Gesetzentwurf zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher
Gemeinsame Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Leiters des Kommissariats der deutschen Bischöfe
Die beiden großen christlichen Kirchen danken dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Übersendung des Referentenentwurfs und nehmen die Gelegenheit, diesen zu kommentieren, gern wahr. Beide Kirchen haben sich außerdem über die Einladung gefreut, den Entwurf im Rahmen einer Besprechung mündlich zu erörtern.
Wie der Referentenentwurf ausführt, steigt - abhängig von internationalen Krisenherden und sich ausweitenden (Bürger-) Kriegen - die Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die unbegleitet nach Deutschland einreisen und hier weder mit einem Personensorgeberechtigten noch mit einem anderen Erziehungsberechtigten zusammen leben können. Es ist mit einem weiteren Anstieg der Zahlen zu rechnen. Die Kapazitätsgrenzen sind mancherorts bereits so weit überschritten, dass eine dem Kindeswohl entsprechende Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen erheblich erschwert bzw. nicht mehr gewährleistet ist. Außerdem sind die mit der Aufnahme und Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen verbundenen Belastungen unter den Kommunen sehr ungleichmäßig verteilt. Um diesen beiden Phänomenen entgegen zu wirken, führt der Referentenentwurf ein bundesweites Verteilungsverfahren ein, mit dem die unbegleiteten Minderjährigen nach einem dem „Königsteiner Schlüssel“ entsprechenden Berechnungsmodell auf das gesamte Bundesgebiet verteilt werden sollen, wenn das Kindeswohl durch eine Verteilung nicht gefährdet wird.
Die Kirchen sehen die Notwendigkeit, auf die Überlastung einiger Kommunen zu reagieren. Sie begrüßen, dass der Gesetzentwurf das Primat der Kinder- und Jugendhilfe festschreibt und die Primärzuständigkeit für die Erstversorgung und Unterbringung von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen beim Jugendamt verbleibt. Allerdings sollte aus unserer Sicht Ziel des Verfahrens zur Verteilung von ausländischen unbegleiteten Minderjährigen die Gewährleistung des Kindeswohls sein und nicht - wie jetzt vorgesehen – lediglich geprüft werden, ob das Kindeswohl durch eine Verteilung gefährdet wird.
Die Kirchen bedauern, dass die Chance, im Rahmen des aktuellen Gesetzesvorhabens den Bereich der unbegleiteten ausländischen Kinder und Jugendliche umfassend zu regeln, nicht genutzt wurde. In Hinblick auf die spezifischen Rechte, die in der EU-Aufnahmerichtlinie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vorgesehen sind, besteht die Gefahr, gegen die Sperrwirkung der Richtlinie zu verstoßen, die der EuGH aus Art. 288 Abs. 3 AUEV, Art. 4 Abs. 3 EUV ableitet. Danach haben Staaten Rechtshandlungen zu unterlassen, die dem angestrebten Erfolg einer Richtlinie vereiteln können. Diese Frage stellt sich hier bei der Regelung des § 42a Abs. 3 SGB VIIIE, der der Zielrichtung von Art. 24 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie entgegenstehen könnte.
Die Kirchen begrüßen, dass der Referentenentwurf auf eine schnelle Entscheidung über die Verteilung Wert legt, um die Phase der Unsicherheit für die Betroffenen möglichst kurz zu halten. Auch uns ist es ein Anliegen, Betroffenen möglichst schnell zu ermöglichen, an einem Ort anzukommen, und damit den Transitzustand, zu dem auch die Phase des Verteilungsverfahrens zählt, zu verkürzen. Diese hält die Betroffenen in einem ungewissen und damit belastenden Zustand. Zu Recht weist der Referentenentwurf darauf hin, dass unbegleitete Kinder und Jugendliche zu den schutzbedürftigsten Gruppen überhaupt zählen, die während ihrer Flucht oftmals Verletzungen und Traumata erfahren haben.
