Predigt von Bischöfin Petra Bosse-Huber

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus.

Liebe Gemeinde,

aus dem reichen Schatz der Heiligen Schrift soll uns ein prophetisches Wort beschäftigen. Hören Sie Worte des Propheten Jesaja:

Jesaja 55, 1- 5 (aus der Revidierten Lutherbibel 2017)

1 Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2 Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. 3 Neiget eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. 4 Siehe ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten über sie und zum Gebieter. Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.

Liebe Gemeinde, gehören Sie auch zu der besonderen Spezies der Sammler und Schnäppchenjägerinnen? Zu den Menschen, denen es Spaß bereitet, durch Einkaufsgalerien oder über Basare zu schlendern, zu handeln, zu feilschen und schließlich die ergatterten Schätze beglückt nach Hause zu schleppen oder zappelig auf die Anlieferung zu warten?

Als ich das Zitat des amerikanischen Sozialpsychologen Sheldon Solomon las: „Menschen haben gern viel Zeugs, das gibt ihnen das Gefühl, ewig zu leben“, fühlte ich mich jedenfalls ertappt: Ja, das stimmt wohl. Konsum hat wohl wirklich etwas mit dem Wunsch nach Ewigkeit zu tun. Was habe ich nicht allein in meinem Leben an Konsumwellen mit erlebt und manchmal auch begeistert mitgemacht. Ich kann mich gut daran erinnern, welchen Reiz Elektrogeräte in den sechziger Jahren auf meine Eltern, meine Geschwister und mich ausgeübt haben. Der erste Fernseher war bei uns zu Hause eine echte Familien- und Nachbarschaftssensation, wir konnten uns kaum von diesem riesigen Schwarzweißmonster losreißen, das da wie auf einem Altar mitten im Wohnzimmer prangte und uns staunend und andächtig um sich versammelte. Oder  zur Konfirmation mein erster eigener Kassettenrekorder…. Dann in den 1970er Jahren die Begeisterung für alles, was modern schien, weil es aus Kunststoff war. Oder in den 80er Jahren diese beginnende kleine Luxussucht, als Schönheit und Reichtum immer stärker zu Eigenwerten und zum Selbstzweck wurden. Im Wellnessparadies, im privaten Wohnzimmer oder in der medialen Öffentlichkeit war zunehmend Luxus angesagt. Eine Entwicklung, die später allzu oft in maßloser Verschwendung und schamloser Selbstbereicherung eskalierte.

Es ist für mich verblüffend, in welch kurzer Zeit die Erfahrungen der Generationen vor uns vergessen wurden. Ich denke nur an meine eigenen Eltern und Großeltern, denen Sparsamkeit und Maßhalten nach den bitteren Erfahrungen von Hunger und Mangel, von Armut und Krieg geradezu in Mark und Bein über gegangen waren. Wie kurz und vergesslich ist manchmal das kollektive Gedächtnis, jedenfalls für die kleine privilegierte Gruppe von Menschen weltweit, die in Reichtum und Überfluss lebt. Gleichzeitig scheint aber gerade bei dieser Minderheit der Übersatten und Nimmersatten, bei den Menschen mitten in Wohlstand und Überfluss, ein tiefer Lebensdurst und ein existentieller Hunger nach Sinn ständig zu wachsen.

Über den zeitlichen Abgrund von Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden hinweg klingen die Worte des Jesaja irritierend aktuell und zeitgemäß, wenn er seinen Landsleuten im babylonischen Exil predigt: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht?“ Jesaja nimmt den aufdringlichen Ton der Wasserverkäufer auf den orientalischen Märkten seiner Zeit, auf den Suks im Nahen Osten auf, ahmt den marktschreierischen Ton dieser aufdringlichen Händler im alten Babylon nach: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“

Also nicht nur ein marktschreierisches Werben um die Menschen, die im materiellen Überfluss zugrundegehen und mitten in der Übersättigung seelisch verhungern, sondern ebenso ein dramatisches Ringen um jene unendlich große Gruppe von Kindern und Erwachsenen, denen das Nötigste zum Leben verwehrt ist. Natürlich ist im heißen Nahen Osten - unter sengender Sonne - kühles frisches Wasser eine Wonne und ein kostbares Gut. Dieses lebensspendende Wasser weiß man in Lateinamerika, in Afrika oder Australien … besser zu schätzen als etwa im kühlen Nordeuropa. Da, wo das Menschenrecht auf Wasser inzwischen für viele zu einer Überlebensfrage geworden ist, wird Wasser zur Kostbarkeit. Aber gerade den Habenichtsen und den Menschen auf der tiefen Schattenseite des Lebens versprechen Jesajas lockende Bilder nicht nur „Wasser“, also die mindeste, magerste Existenzsicherung, sondern mit „Wein und Milch“, auch noch Lust, Lebensfreude und Glück darüber hinaus. Nicht zufällig leuchten bei diesen schönen Bildern die alten biblischen Verheißungen auf von dem „Land, wo Milch und Honig fließt“. Dieses verheißene Land soll nicht nur für einige wenige Reiche da sein, sondern für alle Menschen.

