Unser tägliches Brot gib uns heute
Neue Weichenstellung für Agrarentwicklung und Welternährung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. Mai 2015
3.5 Bebauen und Bewahren
In Gen 1,28 findet sich ein Auftrag Gottes an die Menschen zum Umgang mit der Erde und allem Lebendigen: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.« Dieser »Herrschaftsauftrag« ist im Lichte von Gen 2,15 zu interpretieren: »Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.« »Das Herrschen, das nach biblischer Aussage dem Menschen neben dem Bebauen und Bewahren eingeräumt und angewiesen ist, ist zu verstehen als das Handeln, durch das der Mensch den Lebensraum für sich und die übrigen Geschöpfe bewahrt«, schreibt der Theologe Wilfried Härle [85].
Die Welt ist uns in diesem Sinne anvertraut, um sie zu hegen und zu pflegen und ihre Potenziale zu entwickeln. Gefordert wird ein gärtnerischer Umgang mit der Natur. Mit der Sonderstellung des Menschen als Ebenbild Gottes, wie sie in der Schöpfungsgeschichte dargelegt ist, kommt dem Menschen die von Gott übertragene Verantwortung zu, die Schöpfung zu bewahren und sie treuhänderisch zu verwalten. Der Mensch ist selbst kreatives Geschöpf unter Mitgeschöpfen. Der Schöpfungsauftrag beinhaltet, die Erde zu kultivieren und sie zu einem für alle Menschen bewohnbaren Lebensraum zu machen. Der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen ist im Alten Testament vielfältig verankert. So schreiben die Gesetze Mose alle sieben Jahre eine einjährige Ruhepause für das Land vor: »Aber im siebten Jahr soll das Land dem Herrn einen feierlichen Sabbat halten; da sollst du dein Feld nicht besäen noch deinen Weinberg beschneiden.« (Lev 25,4).
Der Glaube an den Schöpfer stellt Christinnen und Christen damit in die Verantwortung, für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen Sorge zu tragen. Bei allem Gestalten und Bebauen ist die Vielfalt der Schöpfung zu achten und zu erhalten. Die Natur als Schöpfung Gottes hat einen eigenen Wert, den wir zu respektieren haben. Das bedeutet auch, dass der Freiheit zur Nutzung der Schöpfungsgaben Grenzen gesetzt sind. Ein rücksichtsloses und grenzenloses Ausplündern der Naturressourcen ist mit dem Glauben an den Schöpfer und der Achtung seiner Schöpfung nicht vereinbar. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, das heute als Überlebensprinzip der Menschheit eine globale Bedeutung erhalten hat, ist daher eng mit dem christlichen Schöpfungsglauben verbunden. »Beiden geht es darum, das geschaffene Leben zu achten, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten - auch für kommende Generationen - und die Güter der Erde gerecht zu verteilen.« [86] Ein frühes biblisches Zeugnis einer Nachhaltigkeitsregel findet sich in einer alttestamentlichen Vorschriftensammlung. In ihr heißt es - freilich im anthropozentrischen Kontext der semitischen Wander- und Nomadenkultur: »Wenn du unterwegs ein Vogelnest findest auf einem Baum oder auf der Erde mit Jungen oder mit Eiern und die Mutter sitzt auf den Jungen oder auf den Eiern, so sollst du nicht die Mutter mit den Jungen nehmen, sondern du darfst [!] die Jungen nehmen, aber die Mutter sollst du fliegen lassen, auf das es dir's wohlergehe und du lange lebest.« (5 Mose 22, 6 und 7). Die Reproduktions- und Trägersysteme sind zu erhalten und zu bewahren, um des eigenen Segens und des Segens der Nachkommen willen.