Ferner ist die Einführung einheitlicher Standards zur Altersfeststellung erforderlich. Dazu möchten wir auf die von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter vorgeschlagenen gemeinsamen Standards verweisen. Die Feststellung des Alters sollte in qualifizierter Weise erfolgen und zum Zweck der späteren Verwertung der Erkenntnisse, etwa bei einer erneuten Altersfeststellung nach der Verteilung oder vor Gericht, in einer nachvollziehbaren Weise dokumentiert werden.
Schließlich möchten wir darauf hinweisen, dass Kinder und Jugendliche, die ohne Begleitung einer Bezugsperson in Deutschland ankommen, häufig einen längeren Zeitraum benötigen, bevor sie sich öffnen und von ihrer Familie bzw. ihren Erlebnissen berichten. Deswegen sollte es während des gesamten Zeitraums der Inobhutnahme möglich sein, eine Zusammenführung des Kindes mit Familie und sonstigen Bezugspersonen oder eine erneute Verteilung in die Zuständigkeit eines anderen Jugendamtes zu veranlassen, wenn das Kindeswohl dies gebietet. Der vorliegende Gesetzentwurf erscheint uns vor diesem Hintergrund zu starre Regelungen vorzusehen. Eine flexible Reaktion auf nach der Verteil- oder Zuweisungsentscheidung bekannt gewordene Bedürfnisse der unbegleiteten Minderjährigen scheint nicht möglich.
Die Kirchen begrüßen, dass die Sonderregelung für junge Ausländer, die eine Handlungsfähigkeit in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren bereits nach Vollendung des 16. Lebensjahres vorsah, nun in § 12 AsylVfG-E sowie § 80 AufenthG-E aufgehoben werden soll. Die Verfahrensmündigkeit soll künftig erst mit Volljährigkeit eintreten. Dies entspricht einer langjährigen Forderung beider Kirchen und hatte sich ihrer Ansicht nach bereits aus der Aufhebung des Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention der Bundesregierung im Juli 2010 ergeben. Zu beachten ist allerdings, dass für unbegleitete Minderjährige dann – um asylrechtliche Verfahrensschritte wie die Asylantragstellung vollziehen zu können – eine rechtliche Vertretung benannt werden muss. Andernfalls besteht das Risiko, dass relevante Rechtsansprüche wie den Anspruch auf Familiennachzug der Eltern abgeschnitten werden könnten.
Zu den Regelungen im Einzelnen:
Zu § 6 Absatz 2 SGB VIII-E: Personeller Anwendungsbereich
Beide Kirchen begrüßen, dass § 6 Absatz 2 Satz 1 SGB VIII-E die Leistungsgewährung nach SGB VIII für unbegleitete minderjährige Kinder und Jugendliche bereits dann vorsieht, wenn diese sich tatsächlich in Deutschland aufhalten. Mit dem Verzicht auf die Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthaltes oder dem Vorliegen einer ausländerrechtlichen Duldung für Minderjährige, die sich mit ihren Eltern in Deutschland aufhalten, eröffnet § 6 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII-E künftig auch Kindern in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität, Leistungen zu beziehen. Beide Kirchen plädieren allerdings dafür, auch begleitete Kinder und Jugendliche insofern gleichzustellen und auf die in § 6 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII-E aufgenommenen weiteren Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung („tatsächlicher Mittelpunkt der Lebensführung im Inland“) zu verzichten.
Zu § 42a SGB VIII-E: Vorläufige Inobhutnahme
Aus dem Referentenentwurf geht unseres Erachtens nach nicht hervor, inwieweit und in welchem Stadium des Verfahrens die Kinder und Jugendlichen an der Feststellung zum Kindeswohl, die durch das erstaufnehmende Jugendamt getroffen werden soll, zu beteiligen sind. Da die angemessene Beteiligung in Absatz 5 ausdrücklich vorgesehen ist, ließe sich daraus ableiten, dass bei den restlichen Feststellungen und Verfahrensschritten eine Beteiligung der unbegleiteten Minderjährigen nicht zu erfolgen hat. Um die Einschätzungen, die in Absatz 2 vorgesehen sind, vornehmen zu können, ist jedoch die Beteiligung der betroffenen unbegleiteten Minderjährigen aus unserer Sicht unerlässlich. Die Akzeptanz des Verfahrens bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen, die für eine erfolgreiche Umsetzung des Gesetzentwurfs in der Praxis elementar sein dürfte, wird nur entstehen, wenn diese den Eindruck gewinnen, dass ihre Bedürfnisse Gehör und Beachtung finden. Wir schlagen deshalb vor, eine angemessene Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in allen Verfahrensschritten zu regeln.