Auch die mittelalterliche Welt, in der die großen Reformatoren Martin Luther, Philip Melanchthon, Johannes Calvin oder Huldreich Zwingli ihre prophetischen Stimmen erhoben, war wie unsere Welt heute vom harten Kontrast zwischen Armut und Reichtum geprägt. Oft waren damals gerade materielle Interessen untrennbar mit religiösen Heilsversprechen verbunden. Auch im 16. Jahrhundert suchten Menschen ihr Heil durch Geld zu erlangen, wenn auch nicht auf dem Wege des Konsums. Sie suchten ihr Schicksal dereinst im Jenseits schon hier im Diesseits durch Materielles abzusichern. Die vielen Menschen, die zu Luthers Zeiten zur Schlosskirche nach Wittenberg pilgerten, erhofften sich vom Sündenablass genau diese Wirkung. Der Kurfürst Friedrich von Sachsen, Friedrich der Weise, hatte damals in der Schlosskirche die größte Reliquiensammlung nördlich der Alpen zusammengetragen. 20000 Reliquien sollen es gewesen sein, von Flaschen mit der Muttermilch der Jungfrau Maria bis hin zu Behältern mit Dornen aus der Dornenkrone Christi. Einmal im Jahr stand diese atemberaubende magische Sammlung allen Gläubigen offen. Durch einen einzigen Besuch der Reliquiensammlung konnte, so hieß es, jeder Pilger und jede Pilgerin den Ablass von den irdischen Sünden für einen Zeitraum von fast zwei Millionen Jahren erwerben. Das war eine überwältigend einfache und überzeugende Rechnung, das verstanden auch gewiefte Rechner sofort: Ein Reliquienbesuch statt Millionen von Jahren im Fegefeuer. Wo der religiöse Ernst der Wallfahrt endete und wo der reine touristische Kommerz begann, ließ sich damals vielleicht genauso wenig sagen wie heute. Vermutlich waren gläubige Hingabe und Fremdenverkehrsinteressen damals genauso unentwirrbar verbunden wie an religiösen Pilgerstätten in unseren Tagen auch.

Sie werden sich vorstellen können, liebe Gemeinde, welch ein Pilgerrummel da im kleinen Wittenberg und im Umland herrschte, vielleicht Touristenströme, wie wir sie gerade jetzt wieder zu den Reformationsfeierlichkeiten in dieser Kleinstadt, die die Welt veränderte, erleben können. Insofern war die Schlosskirchentür, an der Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablass angeschlagen haben soll, also am Eingang zum international bekannten Reliquienzentrum, ziemlich klug und öffentlichkeitswirksam gewählt. Welch symbolisch wirksameren Ort hätte sich Luther wohl für eine kritische Disputation über den Ablasshandel aussuchen können als diesen?

Vielleicht hatten die alten Worte aus dem Jesajabuch für die Reformatoren in ihrer Zeit einen ähnlich dringlichen Klang wie für uns Heutige: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld da für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen…“

Hier klingt die Kernbotschaft der Reformation auf: Das Heil ist nicht für Geld zu haben, „not for sale“. Glück im Diesseits und Seligkeit im Jenseits lassen sich nicht kaufen, damals genauso wenig wie heute. Das machen die fast schon absurden biblischen Formulierungen deutlich: Statt Geld für „Un-Brot“ auszugeben bietet Jesaja für „Nicht-Geld“, gratis und umsonst etwas an, was tatsächlich den Lebenshunger stillt und Leib und Seele satt macht. Verblüffend klar und pointiert findet sich die reformatorische Botschaft von der sola gratia, von der Rettung allein aus Gnade, hier mitten in der Hebräischen Bibel. Wir können dem Propheten hier nur recht geben: Selbst  alle Süchte und Abhängigkeiten unserer eigenen Zeit, von der Konsumsucht bis zur Mediensucht, von Essstörungen bis zum Alkoholismus können die tiefe Sehnsucht nach wahrem Leben in Menschen nicht völlig zum Verstummen bringen und ersticken. Damals nicht und heute auch nicht.

