Glaube und Vernunft - Vortrag in der XVI. Werner-Reihlen-Vorlesung „Die Vernunft der Religion“ Humboldt-Universität zu Berlin
Wolfgang Huber
Zwei Zitate sollen dieser Skizze zum Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft die Richtung weisen. Das eine Zitat stammt von einem Mathematiker, das andere von einem Theologen. Das eine unterstricht die notwendige Unterscheidung, das andere die ebenso notwendige Zusammengehörigkeit von Glauben und Vernunft.
I.
„Achtung, ihr Theologen: Wenn ihr Sätze über den fixen Stand von Sonne und Erde zu Glaubenssätzen machen wollt, lauft Ihr Gefahr, schließlich diejenigen als Ketzer verdammen zu müssen, die erklären, dass die Erde feststehe und die Sonne ihren Stand wechsle. Ich sage ‚schließlich’ und meine damit den Zeitpunkt, zu dem womöglich physikalisch oder logisch bewiesen werden kann, dass sich die Erde bewegt und die Sonne stillsteht.“ Diese Bemerkung von Galileo Galilei, auf die Richard Schröder aufmerksam gemacht hat, gibt der Verhältnisbestimmung von Glauben und Vernunft eine besondere Wendung. Denn um des Glaubens willen mahnt Galilei, der Vernunft ihr Recht zu lassen. Um des Glaubens willen mahnt er die Theologen ähnlich zur Selbstbeschränkung, wie das kurz vor ihm ein anderer Italikener getan hatte, nämlich der Jurist Albericus Gentilis, der den Theologen zurief: „Silete theologi in munere alieno - schweigt ihr Theologen im fremden Geschäft!“
Für Galilei war die Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft eine Bedingung dafür, dass beide vereinbar bleiben konnten. Auch seine Kritiker verfolgten dasselbe Ziel – in einer Zeit, in der über Fragen der Kosmologie keine Einigkeit erzielt werden konnte. Die weitere Entwicklung zeigte, wie falsch es sein kann, den christlichen Glauben mit einem bestimmten Bild des Kosmos gleichzusetzen, selbst wenn dieses naturwissenschaftlich so gut abgesichert ist, wie das unter den Bedingungen der jeweiligen Zeit nur möglich ist. Denn heute gilt auch das heliozentrische Weltbild des Kopernikus nicht mehr ungebrochen; inzwischen sehen wir in unserer Galaxie eine Randerscheinung in der expandierenden Weite des Universums. Ein solcher Wandel des Weltbilds wird heute zumeist auch von denen mitvollzogen, die in anderer Hinsicht ein nach ihrer Auffassung wörtliches Verständnis der biblischen Schöpfungsberichte einfordern.
Achtung, ihr Theologen: Wenn ihr Sätze, die ihren Ort im Bereich menschlichen Erfahrungswissens haben, zu Glaubenssätzen macht, müsst ihr die Frage von Rechtgläubigkeit und Häresie an der Deutung naturwissenschaftlicher Theorien austragen. So kann man Galileis Satz, mit dem ich begonnen habe, abwandeln. Dergleichen aber geschieht in der neuerdings wieder aufgebrochenen Debatte über das Verhältnis zwischen Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie. Gewiss muss man zugeben, dass es Deutungen der Evolutionstheorie gibt, in denen diese tatsächlich als Gegnerin des Bekenntnisses zu Gott als dem Schöpfer auftritt; jedoch werden mit einer solchen weltanschaulichen Aufladung die in ihr selbst liegenden wissenschaftlichen Erklärungsmöglichkeiten weit überschritten. Umgekehrt aber wird der Sinn von Glaubensaussagen verkannt, wenn in bestimmten Spielarten des „Kreationismus“ und auch der Lehre vom „Intelligent Design“ der Schöpfungsglaube als eine Art Welterklärungstheorie in Anspruch genommen wird. In manchen Erscheinungsformen des „Kreationismus“ droht der Glaube an den Schöpfer zu einer pseudowissenschaftlichen Weltanschauung zu werden; dieser Glaube selbst soll nämlich das zutreffende Wissen über die Entstehung und Entwicklung der Welt vermitteln. Unter dem Namen „Intelligent Design“ werden wissenschaftliche Gründe für die Annahme eines göttlichen Welturhebers vorgebracht, die davon geleitet sind, dass die Welt von Anfang an so intelligent konzipiert sein muss, dass es zur Entstehung des Lebens und zur Entwicklung des Menschen als der Krone der Schöpfung kam. Anders, so wird gesagt, sei die innere Folgerichtigkeit der Evolution gar nicht zu erklären. Damit wird Gott freilich den Ursachen in Raum und Zeit gleichgesetzt; die Frage, was der Existenz dieses intelligenten Urhebers vorausging, lauert um die Ecke.