Absatz 1:
Durch § 42a Abs. 1 i.V.m. § 88a Abs. 1 SGB VIII-E wird das Jugendamt, in dessen Bezirk die unbegleitete Einreise eines ausländischen Kindes oder Jugendlichen erstmals festgestellt wird, zur vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet. Bei der Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen handelt es sich um Kinder und Jugendliche, die bereits eine erhebliche Entfernung ohne Begleitung von Bezugspersonen hinter sich gelegt haben. Es ist daher davon auszugehen, dass sich die Kinder und Jugendlichen auch ohne eine behördliche Zuweisungs- oder Verteilentscheidung an den Ort begeben, den sie erreichen wollen. Aus den Regelungen des Gesetzentwurfs geht nicht eindeutig hervor, wie in solchen Fällen zu verfahren ist.
Für unbegleitete Minderjährige, die sich unter Angabe einer falschen oder anderen Identität bei einem neuen Jugendamt melden, greift das Verfahren nach § 42a ff. SGB VIII-E, da unter diesem Namen noch keine vorläufige Inobhutnahme erfolgt ist. Ein unbegleiteter Minderjähriger, der sich unter dem gleichen Namen, gegebenenfalls auch mit einem Hinweis auf die bereits erfolgte vorläufige Inobhutnahme, bei einem anderen Jugendamt meldet, unterfällt diesem Verfahren nicht mehr, da seine unerlaubte Einreise nicht „erstmals“ festgestellt wird. Wir schlagen deshalb vor, „erstmals“ zu streichen. So kann sichergestellt werden, dass bis zu dem Zeitpunkt einer bindenden Verteilentscheidung eine Pflicht zur vorläufigen Inobhutnahme auch dann besteht, wenn das Kind oder der Jugendliche bereits durch ein anderes Jugendamt vorläufig in Obhut genommen worden ist und sich unerlaubt aus dem Gebiet dieses Jugendamtes entfernt hat. Auch wird ein etwaiger Rücktransfer, der dem Kindeswohl kaum dienen kann, vermieden.
Absatz 2:
Nr. 1: Nach § 42a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII-E hat das Jugendamt während der vorläufigen Inob-hutnahme einzuschätzen, ob das Wohl des Kindes oder Jugendlichen durch dessen Verteilung gefährdet würde. Nach § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII-E ist in einem solchen Fall die Verteilung ausgeschlossen. Die Kirchen sprechen sich dafür aus, bei dieser Entscheidung auf das Kindeswohl und nicht auf eine etwaige Kindeswohlgefährdung abzustellen. Dies entspricht auch der Intention des Referentenentwurfs, nach dessen Begründung zu § 42a Abs. 2 Nr. 1 eine „am Kindeswohl ausgerichtete Entscheidung über die Verteilung“ sicherzustellen ist. Diesem Maßstab wird die Verkürzung auf die Prüfung der Kindeswohlgefährdung jedoch nicht gerecht. Während der dauerhaften Inobhutnahme nach § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII gilt die Ausrichtung am Kindeswohl. Dieser Standard der Jugendhilfe sollte konsequenterweise auch durchweg während der vorläufigen Inobhutnahme zur Anwendung kommen. Das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung ist die Voraussetzung für Eingriffe in das Elternrecht aus Art. 6 Absatz 2 GG. Bei den unbegleiteten Minderjährigen ist jedoch gerade nicht das Elternrecht mit dem Kindeswohl abzuwägen. Auch aus diesem Grund erscheint das Abstellen auf eine „Gefährdung“ inadäquat.
