Johann Gottfried Herder – Aspekte seines Lebenswerkes
Christoph Kähler
Weimar, Goethe-Nationalmuseum
Es gilt das gesprochene Wort
Das Lateinische kennt eine Anrede, in der die weibliche Form auch die Herren einschließt, lassen Sie mich darum die versammelte Wissenschaft anreden: collegae,
verehrter Herr Smend, lieber Herr Kollege Leppin, ...
in einem der vielen Lobgesänge auf die Stadt Weimar lesen wir:
„Es lebt dort ein Mann, dem ich, wenn es sein müßte, zu Füßen und barfuß, in Hitze und Frost, Hunger und Durst mitten hinein nach Asien nachziehen möchte, um mich an seinem Anblicke und Worte zu erfreuen und zu beleben. Dieser Mann heißt Herder.“
Nun hat der junge ungestüme Predigthörer diesen Schwur nicht ausführen müssen und ist alt und lebenssatt 1860 als Professor der Naturgeschichte in München gestorben. Doch ließen sich diesem Urteil noch manche andere anfügen, die womöglich nicht ganz so jugendlich übertrieben ausfielen, doch in eine ähnliche Richtung wiesen. Solche eindrückliche Begeisterung zeigt eine der vielen Seiten, die Sie in diesen Tagen in einer großen gemeinsamen Anstrengung aus der Sicht ganz unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen beleuchten wollen und werden. „Johann Gottfried Herder – Aspekte seines Lebenswerkes“ haben Sie mit nahezu angelsächsischem understatement Ihre Tagung genannt, zu der ich als episcopus loci Gäste und Bürger Thüringens gern und herzlich begrüße. Zugleich, ja eigentlich zuvor, darf ich Sie im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und besonders ihres Rates herzlich grüßen. Wir danken denen, die diese Tagung so reich und anregend machen, allen voran dem Sprecher des SFB 482, Professor Klaus Manger und dem Tagungsleiter Prof. Volker Leppin.
Ihr Programm macht gespannt auf die Vielfalt der Zugänge von den Anfängen allen Denkens bis zum Ende der Geschichte, von Herders Urerlebnis Bibel, von dem wir heute Abend einen wichtigen Eindruck bekommen werden, bis zum Dichter und Volksliedsammler.
Es ist schon faszinierend, wie der junge Theologe Herder mit 22 Jahren unter den Titeln „Sollen wir Ciceronen auf der Kanzel haben?“ bzw. „Die Homiletik erfordert eine ganz andere Art der Beredsamkeit“ eine theoretische Begründung pastoraler Tätigkeit, also christlich-religiöser Rede entwarf und diese offenbar auch selbst Zeit seines Lebens durchzuhalten und zu praktizieren im Stande war. In einem Alter, in dem heute oft erst die allerersten Proseminararbeiten geschrieben werden, schlug er eine Emanzipation der Predigt von damals zwanghaft auferlegten rhetorischen Kunstregeln vor, die den lebendigen Redefluß fesselten und an fremdem Maß ausrichten sollten: „Ich glaube gewiß (schreibt Herder), daß die Prediger, welche in lauter epiphonematibus predigen (also in rhetorischen Schlüssen), wenn sie sich umsehen, einen großen Teil ihrer Zuhörer in der Unachtsamkeit und einen großen Teil schlafend finden werden.“ (322)
Was der junge Gottesgelehrte hier vornahm, ist keine Barbarisierung oder Ghettoisierung christlicher Verkündigung, sondern eine höchst differenzierte und zutreffende Würdigung der je unterschiedlichen Kontexte und Ziele des Redens: Hie die politische Parteienrede des Cicero in der Versammlung der Quiriten, dort die religiöse Rede, die gerade nicht dem tagespolitischen Einpeitschen und den kurzfristigen Entschlüssen dienen darf.
Unter den Forschern verschiedenster Disziplinen, die sich um die Erfassung Herders mühen, wird viel gestritten werden. Das darf kaum anders sein, so es sich hier um Wissenschaft handelt, die nach dem Motto verfährt: An allem ist zu zweifeln. Ein Grundsatz aber dürfte die mannigfaltigen Thesen und die unterschiedlichen Fächer einen: Herder als Gegenstand der Forschung läßt sich nur in einer gemeinsamen Anstrengung von Historikern und Theologen, Literaturwissenschaftlern und Philosophen erschließen. Dies lohnt sich, weil Herder, wie sein Wahlspruch „Licht, Liebe, Leben“ zusammenfasst, das Licht der theologisch-philosophischen Aufklärung, die Liebe, die aus dem reflektierten Glauben wirkt, und somit das humane Leben, das beides notwendig braucht, als Einheit erkannt hat. Diese Einheit und die klassische Fülle der Aspekte kann und darf aber nicht historistisch auf die Erforschung der Weimarer Klassik und ihres großen Ideengebers beschränkt bleiben. Wie behindert beschränkte Forschung bleibt, lässt sich an der Geschichte dieses Ortes und der Geschichte der früheren Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten besonders gut ablesen. Darum halte ich die sich mehrenden Versuche von Universitätsleitungen in Deutschland für hoch gefährlich, die Theologie zu einem Steinbruch für Sparmaßnahmen zu machen, ja sie als Fakultät ganz abzuschaffen. Dies würde heute niemandem für die Fächer Physik und Chemie einfallen, die ähnliche Sorgen um ihre Studienanfänger hatten und haben, wie die Theologie.
Wir leben aber in einer Zeit, in der in einer zusammen-wachsenden Welt die methodische Selbstreflexion der Religionen um des friedlichen Zusammenlebens der Völker willen weltweit erforderlich ist, also die Differenz zwischen Politik und Religion so auf den Punkt gebracht werden kann und muss, wie es auch Herder gelang. In einem solchen kritischen Moment aber die klassischen Stätten dieser Selbstprüfung des Glaubens abzuschaffen oder massiv einzuschränken, also ihre Funktionstüchtigkeit zu gefährden, ist nicht nur ein Schaden für Kirche und Theologie selbst, sondern wird sich als solcher über kurz oder lang auch für unser ganzes Leben (im Herderschen Sinn) erweisen. Ich habe durchaus Verständnis für die fiskalischen Zwänge, unter denen Universitätspolitik steht; dazu habe ich lange genug selbst Hochschulpolitik betrieben. Aber wessen wir bedürfen und was den verantwortlichen Politikern nicht erspart werden darf, ist die bohrende Frage, was denn die geheimen und die Forschungspolitik leitenden Vorstellungen denn wirklich sind. Da kann ich Befürchtungen in bezug auf einen ziemlich unaufgeklärten materialistischen Szientismus nicht ganz unterdrücken.
Die politisch wahrlich nicht unbedeutende Herzogin Anna Amalie schrieb in einem Brief vom Dezember 1803: „Der Verlust, den wir hier durch Herders Tod gemacht haben, hat mir ein sehr trauriges und schmerzhaftes Neujahr gegeben. Den unersetzlichen Verlust, den ich durch diesen Tod erfahren, kann ich nicht aussprechen. Sein Geist wird mich hoffentlich noch immer umschweben. Alle guten Menschen fühlen tief diesen großen Verlust.“
Ich möchte wünschen und hoffen, dass ein solches tiefes Verständnis für die Zusammengehörigkeit der Dimensionen „Licht, Liebe, Leben“ nicht nur politische Festreden, sondern auch Alltagspolitik bestimmen kann.