Mit der Verwechslung des Glaubens an den Schöpfer mit einer Form der Welterklärung hat freilich die Christenheit immer wieder Schiffbruch erlitten. Auch heute liegt Vergleichbares nicht fern. Wenn ein zur Weltanschauung missdeuteter Glaube an die Stelle der wissenschaftlichen Vernunft tritt, wird das Bündnis von Glaube und Vernunft nicht etwa gefestigt, sondern eher in Gefahr gebracht. Denn dieses Bündnis lebt von beidem: von der Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft ebenso wie von der Bereitschaft, beide aufeinander zu beziehen und nicht gegeneinander auszuspielen.
Es kann nicht verwundern, dass einer weltanschaulichen Verwendung des christlichen Schöpfungsglaubens, wie sie in bestimmten Spielarten des Kreationismus und der Lehre vom „Intelligent Design“ vorliegt, spiegelbildlich ein Missbrauch entspricht, der meint, aus den Einsichten der modernen Naturwissenschaften zwingend eine Leugnung Gottes und die Verpflichtung auf einen kämpferischen Atheismus ableiten zu können. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der sich mit seinem Buch „Der Gotteswahn“ („The God Delusion“) an die Spitze dieser Bewegung gesetzt hat, sei dafür beispielhaft genannt. Dawkins restauriert ein Weltbild, nach welchem Glaube und Religion einem vorwissenschaftlichen Zeitalter angehören; sie kämen, so heißt die Folgerung, mit dem Siegeszug des wissenschaftlichen Bewusstseins zum Verschwinden.
Der grundlegende Fehler in dieser Debatte liegt darin, dass in ihr der Schöpfungsgedanke nicht als Thema des Glaubens, sondern der wissenschaftlichen Vernunft angesehen wird. Zwar bleibt der Glaube auf diese bezogen, ja angewiesen. Das gehört zu der Bewegung der fides quaerens intellectum, des Glaubens, der sich um Verstehen und Einsicht bemüht. Aber Glaube und Vernunft sind in dieser Bewegung bewusst voneinander zu unterscheiden; sie treten aber damit nicht beziehungslos auseinander, werden also nicht voneinander getrennt. Anders gesagt: Wer Gott allein mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu erfassen sucht, bringt sich um die Möglichkeit einer Begegnung mit dem befreienden Wort Gottes. Glauben und Vernunft brauchen einander; ihr Verhältnis zueinander muss, wie dieses Beispiel aus der aktuellen Diskussion zeigt, immer wieder neu bestimmt werden. Einige Aspekte der evangelischen Beschäftigung mit diesem Thema zu beleuchten, ist die Aufgabe der folgenden Überlegungen.
II.
„Soll denn der Knoten der Geschichte so aufgehen, die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Religion mit der Barbarei?“ So fragte bereits vor zweihundert Jahren Friedrich Daniel Schleiermacher einen Freund. Dieser Kirchenvater des modernen Protestantismus suchte zu erweisen, dass Vernunft und Glaube grundsätzlich zusammengehören und deshalb auch im Leben zusammengehalten werden müssen. Auch zu seiner Zeit nahm er hellsichtig wahr, dass die Verbindung zwischen Glauben und Vernunft von unterschiedlichen Seiten aus in Frage gestellt wird. Während auf der einen Seite die Religion sich den Ansprüchen der Vernunft zu entziehen sucht, wird auf der anderen Seite im Namen der Vernunft die Brücke zur Religion abgebrochen. Doch so soll der „Knoten der Geschichte“ nicht aufgehen. Dass der Gott der Philosophen und der Gott der Bibel auseinander treten könnten, hätte Schleiermacher, der Liebhaber Athens wie Jerusalems, schlicht als Katastrophe empfunden.