Nr. 2: § 42a Abs. 2 Nr. 2 sieht vor, dass das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme einzuschätzen hat, ob sich eine mit dem Kind oder Jugendlichen verwandte Person im Inland aufhält. In der Entwurfsbegründung heißt es auf S. 24, dass hierzu keine „vertiefte Recherche“ erforderlich sein soll. Damit fehlt es an erforderlichen Vorgaben, wie detailliert eine solche Prüfung zu erfolgen hat.
Darüber hinaus erscheint es naheliegend, an dieser Stelle auch solche Nähebeziehungen zu berücksichtigen, die nicht die Voraussetzung einer familienrechtlichen Verwandtschaft erfüllen. Denkbar wäre die Berücksichtigung auch von sonstigen Bezugspersonen, zu denen eine Beziehung schon vor der Einreise bestanden hat. Um der Gefahr von nur vorgeblichen Nähebeziehungen entgegenzuwirken, sollte die Möglichkeit bestehen, das Kind oder den Jugendlichen nicht direkt in die Obhut der Bezugsperson zu geben, aber eine Verteilung an das Jugendamt vorzunehmen, in dessen Bezirk die Bezugsperson ihren Aufenthalt hat. Nr. 3: § 42a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII-E sieht vor, dass das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme einzuschätzen hat, ob das Wohl des Kindes oder Jugendlichen eine gemeinsame Verteilung und Inobhutnahme mit anderen unbegleiteten ausländischen Kindern oder Jugendlichen erfordert. Die Kirchen begrüßen, dass dieser Belang in die Einschätzung des Jugendamts einbezogen werden soll. Kinder und Jugendliche, die unbegleitet flüchten, bauen unter Umständen auf der Flucht bedeutende Vertrauensverhältnisse zu anderen Minderjährigen auf, die nicht durch eine Verteilung zum Abbruch gebracht werden sollten.
Nr. 4: Nach § 42a Absatz 2 Nr. 3 SGB VIII-E hat das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme einzuschätzen, ob der Gesundheitszustand des Kindes oder Jugendlichen dessen Verteilung innerhalb von 14 Werktagen nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme ausschließt. Zu diesem Zweck soll eine ärztliche Stellungnahme eingeholt werden. In der Gesetzesbegründung wird klargestellt, dass es hierbei vor allem um eine Regelung der Gefahrenabwehr gehen soll. Der Gesundheitszustand steht einer Verteilung dann entgegen, wenn der unbegleitete Minderjährige eine ansteckende Erkrankung hat. Auf das Vorliegen anderer Erkrankungen oder Traumatisierungen, die unter Umständen der Begutachtung eines Facharztes bedürften, wird nicht eingegangen. Des Weiteren wird außer Acht gelassen, dass der Gesundheitszustand des Kindes oder Jugendlichen einer Verteilung nicht nur entgegenstehen, sondern diese sogar erfordern kann. Dies wäre der Fall, wenn zur Behandlung einer Krankheit oder Traumatisierung eine besondere Spezialisierung erforderlich ist, die nicht überall vorgehalten wird.
Um dem Titel des Gesetzes, der Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher gerecht zu werden, schlagen die Kirchen vor, Kinder und Jugendliche bereits während der Phase der vorläufigen Inobhutnahme einer umfassenden ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, um auch Krankheiten erkennen zu können, die gegebenenfalls einer besonderen medizinischen Versorgung bedürfen.
Absatz 3:
Das erstaufnehmende Jugendamt ist während der vorläufigen Inobhutnahme berechtigt und verpflichtet, alle zum Wohl des Kindes oder Jugendlichen notwendigen Rechtshandlungen vorzunehmen. Die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers muss erst dann unverzüglich veranlasst werden, wenn die Inobhutnahme nicht nach sieben Werktagen endet.