Die Reformatoren haben dieses wahre Leben trotz all der beunruhigenden Deformationen von Kirche und Gesellschaft in  ihrer eigenen Zeit im Herzen der Bibel entdeckt. Sie haben die Heilige Schrift aufgeschlagen und sich in den Bann der biblischen Botschaft bis hin zur Geschichte Jesu Christi schlagen lassen. Diese Botschaft der Heiligen Schrift zu hören und ernst zu nehmen ist die große Einladung, die uns anlässlich des 500. Reformationsjubiläums heute noch einmal in aller Dringlichkeit erreicht: „Höret, so werdet ihr leben!“

Liebe Gemeinde, gehören Sie zu diesen Menschen mit einem tiefen Lebenshunger und einem inneren Durst? Zu denen, die so ehrlich sind zu sagen: Das kann doch nicht alles gewesen sein? Die sich ihre Visionen von Frieden und Gerechtigkeit noch nicht haben abkaufen lassen? Die sich die Fähigkeit erhalten haben zwischen komfortablen Surrogaten, schalen Ersatzbefriedigungen und dem echten „Leben im Leben“ zu unterscheiden? Zu den Menschen, die den Unterschied zwischen kostspielig und kostbar, zwischen billig und umsonst, zwischen Haben und Sein kennen?

Dann werden Sie heute Morgen von der Heiligen Schrift auf die Spur dieses wahren Lebens gesetzt. Gott selbst tritt Ihnen im Gewand dieses prophetischen Marktschreiers entgegen und bietet Ihnen erfülltes Leben an, kostbar und gleichzeitig gratis, teuer und gleichzeitig umsonst. Gott kommt Ihnen mit all seiner Sehnsucht nach Ihnen entgegen, so sehr sind Sie gewollt, mit all Ihren Narben und Wunden, aber auch mit aller Schönheit und Einzigartigkeit, die zu Ihnen und Ihrer persönlichen Geschichte dazu gehören. Für alle Reformatoren, aber ganz besonders für den seelisch oft instabilen und von tiefen Selbstzweifeln geplagten Martin Luther hat diese Sehnsucht Gottes nach uns Menschen nirgendwo deutlicher Gestalt gefunden als in Jesus Christus, diesem Menschen nach Gottes Bild. Bei ihm, unserem Bruder und Erlöser, lässt sich erfülltes Leben nicht nur anschauen und aus sicherem Abstand studieren, sondern auch erfahren und erlernen. In seiner Nähe gesellt sich zu der befreienden Erfahrung, „Ich bin gewollt“ für uns auch noch das beglückende „Ich bin geliebt“ und „Ich werde gebraucht“ hinzu.

Gewollt- geliebt- gebraucht, hier klingt der Akkord eines erfüllten Lebens an. Wer diesen Klang gehört, diese Weite und Freiheit geschnuppert hat, der traut sich eigene Schritte auf seiner lebenslangen Pilgerreise der Gerechtigkeit und des Friedens zu. Schritt für Schritt auf Gott zu. Mit vielen anderen gemeinsam hinein in ein Leben, das Liebe und Geborgenheit verströmt und die Welt verändert. Ein Leben in der Nähe von Menschen und in der Nähe Gottes, den Menschen und Gott ganz zugewandt: Gewollt- geliebt und gebraucht.

Oder um es noch einmal mit den Worten der Reformatoren zu sagen: sola gratia, alles umsonst und gratis. Amen.

Bischöfin Petra Bosse-Huber
Vizepräsidentin des Kirchenamtes der EKD und Leiterin der Hauptabteilung Ökumene und Auslandsarbeit, Hannover


Alternative

Die vom Lutherischen Weltbund erarbeiteten „Not for sale-Voten“ sind  gut als Grundlage der Predigt geeignet. Zu Beginn werden sie vom Prediger/der Predigerin ebenfalls an die Tür genagelt. Der Lutherische Weltbund wird aufzeigen, welche Bedeutung das Zeugnis von reformatorischen Kirchen im Blick auf heutige Fragestellungen und Herausforderungen für die Menschheit hat.

Unter dem Hauptthema "Befreit durch Gottes Gnade" heißt es:

  • Erlösung - für Geld nicht zu haben (Salvation - not for sale)
  • Der Mensch - für Geld nicht zu haben (Human beings - not for sale)
  • Die Schöpfung - für Geld nicht zu haben (Creation - not for sale)

Worauf sich der Zusatz "für Geld nicht zu haben" bezieht, mag sofort deutlich werden: Er knüpft an den prophetischen Einspruch an, den Luther im 16. Jahrhundert mit seinem Thesenanschlag an die Öffentlichkeit brachte. Auch die Stoßrichtung ist weiterhin erhalten: Es geht um den Einspruch gegen die Vermarktung von Gaben, die ihrem Wesen nach dem Markt eigentlich entzogen sind und nie und nimmer zum Gegenstand monetärer Transaktionen werden dürfen. Dieses prophetische "Nein!" wird dann auf drei verschiedenen Ebenen konkretisiert: Erlösung, Mensch und Schöpfung.

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