Die Verbindung von Glauben und Vernunft gehört von Anfang an zu den bestimmenden Merkmalen des Protestantismus. Für manchen Betrachter mag das dadurch verdunkelt sein, dass der Reformator Martin Luther sich unter Einsatz all seiner polemischen Kraft gegen einen Herrschaftsanspruch der Philosophie über die biblische Botschaft zur Wehr setzte und dabei auch vor der Rede von der „Hure Vernunft“ nicht zurückscheute. Doch Luther war, ebenso wie die anderen Reformatoren, zugleich von der Überzeugung bestimmt, dass die Vernunft mit all ihrem Vermögen der Erkenntnis der biblischen Wahrheit zu dienen habe. Schon der junge Luther erklärte deshalb in seinem Kommentar zum Römerbrief, dass die Vernunft „für das Beste“ eintrete und „gute Werke“ tue. Und der höchste Titel, den er für sich selbst gelten ließ, war derjenige eines „Doctors der Heiligen Schrift“. Damit bahnte die Reformation der Ausbildung der Theologie zu einer kritischen Wissenschaft im modernen Sinn ebenso den Weg, wie sie die Verbindung von Glauben und Bildung in das Zentrum des kirchlichen Auftrags rückte.
In seiner evangelischen Gestalt konzentriert sich der christliche Glaube darauf, dass Jesus Christus die Wahrheit des Evangeliums in Person ist. Diese Wahrheit befreit den Menschen aus der Selbsttäuschung, er verdanke sein Leben sich selbst und könne ihm aus eigener Kraft einen bleibenden Sinn verleihen. Sie verankert die Würde des Menschen in der Wirklichkeit Gottes und somit in einer Macht, die größer ist als er selbst; nur deshalb kann diese Würde als unantastbar gelten. Deshalb konzentriert sich die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens seit der Reformation bis zum heutigen Tag auf das Thema der christlichen Freiheit; die evangelische Kirche versteht sich als eine Kirche der Freiheit.
Diese Konzentration hat erhebliche Folgen. Wer sich einer Freiheit verdankt, die unverfügbar ist, weiß sich für die Gestaltung von Räumen verantwortlich, in denen diese Freiheit zur Erfahrung kommt. Deshalb interessiert sich der christliche Glaube für die Bedingungen, Voraussetzungen und Folgen der Freiheit im eigenen Handeln ebenso wie für die Bedingtheiten und Bestimmtheiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Er setzt sich leidenschaftlich für Lebensverhältnisse ein, in denen Freiheit erfahrbar wird. Deshalb ist er als Religion der Freiheit eine Religion der Aufklärung und der Vernunft, des freien Dienstes am Nächsten und der politischen Mitverantwortung.
Zwar hat auch das reformatorisch geprägte Christentum die Ambivalenz der Aufklärung ebenso erfahren wie erlitten. Denn zu ihr gehörten, vor allem in Frankreich, Strömungen eines philosophischen Materialismus, die den Glauben in den Bereich bloßer Irrationalität abschieben wollten. Auf sie antworteten auf der Gegenseite Strömungen, die den Glauben gegen alle Infragestellungen mit den Mitteln der Vernunft zu immunisieren und damit auch gegen jeden Versuch der Auslegung durch eine kritische theologische Wissenschaft abzuschotten suchten.