Ausweislich der Begründung soll durch diese Regelung die Vorgabe der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU erfüllt werden . Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, so bald wie möglich einen Vertreter zu bestellen, der den asylsuchenden unbegleiteten Minderjährigen vertritt und
unterstützt. Der Vertreter soll das Kindeswohl wahren und erforderliche Rechtshandlungen vornehmen. Die vorgesehene Regelung könnte jedoch gerade gegen Art. 24 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie verstoßen. Dort heißt es, dass die Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen durch eine Organisation oder eine Einzelperson erfolgen soll. Fraglich erscheint, ob staatliche Stellen unter den Begriff „Organisation“ im Sinne der Richtlinie fallen. Der Begriff der Organisation bezieht sich unseres Erachtens vielmehr auf nichtstaatliche Stellen, da der Vertreter die Rechte des unbegleiteten Minderjährigen im Asylverfahren gegenüber staatlichen Stellen wahrnehmen soll. Aber auch wenn staatliche Stellen Vertreter im Sinn der Richtlinie sein können, bestehen Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit Art. 24 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie. Diese fordert in Satz 2, dass der Vertreter des unbegleiteten Minderjährigen seine Aufgaben im Einklang mit dem Grundsatz des Kindeswohls ausüben und entsprechend versiert sein muss.
Erfahrungen, die kirchliche, caritative und diakonische Beratungsstellen in Verfahren unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender machen, zeigen, dass eine Vertretung der rechtlichen Interessen des unbegleiteten Minderjährigen im Asylverfahren durch Jugendämter häufig gar nicht oder nicht im erforderlichen Ausmaß erfolgen. So sind uns beispielsweise Fälle bekannt, in denen die Stellung eines Asylantrags unterlassen wurde bis der unbegleitete Minderjährige volljährig geworden ist. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass der Betroffene nicht alle ihm zustehenden Rechte in Anspruch nehmen kann. Im Falle einer verspäteten Asylantragstellung verwirkt ein dann volljähriger anerkannter Flüchtling beispielsweise das Recht, seine Eltern im Wege des Familiennachzugs nach § 36 Abs. 1 AufenthG nach Deutschland zu holen.
Des Weiteren wird in Art. 24 Abs. 1 Satz 4 der Richtlinie festgelegt, dass Einzelpersonen oder Organisationen, deren Interessen denen des unbegleiteten Minderjährigen zuwiderlaufen oder zuwiderlaufen könnten, nicht als Vertreter in Betracht kommen. Die Verteilung eines unbegleiteten Minderjährigen auf ein anderes Jugendamt stellt einen belastenden Verwaltungsakt dar. Gemäß § 42b Abs. 7 SGB VIII-E ist der Widerspruch gegen die Verteilentscheidung ausgeschlossen; eine Klage soll keine aufschiebende Wirkung haben. Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass das Verfahren zur Bestellung eines Vormunds oder Pflegers vor Familiengerichten zwischen sechs und acht Wochen in Anspruch nimmt. Da die Bestellung eines Pflegers bzw. Vertreters nach 7 Werktagen veranlasst werden soll, wird ein Vertreter frühestens nach sieben bis neun Wochen bestellt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Klagefrist gegen die Verteilentscheidung bereits abgelaufen. Die in § 42b Abs. 3 vorgesehene Regelung führt somit zu der Konstellation, dass das Jugendamt, das die Verteilentscheidung erlassen hat, auch dafür zuständig sein soll, diese Entscheidung zur Wahrung des Kindeswohls im Klagewege anzufechten.
Bei einer rechtlichen Vertretung der unbegleiteten Minderjährigen durch das Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme erscheint uns daher zum einen nicht gewährleistet, dass alle rechtlich erforderlichen Schritte des Asylverfahrens umgehend eingeleitet werden. Zum anderen könnten eigene Interessen der Jugendämter, Kommunen oder Länder die Wahrnehmung des Kindeswohls erschweren.
