Der Sonntag als heilsame Unterbrechung
Hermann Barth
In Hannover, Referat vor der Synode der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen
Von der kulturellen Bedeutung einer religiösen Institution
Es ist früher Sonntagmorgen. Mein Vater, Pfarrer in einem pfälzischen Dorf, steht am Fenster seines Amtszimmers. Mit einer Mischung von Trauer, Zorn und Resignation blickt er hinaus auf die Dorfstraße, auf der ein landwirtschaftliches Fahrzeug nach dem anderen, hoch bepackt mit Salat und Blumenkohl, zum Großmarkt rollt. Diese Szene vom Ende der 50er Jahre gehört zu den Bildern meiner Kinder- und Jugendzeit, die sich mir tief eingeprägt haben. Mein Vater, selbst aus einer bäuerlichen Familie stammend, hat leidenschaftlich für den Schutz des Sonntags gekämpft. Er empfand das Verhalten seiner Gemeindeglieder als persönliche Niederlage. Er hatte unter den Landwirten den einen oder anderen Bundesgenossen. Es gab Betriebe, sogar sehr prosperierende Betriebe, die auf die Anlieferung von Gemüse am Sonntagmorgen bewußt verzichteten. Ein Mitglied des Presbyteriums sagte immer: „Mein Betrieb braucht die Sonntagsarbeit nicht, und der Handel braucht sie auch nicht.“ Aber die Zeit ging über diese Nonkonformisten hinweg. Mein Vater mußte sich nolens volens daran gewöhnen, daß sich am Sonntagmorgen das Motorengeräusch der Traktoren und der Klang der Glocken miteinander mischten.
Hat sich seither viel geändert? Die Konkretionen sind andere geworden Aber qualitativ ist die Situation dieselbe geblieben. Auch gibt es im wesentlichen keine neuen Argumente. So stelle ich im folgenden drei Fragen:
1. Durch welche Faktoren ist der Schutz des Sonntags bedroht?
2. Welche Gründe können Kirchen und Christen für den Schutz des Sonntags geltend machen?
3. Mit welchen Mitteln können sich Kirchen und Christen für den Schutz des Sonntags einsetzen?
1. Durch welche Faktoren ist der Schutz des Sonntags bedroht?
Sonn- und Feiertagsarbeit leisten in Deutschland derzeit 18 % aller abhängig Beschäftigten. Gut die Hälfte von ihnen verzichtet regelmäßig auf den freien Sonntag. Am stärksten ist die Sonntagsarbeit im Gastgewerbe verbreitet. Hier arbeiten mehr als zwei Drittel der Beschäftigten auch am Sonntag. Es folgen die Bereiche Luftfahrt, Schiffahrt, Kultur, Sport, Unterhaltung sowie Gesundheitswesen, in denen etwa die Hälfte der Beschäftigten auch am Sonntag arbeitet. Im produzierenden Gewerbe liegt der Anteil der am Sonntag Beschäftigten mit 11 % deutlich unter dem Durchschnittswert der gesamten Wirtschaft. Das hat sich auch nach der Veränderung des Arbeitszeitgesetzes, auf die ich gleich noch zurückkomme und mit der die Sonntagsarbeit auch aus wirtschaftlichen Gründen möglich gemacht wurde, nicht oder noch nicht sehr geändert. Gemessen an anderen Ländern der Europäischen Union liegt Deutschland bei der Sonntagsarbeit eher im unteren Bereich. „Tabellenführer“ sind Großbritannien und Dänemark, gefolgt von Luxemburg, Irland und Italien. Aber Vergleiche dieser Art sind nur ein schlechter Trost, zumal, worauf noch einzugehen ist, der Vergleich von wirtschaftlichen Standortfaktoren immer die Tendenz zur Nivellierung der Standards verstärkt. Annäherung der Standards beim Sonntagsschutz in Europa aber ist gleichbedeutend mit Verschlechterung des Sonntagsschutzes in Deutschland.