Beiden Tendenzen gegenüber musste und muss immer wieder die Freiheit des christlichen Glaubens nicht nur verteidigt, sondern auch erneuert werden, die sich auch als die Freiheit dazu zeigt, sich seiner Vernunft zu bedienen. Dies zu tun, ist ein wesentliches Kennzeichen der Freiheit selbst. Aber zu dieser Freiheit gehört es auch, der Endlichkeit der Vernunft ansichtig zu werden und zu erkennen, dass auch der Kult der Vernunft eine Form des Götzendienstes ist. Dass die Vernunft dem Glauben nachfolgt und in seinen Dienst tritt, ist darum Teil einer evangelischen Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft. Deshalb ist das Verhältnis von Glaube und Vernunft im evangelischen Verständnis immer wieder in Anknüpfung an die berühmte und schon zitierte Formel des Anselm von Canterbury zum Ausdruck gebracht worden: „Neque enim quaero intelligere ut credam sed credo ut intelligam. Fides quaerens intellectum. – Nicht suche ich nämlich einzusehen, um zu glauben. Sondern ich glaube, um einzusehen. Der Glaube auf der Suche nach Einsicht.“
Die Einsicht des Glaubens hat beim Glauben selbst einzusetzen. Von ihm her erschließt sich, was die Vernunft im Kontext des Glaubens aufzuklären vermag. Deshalb hat Eberhard Jüngel vorgeschlagen, Anselms Rede von der „fides quaerens intellectum“ zu ergänzen und der Klarheit halber von einer „fides quaerens intellectum quaerentem fidem“ zu sprechen: der Glaube ist auf der Suche nach Einsicht, die ihrerseits auf der Suche nach dem Glauben ist. Eine nicht durch den Glauben aufgeklärte Vernunft bleibt unerfahren und unaufgeklärt, weil sie sich keine Rechenschaft über ihre Grenzen ablegt. Sie verkennt ihren Charakter als endliche Vernunft, dem Menschen anvertraut, damit er mit seiner endlichen Freiheit umzugehen lerne. Ein nicht durch die Vernunft aufgehellter Glaube aber trägt die Gefahr in sich, barbarisch und gewalttätig zu werden. Stattdessen ist es nötig, die wechselseitige Verwiesenheit von Vernunft und Glaube immer wieder neu zu entfalten.
III.
Der innere Zusammenhang von Glauben und Vernunft versteht sich keineswegs von selbst. Gegen ihn steht, wie es scheint, ganz besonders eine zweite kopernikanische Wende, nämlich die kopernikanische Wende Immanuel Kants zum Subjekt als dem unhintergehbaren Ausgangspunkt alles Weltwissens. Besonders folgenreich war es, dass man diesen von Kant vollzogenen Schritt im Sinn einer definitiven Trennung zwischen Weltwissen und Gottesglauben gedeutet hat. Charakteristisch dafür sind die Missverständnisse, die Kants berühmtes Diktum auf sich gezogen hat, er habe „das Wissen aufheben“ müssen, „um zum Glauben Platz zu bekommen“. Es war durchaus ein Anklang an eine geläufige Fehldeutung dieses Diktums, als Papst Benedikt XVI. es in seiner Regensburger Rede in der Fassung wiedergab, Kant „habe das Denken beiseite schaffen müssen, um dem Glauben Platz zu machen“.
Diese Veränderung des Wortlauts signalisiert jedoch ein weitreichendes Missverständnis. Denn Kant stellt mit seinen Worten den Gottesgedanken nicht außerhalb des Denkens; und er besetzt nicht einen dadurch entstehenden, vermeintlich vernunftlosen Raum durch den Glauben. Sondern er befreit den Gottesgedanken aus dem Einzugsbereich des Erfahrungswissens, das sich der Mittel der Beobachtung und des Beweises bedient. Er zeigt, dass Gott den Rahmen unserer raumzeitlich geprägten Weltzugänge prinzipiell übersteigt. Damit wird nicht die Idee Gottes, sondern die Reichweite der Erfahrungswissenschaften eingeschränkt. Die Versuche, Gott als notwendige Ursache aus den Gesetzen der Welt abzuleiten, werden damit hinfällig. Gottes Überlegenheit über die Schöpfung wird dadurch neu zur Sprache gebracht. So reißt Kant Vernunft und Glauben nicht etwa auseinander, sondern bahnt einen Weg dazu, dass der Gottesgedanke auch vor dem Forum der philosophischen Vernunft Bestand haben kann. Man mag diesen Weg als problematisch ansehen; aber man sollte sich jedenfalls nicht auf die Aufklärung im kantischen Sinn des Wortes berufen, um die These zu begründen, die Aufklärung habe die Verbindung zwischen Vernunft und Glauben definitiv aufgelöst.
