Welche Kirche braucht die Gesellschaft?

Wolfgang Huber

Mannheim, Bildungszentrum SANCTCLARA

1.

Darüber, was Menschen heute von der Kirche erwarten, geben neuere empirische Untersuchungen eine klare Auskunft. Die unlängst veröffentlichte vierte Mitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland hat das auf ihre Weise gezeigt. Drei Erwartungen an das Handeln der Kirche werden vorrangig genannt: Es handelt sich erstens um die Begleitung der Menschen an den Wendepunkten des Lebens; unter den kirchlichen Amtshandlungen findet dabei die Taufe mit weitem Abstand die größte Zustimmung. Es geht sodann um die Zuwendung zu Menschen in persönlichen oder sozialen Notlagen: die Betreuung von Alten, Kranken und Behinderten sowie die Anwaltschaft für Menschen in Not. Und es geht schließlich um einen Raum für das Heilige: Gemeint ist damit die Aufgabe, die christliche Botschaft zu verkündigen, Gottesdienste zu feiern und Raum für Gebet, Stille und Meditation zu bieten.

Andere Erwartungen sind im Vergleich dazu in den letzten Jahren zum Teil dramatisch zurückgegangen: Kirchliches Engagement in der Kindererziehung, kulturelle Angebote, die Begleitung in Berufsleben und Arbeitsalltag, kirchliche Beiträge zur Entwicklungshilfe – all das tritt in seiner Bedeutung in den Hintergrund. Solche Formen kirchlichen Handelns, auch ihre Beteiligung an der politischen Debatte mögen um ihrer selbst wichtig sein und ihre Bedeutung auch darin behalten, dass sie die Kontaktflächen zur Gesellschaft verbreitern. Die Kernkompetenz der Kirche wird anderswo gesehen – nämlich in der geistlichen Kommunikation, die die Kirche in den Kasualien, in Seelsorge und gelebter Nächstenliebe sowie in Gottesdienst und Gebet erfüllt.

2.

Zugleich leben wir in einer Zeit, in der dem Missionsauftrag der Kirchen ein neuer Sinn zuwächst; ihre Überzeugungsarbeit ist gefragt. Aber um solche Überzeugungsarbeit leisten zu können, brauchen die Kirchen und die Menschen, die für den christlichen Glauben einstehen, Auftragsgewissheit und die Fähigkeit, über die Tragkraft des Glaubens selbstbewusst Auskunft zu geben. Ganz besonders gilt das auch von den Christen im Alltag des Lebens. Denn der Glaube ist in unserer Gesellschaft weithin privatisiert; die eigene Glaubensbindung wird allenfalls noch bei den Übergangsriten des Jahres- und Lebenslaufs öffentlich wahrnehmbar. Die Kluft zwischen privatisierter Religion und öffentlicher Kirche ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen. Diese Kluft wieder zu verringern, gehört zu den großen, keineswegs leicht zu lösenden Aufgaben. Glaubenscourage ist nötig, wenn man – ohne Bekehrungspenetranz – auch im öffentlichen Leben, im Beruf oder in den persönlichen Beziehungen sein Christsein erkennbar macht. In dieser alltäglichen Gegenbewegung gegen die Privatisierung des Glaubens sehe ich den wichtigsten Aspekt im Verhältnis von Zivilcourage und Kirche.

3.

Im Gegenzug gegen eine verbreitete Ökonomisierung des Denkens wird neu nach der spirituellen Dimension menschlichen Lebens gefragt. Der Glaube, der in den letzten Jahrzehnten gerade im Protestantismus weithin nur noch als eine Deutungsperspektive weltlicher Erfahrungen im Blick war, wird wieder in seinem transzendenten Bezug zum Thema. Die Kirche, die in den letzten Jahrzehnten für viele nur noch als politische Akteurin und sozialethische Mahnerin erkennbar war, wird wieder als Raum für die Begegnung mit dem Heiligen wahrgenommen.

Auf die Frage, was die wichtigste Aufgabe der Kirche sei, wurde lange Zeit geantwortet: der diakonische Einsatz für Alte und Kranke sowie das Eintreten für die Schwachen in der Gesellschaft. Auch wenn diese Antwort ihre Bedeutung behält, sagen inzwischen doch viele, die wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Eröffnung eines Raums für die Begegnung mit dem Heiligen, die Botschaft von Gottes Zuwendung zu seiner Welt, die Sorge für die Seelen. Die religiöse Tiefenschicht des menschlichen Lebens wird wieder entdeckt. Und von der Kirche wird erwartet, dass sie bei der Auseinandersetzung mit dieser Tiefenschicht klare Orientierung gibt.

Entscheidend für eine Erneuerung der Kirche ist es deshalb, dass der christliche Glaube selbst in seiner spirituellen Kraft und in seinem unaufgebbaren Glaubenswissen wieder wahrgenommen und artikuliert wird. Es geht nicht darum, die Plausibilität des christlichen Glaubens durch sekundäre Stützungsaktionen deutlich zu machen. Vielmehr geht es darum, der systematischen Entleerung des Glaubens entgegenzuwirken und seine Bedeutung für Erfahrung und Wissen wieder neu zu explizieren. Die Kirche, so sagt der Heidelberger Theologe Michael Welker in diesem Zusammenhang, “muss erkennen lassen: Das Glaubenswissen ist interessant und spannend, es ist überraschend und erhellend zugleich. ... Dieses Wissen ist für die Lebensqualität des einzelnen und für die Qualität menschlichen Zusammenlebens unverzichtbar. Viele Themen, die wir ohne religiöse Sprache und religiöse Erkenntnis verdrängen müssen, könnten wieder zur Sprache gebracht werden: Die interessanten Spannungen zwischen Natur und Kultur, die fruchtbaren Spannungen zwischen der Gottebenbildlichkeit des Menschen und dem Auftrag an ihn, über die Natur zu herrschen, die Spannungen zwischen Recht und Barmherzigkeit, die Konflikte zwischen Gewissheit und Wahrheit, die Grenzen unserer Moral und das Phänomen der Sünde, die tragischen Verstrickungen des Lebens, die Frage von Schuld, die Probleme von Opfer und Sühne, die Annahme der Endlichkeit unseres Lebens. .... Gottesdienste mit Stil und mit Spannung wären möglich, wenn das Inhaltliche wieder stimmen würde.”