Wenn Umfang und Entwicklung der Sonn- und Feiertagsarbeit in kritischer Absicht thematisiert wird, ist eine Zwischenbemerkung nötig, um Zerrbilder zu vermeiden: Sonn- und Feiertagsarbeit ist nicht verwerflich. Sie ist in gewissem Umfang notwendig und vertretbar. Es kommt auf eine Verständigung über die Grenzziehung an: Was ist noch notwendig und vertretbar, ohne die Institution des Sonntags auszuhöhlen, und wo wird es für die Institution des Sonntags bedrohlich? Einige Faktoren tragen dazu bei, daß der Umfang der Sonntagsarbeit zunimmt und damit die Bedrohung für die Institution des Sonntags wächst:
a) Der weitere Rahmen ist die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs. Die genannten Vergleichszahlen aus anderen Ländern der Europäischen Union gelten in diesem Zusammenhang als Indiz für einen Wettbewerbsnachteil der deutschen Wirtschaft. Das Argument des Wettbewerbsnachteils muß man im Prinzip sehr ernst nehmen. Es sticht allerdings nicht in allen Fällen. Auch beantwortet es noch nicht die Frage, welche Wertentscheidungen eine Gesellschaft trifft und welchen Preis sie zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu zahlen bereit ist. Gerade die Kirchen müssen daran erinnern: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Der Mensch lebt auch nicht von der Wettbewerbsfähigkeit allein. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit rechtfertigt nicht jeden Preis.
b) Die Europäische Union hat eine Tendenz zur Vereinheitlichung. Das ist aus wirtschaftlichen Überlegungen verständlich, in kultureller Betrachtung aber verhängnisvoll. Ein englischer Freund, der aus seiner euroskeptischen Haltung nie ein Hehl machte, sagte mir vor 30 Jahren im Ton der Entrüstung: Die werden uns eines Tages sogar eine Norm für Euro Bread verordnen - und was die Qualität von Brot angeht, hätten Deutsche gewiß noch weit mehr Anlaß als Engländer, eine Nivellierung auf einen europäischen Einheitsstandard zu fürchten. Dem Hang zu immer mehr Vereinheitlichung muß man widerstehen. Die Leitlinie kann nur heißen: so viel Vereinheitlichung wie nötig, so viel Vielfalt wie möglich.
c) Für die Einführung der Sonntagsarbeit wird in manchen Branchen geltend gemacht, daß auf diese Weise zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen oder jedenfalls bestehende Arbeitsplätze erhalten werden. Das ist in einer Situation der Massenarbeitslosigkeit ein machtvolles Argument. Aber man muß genau hinsehen, ob und in welchem Umfang tatsächlich Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt eintreten.
d) Die rechtlichen Regelungen zur Sonn- und Feiertagsarbeit haben in den letzten Jahren gewichtige Veränderungen erfahren. Von prinzipieller Bedeutung, wenn auch vorläufig noch ohne einschneidende praktische Folgen ist die Regelung des Arbeitszeitgesetzes von 1994, wonach die Aufsichtsbehörde „die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zu bewilligen“ hat, wenn „die Konkurrenzfähigkeit unzumutbar beeinträchtigt ist und durch die Genehmigung von Sonn- und Feiertagsarbeit die Beschäftigung gesichert werden kann“ (§ 13 Abs. 5). Damit ist das Begründungsarsenal für Sonntagsarbeit in gravierender Weise erweitert worden: Ging es zuvor nur um Arbeiten, „die aus chemischen, biologischen, technischen oder physikalischen Gründen einen ununterbrochenen Fortgang ... erfordern“ (§ 13 Abs. 4), so werden jetzt auch rein wirtschaftliche Gründe zugelassen. Große öffentliche Aufmerksamkeit hat die im Jahr 1996 erfolgte neue Regelung über - kurz gesagt - Herstellung und Verkauf von Brötchen am Sonntag gefunden („Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Ladenschluß und zur Neuregelung der Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien“ vom 30. Juli 1996). Man konnte den Eindruck bekommen, der Mangel an frischen Backwaren am Sonntag sei eine schwere Beeinträchtigung der Lebensqualität. Schließlich noch ein letzter Baustein: Weil die Bundesregierung von der Ermächtigung des Arbeitszeitgesetzes, die Sonn- und Feiertagsbeschäftigung selbst durch Rechtsverordnung zu regeln, keinen Gebrauch macht, sind derzeit die Landesregierungen (gemäß Arbeitszeitgesetz § 13 Abs. 2) nach und nach dabei, entsprechende Bestimmungen zu erlassen. Sie haben, mit einigen bemerkenswerten Unterschieden, alle die Tendenz zur Ausweitung der Sonntagsarbeit. Sie tragen übrigens einen signifikanten Namen: „Verordnung über die Zulassung der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung“. Es gibt viele Bedürfnisse und Wünsche. Sind sie alle gleich wichtig? Der Name macht jedenfalls darauf aufmerksam, daß das Ausmaß der Sonntagsarbeit auch von der Nachfrage abhängig ist. Ich komme darauf zurück.