Das christliche Verständnis von Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt fügt sich in einen solchen Zugang zum Gottesbegriff durchaus ein. Die verbreitete Rede vom bloßen „Postulatengott“, der nur noch eine vage innerphilosophische Funktion für die praktische Vernunft habe und als eine Art „Erfüllungsgehilfe der protestantischen Ethik“ diene, unterschätzt die Bedeutung der Gottesidee für die Freiheit der Person. Im Sinne Kants ist Gott der umfassende Horizont für jegliches Tun, auch für das theoretische Nachdenken. Der einigende Grund der Welt, der einzig Aussicht darauf gibt, dass Leben glücken kann, schließt so auch die Welt der Wissenschaft und der wissenschaftlich angeleiteten Erfahrung ein. Dem Glauben wird auf diese Weise keineswegs, wie Papst Benedikt XVI. befürchtet, „der Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen“. Nein, er ist dieser Zugang zum Ganzen der Wirklichkeit. Indem er das Verhältnis zur Wirklichkeit im Gottesverhältnis verankert, eröffnet er einen Zugang zur inneren Einheit des Daseins, in welchem das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu den anderen Menschen und zur Welt miteinander verbunden ist.
Der Glaube wird in einer solchen Überlegung als eine Einstellung zur Wirklichkeit verstanden, die allem Wissen vorausliegt. Doch es ist ein gravierendes Missverständnis, den Glauben deshalb für irrational zu erklären oder in die Kammer des bloßen Fühlens und Meinens zu sperren. Dass er freilich mehr in sich schließt als die bloße Kenntnisnahme richtiger Lehrsätze, ist gerade im evangelischen Verständnis des Glaubens immer in starker Form herausgearbeitet worden. Denn der Glaube ist in der Tat nicht nur eine im Wissen beheimatete Gewissheit, sondern er ist eine umfassende Daseinsgewissheit. Zu ihr gehört das Vertrauen in die Gegenwartsmächtigkeit Gottes ebenso wie die innere Zustimmung dazu, sich im eigenen Leben von Gott bestimmen zu lassen. In Gott erschließt sich für den Glaubenden der umfassende Sinn, auf den er für den Umgang mit der Endlichkeit seiner Existenz im Ganzen wie für alles Handeln unter den Bedingungen dieser Endlichkeit angewiesen ist. Damit eröffnet er die Einsicht, dass der Mensch auch als Vernunftwesen nur frei sein kann, wenn er sich von einem anderen her bestimmen lässt. In dieser Einsicht findet die Freiheit eines Christenmenschen eine durchaus moderne Fassung. Das ist freilich nur so lange der Fall, so lange die Einsicht in die Endlichkeit der menschlichen Vernunft gewahrt ist und der Glaube dem Menschen eine Form der Demut gegenüber dem Göttlichen eröffnet, die auch die Kraft zur epistemischen Demut einschließt.
