933 zeigte sich, dass man nur noch an einer Stelle in Freiheit arbeiten konnte, in der Kirche, die sich nicht gleichschalten ließ, und dass man nur an einer Stelle sicher war, im Gefängnis." Sicher wusste auch Poelchau selbst, wie anfechtbar und angefochten diese beiden Aussagen waren. Weder blieb die Kirche insgesamt ein Ort der Freiheit; noch konnte man darauf vertrauen, im Gefängnis vor Willkür sicher zu sein.

Es fügt sich, dass diese Tage der Erinnerung an Harald Poelchau in ganz kurzem Abstand auf die Erinnerung an die Schreckensnächte in Plötzensee zwischen dem 7. und 9. September 1943 folgten, in denen Hunderte von Gefangenen in brutaler Willkür ums Leben gebracht wurden. In seinem Buch „Die letzten Stunden“ (S. 46 ff.) hat Poelchau auch diese Situation beschrieben – er, der von sich sagt, er habe mehr als tausend Menschen auf ihren gewaltsamen Tod vorbereiten müssen (Die Ordnung der Bedrängten, S. 42). Als Gefängnispfarrer nahm er im Zuchthaus Brandenburg, in der Strafanstalt Plötzensee und auf den sogenannten Wehrmachts-Hinrichtungs-Plätzen auf dem Schießplatz Jungfernheide an Hinrichtungen teil. Zahlreiche Opfer waren politische Freunde aus dem "Kreisauer Kreis", zu dem er selbst gehörte, und den Gruppen des 20. Juli. Die Seelsorge für die zum Tode Verurteilten war lange Zeit Poelchaus Hauptaufgabe. Im Angesicht des Todes wurde er so zu einem Anwalt des Lebens. Wie in einem Brennspiegel kann man das auch daran sehen, dass wir Harald Poelchau die Bitte an Dietrich Bonhoeffer zu verdanken haben, Gebete für seine Mitgefangenen zu schreiben. „Du hast mir viel Gutes erwiesen, lass mich nun auch das Schwere aus deiner Hand hinnehmen. Du wirst mir nicht mehr auferlegen, als ich tragen kann. Du lässt deinen Kindern alle Dinge zum Besten dienen.“ Das ist die Glaubenshaltung, die Dietrich Bonhoeffer und Harald Poelchau miteinander verband, die sie beide an uns Spätere weitergeben.

III.
Warum, so ist gefragt worden, hat die Erinnerung an Harald Poelchau im öffentlichen, auch im kirchlichen Bewusstsein nicht das gleiche Gewicht wie die Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer. Eine Antwort auf diese Frage liegt in der Gnade des Überlebens. Harald Poelchau war es vergönnt, dass er nicht als Märtyrer sterben musste. Er überlebte. An die Begleitung von über tausend Menschen auf dem Weg zum Henker schloss sich eine zweite Phase intensiver beruflicher Verantwortung nach 1945 an.

Dabei bleiben in der Regel die unmittelbaren Nachkriegsjahre im Schatten. Durch die von Harald Poelchau jun. vorgestellten Briefe Poelchaus an Paul Tillich werden diese Jahre auf eindrückliche Weise beleuchtet. Bemerkenswert ist, wie sich ein euphorisches Bekenntnis zum Sozialismus mit einer äußerst skeptischen Beurteilung der sowjetischen Politik verbindet. Doch das Urteil, das Fehlen der Freiheit sei an dieser Politik nur ein „Schönheitsfehler“ gewesen, hat sich in den folgenden Jahren wirklich nicht bewahrheitet. Bemerkenswert ist auch Poelchaus Urteil in kirchlichen Fragen. Seiner Wertschätzung für Otto Dibelius gibt er aus Anlass von dessen Wahl zum Ratsvorsitzenden der EKD im Jahr 1949 Ausdruck. Dibelius hatte übrigens eine bemerkenswerte Auffassung von diesem Amt. Wenn er zu einem in diesen Jahren seltener werdenden Besuch in eine brandenburgische Gemeinde kam, konnte er darauf hinweisen, diese Besuche seien deshalb so selten, weil alle evangelischen Gemeinden in den weiten deutschen Landen zu seinem Verantwortungsbereich gehörten. Der Erinnerung wert ist es auch, dass Poelchau die theologische Weitherzigkeit an Dibelius hervorhob und sie der „ultra-orthodoxen“ Haltung der Bekennenden Kirche gegenüberstellte. Wenn man Harald Poelchau auch selbst zur Bekennenden Kirche rechnen will – ein „Dahlemit“ war er also jedenfalls nicht. 