4.

Missionarische Öffnung und gottesdienstliche Erneuerung sind die Perspektiven, von denen aus der Weg der Kirchen in der Mitte Europas in den Blick genommen werden muss. Damit wird die Präsenz der Kirche in der Gesellschaft und ihre Intervention zugunsten derer, die nicht für sich selber sprechen können, nicht ins zweite Glied gerückt. Aber dieses Tun des Gerechten wird eingespannt in den Bogen, der durch die Haltung des Gebets und durch das Warten auf die Zeit Gottes bestimmt ist.

Diese Haltung kann die Christenheit über die Grenzen der verschiedenen Konfessionen miteinander verbinden. Es ist klar, dass wir von Kirche unter Absehen von ihrem ökumenischen Horizont nicht mehr reden können. Der Ökumenische Kirchentag im Sommer 2003 war in dieser Hinsicht eine ermutigende Erfahrung. Das erreichte Maß ökumenischer Gemeinsamkeit ist ein hohes Gut, das zu bewahren und weiterzuentwickeln wir alle miteinander verpflichtet sind.

Dafür ist vor allem dreierlei erforderlich: Zum einen geht es darum, den gemeinsamen Glauben zu bekennen, wie er in der Heiligen Schrift begründet und in den Bekenntnisüberlieferungen unserer Kirchen bezeugt ist. Sodann geht es um eine Kultur der Anerkennung, in der wir uns in unseren Verschiedenheiten wechselseitig respektieren und auf dem Weg einer versöhnten Vielfalt vorangehen. Schließlich ist es unsere Aufgabe, uns angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen  um gemeinsame Positionen zu bemühen und ihnen Gehör zu verschaffen.

Das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1997 ist für dieses Bemühen nach wie vor ein herausragendes Beispiel. Die Verantwortung für den Frieden angesichts des Irakkriegs, die Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unseres Sozialstaats angesichts evidenter Reformnotwendigkeiten und die Verantwortung für das menschliche Leben zwischen werden und Sterben sind drei Beispiele aus diesem Jahr 2003, die zeigen, wie dringlich das gemeinsame Zeugnis der Kirchen in unserer Gesellschaft ist.

5.

Dass wir beten, das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten: dies zusammen macht nach einem Wort Dietrich Bonhoeffers das Christsein aus. Das Beten führt in das Tun des Gerechten; und wo Gerechtigkeit geschieht, ereignet sich ein Vorschein der Zeit Gottes, auf die wir warten. Deshalb ist die Kirche Jesu Christi von Anfang an diakonische Kirche. Heute genießt diese Dimension – wegen ihres gewaltigen institutionellen Ausbaus – eine vorrangige Bedeutung. Neugierig auf Kirche sind Menschen in unserer Gesellschaft oft in allererster Linie, weil sie neugierig sind auf helfenden Glauben, weil sie Zutrauen haben zu einer helfenden Kirche. Es ist  sicher einer der größten Aktivposten der Kirche, dass die Chance gegeben war, Caritas und Diakonie so auszubauen, wie es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist. Aber zu wünschen ist, dass in Caritas und Diakonie deutlicher zum Leuchten kommt, inwiefern sie eine Ausdrucksform des Glaubens und nicht nur ein Beitrag zum Funktionieren des Sozial- und Wohlfahrtsstaats sind. Zu wünschen ist, dass der Zusammenhang zwischen Diakonie und Seelsorge deutlicher spürbar wird.

6.

Von der Zukunft der Kirche lässt sich nicht reden, ohne das Verhältnis von Kirche und Bildung anzusprechen. Innerhalb der ökumenischen Gemeinschaft der Christenheit, deren Zusammengehörigkeit immer deutlicher zu spüren ist, ist die besondere Rolle der evangelischen Kirche und der protestantischen Gestalt des christlichen Glaubens unter anderem darin zu sehen, dass es um verstandenen Glauben geht. Das Bündnis von Glauben und Bildung ist und bleibt ein besonderer reformatorischer Auftrag. In seiner Wahrnehmung haben wir gerade in jüngster Vergangenheit von der katholischen Kirche viel gelernt und beispielsweise die besondere Bedeutung eigener kirchlicher Bildungsstätten, auch kirchlicher Schulen, neu zu würdigen begonnen. Gerade im Osten Deutschlands gehört die große Zahl der Neugründungen kirchlicher Schulen zu den bemerkenswertesten Entwicklungen der letzten Jahre.

7.

Welche Kirche braucht die Gesellschaft? Die Kirche ist gut beraten, sorgfältig auf die Erwartungen zu achten, die Menschen ihr entgegenbringen. Aber sie ist ebenso gut beraten, auf diese Erwartungen eine Antwort zu geben, die nicht aus gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen, sondern aus dem Evangelium gespeist wird. Im Licht des Evangeliums aber hat die Kirche eine einzige Aufgabe. Sie hilft Menschen dabei, Christ zu bleiben oder zu werden, weil sie auf Gottes Ja zu uns Menschen ihr Amen sagen wollen.