Aber unter dieser Voraussetzung sind grundlegende Einsichten der Aufklärung für den christlichen Glauben von unentbehrlicher Bedeutung. Zu ihnen gehört die Unterscheidung zwischen Glauben und Vernunft ebenso wie die Unterscheidung zwischen Religion und Politik. Die christlichen Kirchen haben lange gebraucht, bis sie den säkularen Charakter des Staates und seiner Rechtsordnung nicht als Infragestellung des christlichen Bekenntnisses, sondern als Bedingung gelebter Freiheit und damit auch der Glaubensfreiheit zu achten lernten. Mit ihrem Bekenntnis zur Religionsfreiheit haben die christlichen Kirchen diese Einsicht der Aufklärung in ihr eigenes Glaubensverständnis aufgenommen; ja, sie haben sogar an andere Religionen die Erwartung gerichtet, diesen Schritt mit ihnen zu vollziehen. Ganz in diesem Sinn hat Papst Benedikt XVI. darauf hingewiesen, dass der Schritt zur Aufklärung ein notwendiger Schritt ist; auch der Islam, so bemerkte er, müsse diesen Schritt noch vollziehen. Wörtlich sagte er in einer Ansprache an die Mitglieder der römischen Kurie am 22. Dezember 2006: „Die muslimische Welt befindet sich heute mit großer Dringlichkeit vor einer ähnlichen Aufgabe, wie sie sich den Christen seit der Zeit der Aufklärung stellte und auf die das Zweite Vatikanische Konzil als Frucht einer langen, mühsamen Suche konkrete Lösungen für die katholische Kirche gefunden hat.“
Freilich erlaube ich mir, dieses Zitat, dem ich eine möglichst weite Zustimmung wünsche, doch mit einer Frage zu verbinden: Wenn die Rezeption der Aufklärung heute für den Islam ansteht und wenn sie im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) auf ihre Weise von der katholischen Kirche vollzogen worden ist – soll man dann den Philosophen, Theologen und auch den Kirchen, die sich im 18. und 19. Jahrhundert um die Verbindung zwischen Aufklärung und christlichem Glauben bemüht haben, wirklich durchgängig den Vorwurf machen, sie hätten durch eine „Enthellinisierung“ die Verbindung zwischen Glauben und Vernunft aufgelöst? Mir kommt das nicht wirklich gerecht vor.
In der evangelischen Theologie dieser Epoche hat es ganz gewiss Engführungen gegeben. Sie hängen auch mit bestimmten Deutungen der Entwicklungen im frühen Christentum zusammen, für die der Name Adolf von Harnacks paradigmatische Bedeutung angenommen hat. Wenn die Entwicklung zu einem fest gefügten kirchlichen Amt, zur Klärung von Lehrkonflikten durch den Bezug auf eine regula fidei sowie der Bindung der Kirche an die Heilige Schrift in Gestalt der Festlegung eines Kanons als Hellenisierung des Christentums bezeichnet wurde und demgegenüber Dogmengeschichte als Dogmenkritik praktiziert wurde, so kann das im Rückblick als eine „Enthellinisierung“ erscheinen, die – und sei es wider Willen – der menschlichen Vernunfterkenntnis gegenüber der göttlichen Offenbarung den Vorrang zuerkennt.
Eben diese Engführung löste in der evangelischen Theologie eine Gegenbewegung aus, deren Vertreter vor allem Karl Barth und die Dialektische Theologie waren. Sie konzentrierten sich theologisch auf die Anerkennung der Souveränität Gottes gegenüber der menschlichen Vernunft und darauf, die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus als entscheidenden Bezugspunkt aller Theologie zur Geltung zu bringen. Inzwischen ist uns der fragmentarische Charakter auch dieser theologischen Ansätze deutlich geworden. In Karl Barths eigenen theologischen Bemühungen zeigt sich die Einsicht in die Grenzen dieses Ansatzes vor allem in den späten Überlegungen dazu, dass der Widerschein der göttlichen Offenbarung auch außerhalb ihrer direkten Bezeugung und außerhalb des direkten Bekenntnisses zu ihr aufzufinden ist. Damit wird die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis mit den Mitteln der säkularen Vernunft ebenso angedeutet wie die Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit in nichtchristlichen Religionen. Die schroffe Entgegensetzung von Glauben und Religion wird damit freilich ebenso aufgehoben wie die schroffe Entgegensetzung von Glauben und Vernunft.
IV.
Der christliche Glaube leitet dazu an, den Begriff Gottes von der Menschwerdung Gottes her zu denken; er hat seine innere Bestimmtheit darin, dass Gott als Person begegnet, als die Person des Jesus von Nazareth. Es ist das darin begründete Vertrauen in die Zugänglichkeit Gottes, aus dem sich im christlichen Verständnis die unlösliche Verbindung zwischen Gott und der Vernunft ergibt. Die Aufgabe christlicher Theologie besteht darin, die Entsprechung zwischen Gott und Mensch, die Gott selbst in seiner Menschwerdung manifest werden lässt, im Gottesbegriff selbst zu verankern und deshalb die Zusammengehörigkeit zwischen Gott und Vernunft zur Geltung zu bringen.