Die Kirchen schlagen deshalb vor, das Ruhen der elterlichen Sorge bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen unverzüglich nach deren Aufgreifen festzustellen. Um dies zu
ermöglichen, könnten die Regelungen im BGB (§ 1674 BGB) angepasst werden. Um eine unnötige Befassung des Familiengerichts am Ort des Jugendamtes, das für die vorläufige Inobhutnahme zuständig ist, zu vermeiden, könnte auch eine vorläufige Vormundschaft nach dem Vorbild des § 300 FamFG vorgesehen werden.
Zu § 42b SGB VIII-E: Verteilverfahren
Absatz 1:
Gemäß § 42a Abs. 4 SGB VIII-E hat das Jugendamt, das einen unbegleiteten Minderjährigen vorläufig in Obhut genommen hat, die nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Jugendlichen zuständige Stelle innerhalb von sieben Werktagen nach Beginn der Inobhutnahme zu informieren und ihr das Ergebnis der Einschätzung nach Absatz 2 mitzuteilen. Kommt diese Stelle zu der Einschätzung, dass eine Verteilung erfolgen soll, hat sie das Bundesverwaltungsamt zu kontaktieren. Eine Frist für diesen Verfahrensschritt ist allerdings nicht vorgesehen.
Die beiden großen Kirchen regen deshalb an, eine starre Frist auch für die Übermittlung der Verteilungsentscheidung der Landesstelle an das Bundesverwaltungsamt vorzusehen.
Des Weiteren ist im Gesetzestext nicht vorgesehen, dass die Einschätzungen des Jugend-amts der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a Abs. 2 SGB VIII-E weitergegeben werden sollen, dies ergibt sich lediglich aus der Gesetzesbegründung. Aus einem Umkehrschluss zu § 42a Abs. 4 SGB VIII-E könnte allerdings gefolgert werden, dass eine Weitergabe nicht erfolgen soll. Die Einschätzungen des Jugendamtes, das den unbegleiteten Minderjährigen vorläufig in Obhut genommen hat, sind allerdings unerlässlich, um etwa eine Zusammenführung mit Verwandten in anderen Bundesländern sicherstellen zu können. Die Kirchen regen deshalb an, die Weitergabe der Einschätzungen des Jugendamtes auch an das Bundesverwaltungsamt zur Klarstellung in den Gesetzestext aufzunehmen. Dies könnte im Rahmen des § 42b Abs. 1 Satz 1 SGB VIII-E erfolgen.
Des Weiteren sollte § 42b Abs. 1 Satz 2 SGB VIII-E festschreiben, dass die der Einschätzung zugrunde liegenden Belange (§ 42a Absatz 2 SGB VIII-E) auch in das Ermessen bezüglich der Verteilungsentscheidung einzubeziehen sind. Dies entspricht der Ausrichtung am Kindeswohl, das für das gesamte Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme lenkend sein sollte.
Absatz 2:
Dieser Zusatz regelt den Vorrang der landesinternen Verteilung innerhalb der Aufnahmequote nach § 42c SGB VIII-E. Ausweislich des Referentenentwurfs wird hiermit bezweckt, die mit einer Überführung verbundenen Belastungen des Kindes oder Jugendlichen zu minimieren. Vor dem Hintergrund, dass die Kindeswohlbelange aus § 42a Abs. 2 SGB VIII-E an dieser Stelle nicht genannt werden, ergibt sich ein Wertungswiderspruch. Dies bekräftigt erneut das oben genannte Anliegen, auch die übrigen Kindeswohlbelange ausdrücklich als für die Verteilungsentscheidung relevant zu nennen. So würde auch ein Umkehrschluss zulasten der in § 42a Abs. 2 SGB VIII-E genannten Interessen vermieden.