e) Neben den gesetzlichen Neuregelungen verdient die Ebene der Auslegung der bestehenden Regelungen durch die Aufsichtsbehörden gesonderte Beachtung. Dabei geht es (in Aufnahme von § 13 Abs. 3 des Arbeitszeitgesetzes) insbesondere um örtliche Messen oder Märkte. Die Phantasie bei der Erfindung entsprechender Anlässe kennt fast keine Grenzen. In der Vergangenheit konnten die Kirchen in hohem Maße darauf bauen, daß Auslegung und Vollzug der gegebenen Regelungen in den Händen von Menschen lag, die einen Sinn für die religiöse Dimension des Lebens hatten und den Kirchen wohlwollend gegenüberstanden. Das ist heute zunehmend weniger der Fall. Dadurch ergeben sich Verschiebungen, die in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen sind. Um so wichtiger ist die Intensivierung der Gesprächskontakte mit den entsprechenden Stellen.
f) Von der Ausweitung der Spielräume für gewerbliche Angebote an Sonn- und Feiertagen darf freilich nicht die Rede sein, ohne das Pendant zu erwähnen: Das Angebot wird nur so lange gemacht und aufrecht erhalten, wie eine entsprechende Nachfrage da ist. Zu den Faktoren für die Ausweitung der Sonntagsarbeit gehört eben auch der Umstand, daß diese Arbeit in Anspruch genommen wird. Hier stellt sich eine Gewissensfrage für jeden: Welche Sonntagsarbeit nehme ich in Anspruch? Sind es Arbeiten, die so nur oder gerade an diesem Sonntag gebraucht werden, oder wären sie ebensogut vorher oder nachher möglich gewesen?
g) Daß über die Sonntagsarbeit nicht allein, ja nicht einmal vorwiegend in Politik und Wirtschaft, sondern durch das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger selbst entschieden wird, zeigt sich vollends an einem weiteren Gesichtspunkt: Der Sonntag ist als Tag der Arbeitsruhe von den regelmäßigen beruflichen Verpflichtungen frei. Er kann anders gefüllt werden. Aber gerade darin zeigt sich eine tiefe Verlegenheit. Nicht wenige Menschen wissen mit dem Sonntag nichts Rechtes anzufangen. Wenn sie ehrlich sind, sehnen sie den Beginn der Arbeitswoche geradezu herbei. Unter solchen Umständen gibt es am Sonntag nicht viel zu verteidigen. Die Ausweitung der gewerblichen Angebote füllt vielmehr eine Zeit, die ansonsten als leer empfunden wird.
2. Welche Gründe können Kirchen und Christen für den Schutz des Sonntags geltend machen?
„Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest“ (2. Mose 20,8). Dieses Gebot ist der Dreh- und Angelpunkt auch der christlichen Sonntagsheiligung. Daß der Sonntag als Tag der Auferstehung Jesu Christi in das Erbe des Sabbattages eingetreten ist, hat das Verständnis der Heiligung dieses Tages ergänzt und bereichert, aber im Kern nicht verändert. Mit dem theologischen Verständnis der Sonntagsheiligung ist es freilich nicht zum Besten bestellt. Wer in Katechismen oder neueren kirchlichen Äußerungen nachliest, trifft zwar auf einen bunten Strauß von Gründen. Aber sie bleiben widersprüchlich und ergeben kein stimmiges Bild. Ich sehe hier einen jener typischen Fälle, wo der über Jahrhunderte selbstverständliche Bestand einer Institution die Kirchen und die Christen nachlässig gemacht hat, mit überzeugenden Gründen Rechenschaft zu geben über den guten Sinn dieser Institution. Das ist der Fall im Blick auf die Ehe und eben auch im Blick auf den Sonntag.
„Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest.“ Was heißt das für Christen? In Luthers Kleinem Katechismus lautet die Antwort: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen.“ Es ist kein Zufall, daß in der Antwort der Sonntag keine ausdrückliche Rolle spielt. Luthers Erklärung hat die deutliche Tendenz, dem Gebot der äußerlichen Heiligung eines bestimmten Tages den inneren Sinn abzugewinnen, daß es um die Heiligung des Wortes Gottes gehe. Darum heißt es auch im Großen Katechismus: „Zu welcher Stunde man nun Gottes Wort behandelt, predigt, hört, liest oder bedenkt, da wird Person, Werk und Tag geheiligt, nicht wegen des äußerlichen Werkes, sondern um des Wortes willen, das uns alle zu Heiligen macht. Deshalb sage ich alle Zeit, daß all unser Leben und Werk in dem Wort Gottes gehen müssen, wenn sie Gott wohlgefällig heißen sollen.“ Luther setzt die Arbeitsruhe am Sonntag als von alters gegebene Ordnung nur noch voraus und bezieht die Sonntagsheiligung in grandioser Einseitigkeit auf die Achtung gegenüber dem Wort Gottes. „Also ist“ - so im Großen Katechismus - „der einfache Sinn dieses Gebots, weil man ohnehin den Feiertag hält, daß man diese Feier dazu verwenden soll, Gottes Wort zu lernen, so daß das eigentliche Amt dieses Tages das Predigtamt sein soll, um des jungen Volks und der einfachen Leute willen, aber das Feiern nicht zu eng verstanden werden soll, daß deshalb andere zufällige Arbeit, die man nicht umgehen kann, verboten wäre.“
Damit ich mir nicht den Vorwurf der konfessionellen Parteilichkeit zuziehe, zitiere ich auch den Heidelberger Katechismus. Er ist - anders als spätere reformierte Texte vor allem aus der puritanischen Tradition - Luthers Erklärung ganz nahe: „Gott will - mit dem 4.Gebot - erstens, daß das Predigtamt und Schulen erhalten werden, und ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme, das Wort Gottes zu lernen, die heiligen Sakramente zu gebrauchen, den Herrn öffentlich anzurufen und das christliche Almosen zu geben. Zum andern, daß ich alle Tage meines Lebens von meinen bösen Werken feiere, den Herrn durch seinen Geist in mir wirken lasse und so den ewigen Sabbat in diesem Leben anfange.“
Aber es geht im 3. bzw. 4. Gebot nicht allgemein um das Heilighalten des Wortes Gottes oder die Heiligung meines Lebens - außer gewiß in dem Sinne, daß dies der weitere Horizont aller Gebote Gottes ist -, sondern es geht um die Heiligung eines bestimmten Tages. Heiligen heißt grundlegend: absondern, von den gewöhnlichen Dingen unterscheiden, herausheben. Den Sonntag zu heiligen bedeutet demnach: ihn von den übrigen sechs Tagen zu unterscheiden. Er ist ein anderer Tag, ein besonderer Tag. Der Sonntag darf nicht zum Alltag gemacht werden. Der Dekalog sagt in aller Klarheit, worin sich Alltag und Feiertag unterscheiden sollen: „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt“ (2. Mose 20,9f). Im Gebot der Feiertagsheiligung geht es der Sache nach um die heilsame Unterbrechung der täglichen Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Heiligung des Sonntags, ja schon die bloße Existenz des Sonntags, erinnern daran: Der Mensch definiert sich nicht allein über seine Arbeit, der Mensch ist nicht einfach das, was er aus sich macht. Man wird den Rhythmus von Arbeit und Feier, die Hingabe an die Arbeit und die periodische Abstandnahme von der Arbeit theologisch ebenso ernst nehmen müssen wie die Fragen der leiblichen Gesundheit. Die Unterbrechung des Alltags befreit den Menschen aus der Fixierung auf seine Taten und Leistungen und zwingt ihn, anderes zu bedenken.