Doch ich streife diese unmittelbaren Nachkriegsjahre nur im Vorbeigehen. Der zweite Schwerpunkt beruflicher Tätigkeit, dem ich mich zuwenden will, lag für Poelchau ab 1951 in der Leitung des von Bischof Otto Dibelius eingerichteten Amtes für Industrie- und Sozialarbeit. Von seinen Büros im Ost- und Westteil Berlins aus gelang es Poelchau, eine Arbeit mit Werktätigen aus ganz Berlin einzurichten. Zu diesem Vorhaben gehört auch der Versuch, junge Theologiestudenten zu einem Industrie- bzw. Werksemester zu motivieren und dabei zu begleiten. Schließlich wurde Poelchau in die Sozialkammer der EKD berufen.
Sein Auftrag war die Herstellung von Kontakten der Kirche in und mit der industriellen Arbeiterschaft, die Geburtsstunde des heutigen "Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt". Hier konnte er an Ideen und Vorarbeiten aus der Arbeiterbildung seines Lehrers Carl Mennicke aus der Zeit nach 1919 anknüpfen.

1956 bekamen die von ihm aufgebauten Betriebsgruppen und betrieblichen Arbeitskreise ein Gemeindezentrum am Karolinger Platz in Berlin-Charlottenburg. Aus dieser Arbeit ging die "Evangelische Industriejugend" hervor, die mit Auszubildenden verschiedener Berliner Berufsschulen und Betriebe Seminararbeit machte. Diese Jugendlichen bildeten den Hauptteil der jungen Arbeiter, die im Rahmen der "Aktion Sühnezeichen" Wiederaufbauarbeit in England (Coventry) und anderen von Deutschland geschädigten Ländern leisteten. Franz von Hammerstein vor allem hat diese Verbindung hergestellt. Auch die Evangelische Berufsschularbeit Berlin ist ein Kind Poelchaus. Das Haus Kreisau in Berlin-Kladow mit seinen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern widmet sich bewusst auch dieser Arbeit, die Harald Poelchau für unsere Kirche begründet hat.

Die Formen, in denen solche Aufgaben wahrgenommen werden, haben sich im Lauf der Jahre mehrfach gewandelt. Sie können heute bei weitem nicht mehr im selben Umfang wahrgenommen werden, wie dies zur Zeit Harald Poelchaus und danach lange Zeit möglich war. Ich bedaure dies. Aber ich halte an der Überzeugung fest, dass wir als Kirche mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln und jeweils an unserem Ort den Kontakt zur Situation von Menschen in ihrer Arbeitswelt herstellen und damit auch der Milieuverengung wehren müssen, die für Dienst und Zeugnis der Kirche einen besorgnisserregenden Sog darstellt.

Ich selbst besuche in jedem Jahr mehrmals Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Krankenhäuser zählten in den vergangenen Jahren ebenso dazu wie eine Zahnradfabrik in der Prignitz, die Hauptwerkstatt der S-Bahn in Berlin-Schöneweide, das Spezialeinsatzkommando der Polizei oder die Gerichtsmedizin, die ich am kommenden Dienstag besuchen werde. Ich tue das bewusst in der Erinnerung an Harald Poelchau und in dem Wissen, wie wichtig die Begegnung für beide Seiten sein kann. Es gilt, auf die Menschen zu hören, die in der Industrie oder an anderen Orten mit hoher körperlicher oder psychischer Belastung und zum Teil unter erheblichen persönlichen Gefahren arbeiten. Es geht darum, ihnen zu vermitteln, dass ihre Arbeit wertgeschätzt und gewürdigt wird. Die Aufgabe, ihnen in all dem das Evangelium nahe zu bringen, stellt sich heute auf neue Weise. Aber diese Aufgabe stellt sich, wie sie sich auch vor einem halben Jahrhundert gestellt hat. 

IV.
Poelchau hat seinen sozialethischen Ansatz auf den Begriff einer „Ordnung der Bedrängten“ gebracht. Wenn das nicht nur in der Erinnerung wirken soll, dann ist gerade in diesem Herbst vor dem Hintergrund der Sozialreformen zu fragen, welche Aufgabe die Kirche hat, für die Bedrängten der heutigen Zeit einzutreten.

Dann aber heißt das Ergebnis: So notwendig die Reform unserer sozialen Sicherungssysteme ist, so nötig ist es, für eine gerechte Lastenverteilung einzutreten. Was das bedeutet, verdeutliche ich an der kritischen Feststellung des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg, dass erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine umfassende Sozialleistung schlicht abgeschafft werden soll: die Arbeitslosenhilfe. Denn die geplante Ersetzung der Arbeitslosenhilfe durch ein Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfe-Niveau kommt der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe gleich.

Gewiss gehört es zu den Aufgaben der Kirche in der heutigen Situation, die Notwendigkeit einschneidender Reformen wahrzunehmen und diejenigen, die sich dieser Aufgabe stellen, zu ermutigen. Aber ebenso notwendig ist es, auf unvertretbare Härten der geplanten Sozialreformen aufmerksam zu machen und als Fürsprecher für die Bedrängten einzutreten. Dies gehört zu den Impulsen, die uns Poelchau hinterlassen hat. Der Auftrag der Kirche, für eine „Ordnung der Bedrängten“ einzutreten, gilt unter veränderten Bedingungen auch heute. Wir ehren das Gedächtnis Harald Poelchaus, wenn wir uns dieser Aufgabe stellen.