Wo immer das Vernunftwidrige im Namen Gottes begründet oder gerechtfertigt wird, ist deshalb Widerspruch angesagt. Dieser Einwand gegen jede „Bekehrung durch Gewalt“ ist freilich nicht nur gegenüber der Rechtfertigung der Gewalt in manchen Formen des Islam geltend zu machen. Sie ist vielmehr auch selbstkritisch gegen alle Gewaltanwendung, erst recht gegen jede Bekehrung durch Gewalt in der Geschichte des Christentums zu wenden.
Es war eine Verarbeitung solcher geschichtlicher Erfahrungen, wenn die Reformation es zum Programmsatz erhob, dass das Evangelium „ohne Zwang, allein durch das Wort“ ausgebreitet werden solle. Die neue Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland lässt sich in ihrem vorrangigen Eintreten für gewaltfreie Mittel in der Sorge für einen „gerechten Frieden“ von dieser selbstkritischen Einsicht leiten. Ähnlich hat die römisch-katholische Deutsche Bischofskonferenz im Zusammenhang dieser Diskussion erklärt, dass auch die christlichen Kirchen aus ihrer Geschichte die Versuchung der Gewalt kennen und ihr keineswegs immer widerstanden haben. Eine solche selbstkritische Haltung bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, auch an den Islam mit der Erwartung heranzutreten, dass er der religiösen Legitimation von Gewalt und der Instrumentalisierung von religiösen Überzeugungen zu politischen Zwecken deutlich und wirksam entgegentritt.
Es verdient in diesem Zusammenhang Beachtung, dass 138 Islamgelehrte jüngst dem Dialog zwischen Christentum und Islam dadurch einen neuen Anstoß gegeben haben, dass sie das Doppelgebot der Liebe – zu Gott und zum Nächsten wie zu sich selbst – als gemeinsamen Bezugspunkt beider Glaubensweisen herausgestellt haben. Es lohnt sich, diese Anregung aufzugreifen und genauer zu verfolgen. Dabei wird man auf der einen Seite zu würdigen haben, dass die Islamgelehrten die in der Verkündigung Jesu vollzogene Verbindung zwischen den zwei biblischen Geboten der Gottes- und der Nächstenliebe als einen Schlüssel auch zum Verständnis des Islam ansehen. Freilich ist auch ein deutlicher Unterschied zwischen der in diesem Brief vorgelegten Deutung und dem christlichen Verständnis der Liebe zu Gott wie zum Nächsten wahrzunehmen. Denn dass das Gebot der Liebe zu Gott in Gottes liebender Zuwendung zur Welt seinen Grund hat, tritt in dieser Interpretation nicht in den Blick.
Das ist verständlich, da doch die biblische Aussage, dass Gott Liebe ist, in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ihren Grund hat. Gottes Liebe aber gilt jedem einzelnen Menschen und verleiht ihm eine unantastbare Würde. Diese Liebe verbürgt, dass Gott es mit seiner Welt trotz des abgründig Bösen, das in ihr begegnet, und mit dem Menschen trotz der Sünde, in die er verstrickt ist, gut meint. Gottes Treue zu seiner Schöpfung und die Rettung des Sünders durch Gottes Gnade bestimmen den Ort des Menschen in der Welt. Sie bestimmen den Auftrag des einzelnen Menschen, von dieser Vorgabe des Glaubens her den Sinn seines Lebens zu verstehen und die Aufgaben seines Lebens zu erfüllen. Der christliche Glaube verbindet das Bekenntnis zu Gott, der Liebe ist, und die unantastbare Würde jeder menschlichen Person miteinander. Eben diese Verbindung ist heute im christlichen Selbstverständnis neu zu erschließen; und sie ist ebenso in das interreligiöse Gespräch einzubringen.