Es fällt gar nicht schwer, hier Querbeziehungen zur Rechtfertigungslehre zu entdecken. Dabei wird im übrigen deutlich, warum der Sonntag so elementar bedroht ist: Der Mensch definiert sich nur zu gerne über seine Arbeit und seine Leistung. „Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“, wie die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 139 die Sonn- und Feiertage in einer klugen Formulierung beschrieb, sind ein Stachel im Fleisch. Sie stören und verunsichern. Es ist nur zu verständlich, daß der heilsame Charakter dieser Verunsicherung verkannt und die als Störung empfundene Unterbrechung abgeschwächt oder beseitigt wird.
Die ältere Fassung des Dekalogs im 2. Buch Mose verankert das Gebot der Feiertagsheiligung im Schöpfungshandeln Gottes selbst: „Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn“ (2. Mose 20,11). Der Wechsel von Arbeit und Ruhe, der Rhythmus von Tätigsein und Feiern ist eine der Welt und dem menschlichen Leben von Anfang an eingezeichnete Signatur. Gott „vollendete“, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt, das Werk der Schöpfung, als er „ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte“ (1. Mose 2,2). Nicht die Steigerung des Arbeitseinsatzes, nicht die Verdoppelung der Kräfte vollenden das Werk, sondern die Ruhe von der Arbeit. Das ist für den Menschen Zumutung und Trost zugleich: die Zumutung, daß er den Erfolg seiner Arbeit nicht in Händen hat und gewährleisten kann, aber auch der Trost, daß ihm nicht mehr abverlangt wird, als menschenmöglich ist, und er den Erfolg seiner Arbeit ruhig in Gottes Hände legen kann. Der Genfer Katechismus von 1542 hat das auf die schöne Formel gebracht, daß es im Gebot der Feiertagsheiligung um die „geistliche Ruhe“ gehe: „Was heißt geistliche Ruhe? Wenn wir von unsern eigenen Werken ablassen, damit der Herr in uns wirke. Wie geschieht das? Wenn wir unser Fleisch töten, das heißt: wenn wir unserer Natur entsagen, damit Gott uns durch seinen Geist leitet. Braucht das nur an einem einzigen Tag in der Woche geschehen? Es muß unaufhörlich geschehen. Denn nachdem wir angefangen haben, müssen wir unser ganzes Leben hindurch fortfahren. Warum hat er denn einen Tag zur gleichnismäßigen Darstellung bestimmt? Es ist nicht erforderlich, daß das Gleichnis völlig der Wirklichkeit entspricht, sondern eine gewisse Ähnlichkeit genügt.“
Schon die alttestamentliche Verbindung von Sabbatheiligung und Schöpfungsgeschichte hat eine eschatologische Dimension. Alle Arbeit auf Erden geht dem Feiertag Gottes entgegen. Der irdische Feiertag ist ein Abbild davon und erinnert an Gottes ewigen Sabbat. Indem der Sonntag als der Tag der Auferstehung Jesu Christi an die Stelle des Sabbat getreten ist, wird der eschatologische Bezug der Feiertagsheiligung noch verstärkt. Jeder Sonntag erinnert an die neue Schöpfung, die in Jesus Christus schon Gegenwart ist und die in aller Herrlichkeit doch erst noch kommen wird. Die Welt und das Leben der Menschen gehen auf die große Ruhe Gottes zu, mit der alle Mühe und Arbeit, alles Versagen und Scheitern, alle vorläufige Erkenntnis und Erfüllung zu einem Ende kommen. Das ist unübertrefflich im Hebräerbrief ausgesprochen: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den Seinen“ (4,9f). Oder wie es in dem leider kaum je noch gesungenen wunderschönen Paul-Gerhardt-Lied heißt: „Hier reis ich bis zum Grabe; dort in der ewgen Ruh ist Gottes Gnadengabe, die schließt all Arbeit zu“ (EG 529,1).