Absatz 3:
Das Bundesverwaltungsamt bestimmt das Land, das nach der Aufnahmequote des § 42c SGB VIII-E für die Aufnahme des unbegleiteten Minderjährigen zuständig ist. Innerhalb des Landes muss wiederum die nach Landesrecht für die Verteilung von unbegleiteten ausländischen Jugendlichen zuständige Stelle das Kind oder den Jugendlichen einem Jugendamt zur Inobhutnahme zuweisen. Dieses Jugendamt soll für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Minderjähriger geeignet sein. Die Kirchen begrüßen, dass auf diesem Wege auf die besonderen Bedürfnisse von ausländischen unbegleiteten Minderjährigen hingewiesen wird. Aus ihrer Sicht sollte der Gesetzgeber jedoch darüber hinaus bundesweit geltende, gemeinsame Standards anregen. So könnte in der Gesetzesbegründung beispielsweise Bezug auf die Handlungsempfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen genommen werden.
Darüber hinaus ist auch an dieser Stelle eine genaue Frist zwischen Zuweisungsentschei-dung und Übergabe des Minderjährigen erforderlich. Eine solche ist im Gesetzentwurf nicht benannt. In der Praxis ergeben sich hier jedoch Schwierigkeiten, wenn das Zuweisungsjugendamt die Aufnahme des Minderjährigen verzögert. Die Normierung einer Frist würde der Gefahr eines Verbleibs der Kinder und Jugendlichen in einer ungewissen Situation entgegen wirken.
Absatz 4:
Gemäß § 42b Abs. 4 SGB VIII-E ist eine Verteilung des unbegleiteten Minderjährigen ausgeschlossen, wenn sein Wohl durch die Verteilung gefährdet würde, der Gesundheitszustand eine Verteilung nicht zulässt, eine Zusammenführung mit einer verwandten Person möglich ist oder die Verteilung nicht innerhalb eines Monats nach Beginn der vorläufigen Inobhutnahme erfolgt.
Auch wenn eine Verteilung im Rahmen des Verfahrens nach § 42b Abs. 4 SGB VIII aus-scheidet, kann – etwa wenn Verwandte im Bundesgebiet leben oder wenn eine spezielle medizinische Behandlung angeraten ist - eine Zuweisung an ein anderes Jugendamt (gegebenenfalls auch in einem anderen Bundesland) im Sinne des Kindeswohls erforderlich sein. In diesen Fällen erscheint es nicht sinnvoll, die Zuständigkeit wie in § 88a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII-E vorgesehen bei dem Jugendamt der vorläufigen Inobhutnahme zu belassen.
Zu § 42f SGB VIII-E und Art. 5: Berichtspflicht und Evaluierung
Die beiden großen Kirchen begrüßen, dass der Gesetzesentwurf Maßnahmen vorsieht, die eine Bewertung der Situation von minderjährigen Ausländern ermöglichen und schnelles gesetzgeberisches Handeln bei etwaigen Missständen erleichtern werden. Dazu gehört der jährliche Bericht über die Situation unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in Deutschland, den die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag nach § 42f SGB VIII-E jährlich vorzulegen hat, sowie die für den 31. Dezember 2020 vorgesehene Evaluierung der Wirkungen dieses Gesetzes.
Zu Art. 3 Änderung des Asylverfahrensgesetzes
Die Kirchen begrüßen, dass die Sonderregelung für junge Ausländer, die eine Handlungsfähigkeit in asylrechtlichen Verfahren bereits nach Vollendung des 16. Lebensjahres vorsah, nun in § 12 AsylVfG-E aufgehoben werden und die Verfahrensmündigkeit künftig erst mit Volljährigkeit eintreten soll. Dies entspricht einer langjährigen Forderung beider Kirchen und hatte sich ihrer Ansicht nach bereits aus der Aufhebung des Vorbehalts zur Kinderrechtskonvention der Bundesregierung im Juli 2010 ergeben. Zu beachten ist allerdings, dass für unbegleitete Minderjährige dann – um asylrechtliche Verfahrensschritte wie die Asylantragstellung vollziehen zu können – eine rechtliche Vertretung benannt werden muss. Die Kirchen regen an, darüber hinaus in Umsetzung von Art. 7 Abs. 5 Bst. a) der Asylverfahrensrichtlinie auch Minderjährigen die Möglichkeit einzuräumen, einen Asylantrag in eigenem
Namen zu stellen.
Berlin im Juli 2015