Wenn die Sonntagsheiligung in dem Maße, wie ich es hier vortrage, auf die Ruhe von der Alltagsarbeit bezogen und der Sonntag also gewissermaßen als Symbol des Reichs der Freiheit im Gegenüber zum Reich der Notwendigkeit dargestellt wird, dann muß ein Einwand bedacht werden, der sich aus der Entwicklung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ergibt. Es ist keine Frage, daß die wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung der letzten 150 Jahre die Arbeitszeit dramatisch verkürzt und den Umfang der Freizeit ebenso dramatisch ausgeweitet hat. Von daher läßt sich der Einwand formulieren: Bedarf es um der Ruhe von der Alltagsarbeit willen überhaupt noch des Sonntags? Ist nicht das Problem mittlerweile eher das geworden, daß die Menschen mit der vielen freien Zeit kaum etwas anzufangen wissen? Abgesehen davon, daß Alltagsarbeit mehr meint als berufliche Arbeit und insofern tarifliche Arbeitszeitverkürzungen keine völlig neue Lage schaffen - die freie Zeit des Sonntags zeichnet sich vor der Freizeit während der Arbeitswoche dadurch aus, daß sie gemeinsame Zeit ist. Die um sich greifende Flexibilisierung der Arbeitszeit führt dazu, daß bei sinkender Wochenarbeitszeit dennoch weniger gemeinsame freie Zeit zur Verfügung steht. Posaunenchöre und Tischtennismannschaften können ein Lied davon singen - ich rede aus Erfahrung. Man kann nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen, daß bis auf Ausnahmen die Abende der Wochentage freigehalten werden können. Um so wichtiger ist die gemeinsame Zeit des Sonntags.
3. Mit welchen Mitteln können sich Kirchen und Christen für den Schutz des Sonntags einsetzen?
a) Nicht das, was Kirchen und Christen über den Schutz des Sonntags sagen, nicht das, was sie politisch fordern und betreiben, ist ausschlaggebend, sondern wie sie selbst mit dem Sonntag umgehen. Die Sonntagskultur - oder eben Sonntagsunkultur - im Erscheinungsbild von Gemeinden, Familien und Lebensführung des einzelnen spricht eine viel deutlichere Sprache als alle öffentlichen Erklärungen und synodalen Entschließungen. In diesem Zusammenhang kommt den Gottesdiensten am Sonntag eine besondere Bedeutung zu. Nicht daß der Sonntag erst und allein durch den Gottesdienst zum Sonntag würde. Wer diese Voraussetzung machte, würde zu der schwerwiegenden Folgerung getrieben, daß ohne die Teilnahme am Gottesdienst der Sonntag seinen inneren Sinn verliert - eine Folgerung, die weder theologisch notwendig ist noch von der Erfahrung (mit der Teilnahme und der Nicht-Teilnahme am Gottesdienst) gedeckt wird. Die Heiligung des Sonntags steht, wie ich zu zeigen versucht habe, in einem anderen Begründungszusammenhang. Aber in diesem anderen Begründungszusammenhang geht es nun darum, vorzuleben und zu demonstrieren, daß sich der Sonntag sinnvoll vom Alltag abhebt und daß die Unterscheidung des Sonntags vom Alltag dem Menschen gut tut. Die Verlegenheit, den Sonntag sinnvoll zu füllen und zu gestalten, ist offenkundig.
Der öffentliche Gottesdienst ist das Markenzeichen für die kirchliche Gestaltung und Füllung des Sonntags. Wenn der Gottesdienst inhaltlich dürftig bleibt, wenn er lieblos wirkt und kümmerlich besucht ist, dann wird er als Gestaltungsmittel des Sonntags beschädigt. Der Gottesdienst ist das zentrale Angebot im Schaufenster kirchlicher Beiträge zur Heiligung des Sonntags.
Nicht so kritisch, wie das gelegentlich geschieht, fällt mein Urteil über das vielfältige Angebot kirchlicher Veranstaltungen am Sonntag aus. Heiligung des Sonntags bedeutet doch nicht, daß nichts getan werden soll. Vielmehr geht es darum, daß die Arbeit der täglichen Daseinsvorsorge heilsam unterbrochen wird. Weder die Strenge der Sabbatheiligung bei den orthodoxen Juden noch die Freudlosigkeit und gähnende Langeweile puritanischer Sonntagsheiligung sind ermutigende Vorbilder. Wer den Sabbat oder den Sonntag von aller Tätigkeit - außer den religiösen Übungen - freihalten will, wird weder dem inneren Sinn des Gebotes Gottes gerecht, noch weckt er das Verständnis für die Menschenfreundlichkeit dieses Gebotes. Ich kann darum im Prinzip nichts Schädliches darin sehen, daß Jahresfeste von kirchlichen Einrichtungen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Seminare oder auch Synodentagungen an einem Sonntag stattfinden.
Viel schwerwiegender ist das, was in der Lebensführung des einzelnen zwar verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit geschieht, aber in der Familie und im Freundeskreis offen zutage liegt. Ich weiß es schließlich von mir selbst am besten: Ich mache den Sonntag gelegentlich zum Werktag. Das sind Zeiten, in denen ich unter dem Eindruck stehe, für meine berufliche Arbeit reichten die sechs Werktage nicht aus. Ich rede nicht gesetzlicher Enge und Strenge das Wort. Die Formulierung des Genfer Katechismus von 1542, die ich zitiert habe, ist weise: „Es ist nicht erforderlich, daß das Gleichnis völlig der Wirklichkeit entspricht, sondern eine gewisse Ähnlichkeit genügt.“ Aber diese wohltuende Freiheit von gesetzlicher Enge darf nicht unter der Hand dazu führen, daß die Wohltat des Wechsels von Arbeit und Ruhe ihrerseits verloren geht.
b) Was das eigene Verhalten unausdrücklich ausspricht und lehrt, kann und soll natürlich auch zum Gegenstand ausdrücklicher Lehre werden. Kinder lernen aus dem Verhalten ihrer Eltern, ob und was der Sonntag ihnen bedeutet. Darüber wird dann in der Familie auch geredet. Christliche Eltern sollen Auskunft geben können darüber, warum der Sonntag anders ist und anders bleiben soll als der Alltag. Die christliche Unterweisung im Kindergarten, im Religionsunterricht und in der Konfirmandenarbeit haben die Aufgabe, die Weitergabe und Erklärung des christlichen Glaubens durch Eltern, Paten, Familienangehörige und Freunde zu unterstützen und zu vertiefen. Gut ist es, wenn dabei auf brauchbare Hilfsmittel zurückgegriffen werden kann. Die Katechismen könnten solche Hilfsmittel sein, wenn sie denn an dieser Stelle ein befriedigendes Angebot machten. Leider ist das, ich bin kurz darauf eingegangen, im Falle des 3. bzw. 4. Gebots sowohl bei Luthers Kleinem Katechismus als auch beim Heidelberger Katechismus nicht der Fall.
Die Katechismen, die sich dem Geist der Aufklärungszeit verdanken, waren hier lebenspraktischer. So heißt es im „Katechismus der christlichen Religions-Lehre zum Gebrauche beim Religions-Unterrichte“ in den pfälzischen Kirchen und Schulen von 1833:
„Wie soll sich der Christ an den Sonn- und Feyertagen verhalten?
Er soll von den Geschäften seines Berufes ruhen; nur im Fall der Noth irdische Arbeiten verrichten; ohne dringende Umstände mit den Seinigen die Kirche nicht versäumen, und in derselben, durch Stille, Wohlanständigkeit und Andacht, seine Ehrfurcht gegen Gott und seine Achtung gegen die Versammlung zu erkennen geben.
Wodurch werden die Feyertage besonders entheiligt?
1. Durch Verrichtung irdischer Geschäfte, die sich ohne Nachtheil auf die Arbeitstage verschieben lassen;
2. Durch leichtsinnige und muthwillige Versäumung der öffentlichen Gottesverehrung;
3. Durch unanständige und unmäßige Vergnügungen.“
Sachlich und sprachlich befriedigend ist freilich auch das nicht. Das Ganze ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie dringlich die evangelische Kirche einen ergänzenden modernen Katechismus braucht.
c) Sonntagsheiligung ist nicht an bestimmte politische oder rechtliche Gegebenheiten gebunden. In anderen Ländern und Kulturen müssen Christen andere Wege gehen, um dem Gebot der Sonntagsheiligung unter ihren Lebensumständen Rechnung zu tragen - wie ja auch Juden und Muslime in Ländern, deren Kultur christlich geprägt ist, ihre Traditionen nur in verwandelter Gestalt pflegen können. Dieser Umstand darf jedoch nicht die Einsicht verdunkeln, daß das Gebot der Sonntagsheiligung - eben weil es auf die elementare Unterscheidung von Arbeit und Ruhe zielt - nach institutionellen Gewährleistungen verlangt. Für das Gebot der Sonntagsheiligung war darum die vielgeschmähte konstantinische Wende ein entscheidendes Datum. Man kann den 3. März 312 geradezu als den Geburtstag des Sonntags als eines staatlichen Ruhetags ansehen. Das Edikt Kaiser Konstantins lautete: „Alle Richter, die Bevölkerung der Städte und die gesamte Erwerbstätigkeit sollen frei am verehrungswürdigen Tag der Sonne ruhen“- auch hier übrigens unter weiser Vermeidung gesetzlicher Enge, denn das Edikt fährt fort: „Die Bauern allerdings sollen frei und ungehindert der Bestellung der Felder nachgehen, da es häufig vorkommt, daß kein Tag geeigneter ist, den Getreidesamen den Furchen und die Weinstocksetzlinge den Löchern anzuvertrauen, damit nicht etwa die Gunst des Augenblicks, von himmlischer Vorsehung beschieden, verpaßt werde.“ Weil die Sonntagsheiligung nach institutioneller Gewährleistung verlangt, ist es auch heute Aufgabe der Kirchen und der Christen, sich als Politiker, als Unternehmer, als Gewerkschafter, aber auch bei Politikern, Unternehmern und Gewerkschaftern für verläßliche Regelungen zum Schutz des Sonntags einzusetzen.
Hinweisen muß ich noch auf ein argumentatives Problem, mit dem man es in diesem Zusammenhang zu tun bekommt. Es geht dabei - flapsig ausgedrückt - um die bewußte oder unbewußte „Salamitaktik“ bei der Zulassung weiterer Sonntagsarbeit. Jede einzelne Regelung oder Entscheidung für sich genommen schafft qualitativ keine neue Lage. Es handelt sich quantitativ betrachtet um minimale Verschiebungen. Bei der Auseinandersetzung über einen neuen Vorschlag begegnet man darum regelmäßig dem Hinweis, daß sich relativ wenig ändere und daß die Auswirkung auf den Prozentanteil der am Sonntag Beschäftigten gering bleibe. Aber irgendwann schlägt Quantität in Qualität um. Man muß das Additionsergebnis der vielen kleinen Schritte in den Blick fassen. Es ist immer ein einzelner Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Darum ist die Beruhigung über den quantitativ geringen Umfang jedes einzelnen Schrittes nur falscher Schein.
Ich schließe mit einem Zitat aus der „Ethik“ von Wolfgang Trillhaas: „Das Festhalten an der Sonntagsordnung durch die christliche Gemeinde ist ... ein Protest gegen eine Gesellschaft, die alle überkommenen Ordnungen ihres gesellschaftlichen Lebens bis hin zum Rhythmus von Arbeit und Feier einebnen möchte, um zu optimalen Effekten der Arbeitsleistung zu gelangen. Hier darf aber der Widerstand der christlichen Gemeinde nicht nur um der Aufrechterhaltung ihrer eigenen hergebrachten Ordnung willen geschehen. Diese könnte sogar preisgegeben werden; denn die Christen haben ‘allezeit Sabbat’. Vielmehr - und das macht das Problem zu einem ethischen - bringt hier die Christenheit etwas allgemein Menschliches zur Geltung. Die Gottesdienste sind schließlich nicht an den Sonntag gebunden. Aber wo die Arbeit und der Alltag zu einer alles übergreifenden übermächtigen Institution zu werden drohen, da muß auch die Feier - und diese allerdings in ihrer ganzen Radikalität begriffen - als Institution geltend gemacht und festgehalten werden. Die Christenheit ... hat allen Grund, diesen Kampf für das Menschsein des Menschen zu führen; denn es ist kaum zu erwarten, daß die im Schema der gleitenden Arbeitswoche dem einzelnen zugewiesenen privaten Freizeiten diesem einzelnen als echte Feiertage noch gelingen werden, wenn ihm keine Institution schützend zur Seite steht“ (2., neu bearbeitete Auflage 1965, S. 356).