Das Nachhaltigkeitsprinzip fußt dabei auf alten Erfahrungen bäuerlichen Wirtschaftens: »Im Wald soll nicht mehr Holz geschlagen werden, als nachwächst. Dem Boden sollen nicht mehr Nährstoffe entnommen werden, als ihm zurückgegeben werden können. Das Vieh soll so gehalten werden, dass sein Wohlbefinden und Bestand auf Dauer gesichert bleibt. Der Hof soll in möglichst gutem Zustand als langfristige Produktionsgrundlage weitergegeben werden. Er ist mit seinen Menschen, seinem Boden, seinen Tieren und Pflanzen Bezugspunkt für ein Denken in langen Generationenketten. In der tiefen Verbundenheit mit ihm konkretisiert sich die Verantwortung für die Zukunft. Das Leitbild der Nachhaltigkeit verallgemeinert eine solche Haltung der inneren Verbundenheit mit der Schöpfung zum ethischen Leitprinzip für eine überlebensfähige Lebens- und Wirtschaftsweise.« [87]
Mit der beim Weltgipfel für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 verabschiedeten Agenda 21 kam über die ökologische Dimension des Nachhaltigkeitsverständnisses hinaus auch dessen fundamentale soziale Dimension in den Blick: Die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Überwindung der weltweiten Armut sind dort als die beiden zentralen Herausforderungen der Menschheit benannt, auf die das neue Leitbild einer »nachhaltigen Entwicklung« eine Antwort geben soll. Mehr denn je wird heute erkennbar, wie sehr ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander verschränkt sind. In dem Maße, in dem sichtbar wird, dass eine Universalisierung des Lebens- und Wirtschaftsstils, den die Wohlhabenden der Welt führen, nicht möglich ist, erweist sich die Diskrepanz zwischen ökologischer Zukunftsfähigkeit und ökonomischem Wachstumsimperativ als Gerechtigkeitsfrage. Nachhaltige Entwicklung zielt nach heutigem Verständnis darauf, so zu leben, zu arbeiten und zu wirtschaften, dass alle Menschen ein erfülltes Leben, frei von Not, führen können, ohne dabei die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören oder die Rechte zukünftiger Generationen zu beschneiden.
Erstmals in der Erdgeschichte werden die Veränderungen der natürlichen Umwelt, in und von der wir leben, heute in erster Linie durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen. Der Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur geht damit auch mit der technologischen Macht, die Umweltbedingungen tatsächlich verändern und gestalten zu können, einher. Angesichts fortschreitender Ressourcendegradation und Umweltzerstörung wird aber auch sichtbar, dass die Menschheit ihrer Verantwortung bislang nicht gerecht geworden ist, sondern derzeit auf dem Wege ist, den Planeten Erde in vielen Regionen zu einem lebensfeindlichen Ort zu machen.
Das Prinzip der Nachhaltigkeit, das auf die Erhaltung zuträglicher Lebensbedingungen für jetzige wie zukünftige Generationen zielt, verlangt eine grundlegende Neuorientierung wirtschaftlichen Handelns. Es geht dabei nicht mehr darum, einen Ausgleich zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Interessen und Anliegen zu finden - vielmehr ist längst deutlich geworden, dass wirtschaftliches Handeln Grenzen respektieren muss, nämlich ökologische und soziale (menschenrechtliche) Leitplanken, die nicht überschritten werden können. Eine Wirtschaft, die dem Leben dient, kann sich unter diesem Prinzip nicht allein an kurzfristigen Renditeerwartungen orientieren.
Das verlangt auch eine Neuorientierung der Agrarwirtschaft und schließt eine umfassende Wende hin zu einer nachhaltigen Landbewirtschaftung ein [88]. Dabei geht es freilich um viel mehr als nur um produktionstechnische Fragen. Die Landwirtschaft erfüllt vielfältige Funktionen für die Gesellschaft, die weit über die Bereitstellung von Agrarerzeugnissen hinausgehen. Der Landwirtschafts- und Ernährungssektor ist kein Wirtschaftszweig wie jeder andere. Der Zugang zu ausreichenden und qualitativ hochwertigen Lebensmitteln ist eine unabdingbare Voraussetzung für jede menschliche Entwicklung. Die politischen Rahmensetzungen für die zukünftige Entwicklung des Landwirtschafts- und Lebensmittelsektors können deshalb nicht nach rein ökonomischen und marktwirtschaftlichen Kriterien erfolgen, sondern müssen Leitwerte wie Gemeinwohlorientierung, entwicklungspolitische Kohärenz, den Erhalt der natürlichen Ressourcen und den Schutz der Gemeingüter beinhalten. Agrarpolitik muss der Multifunktionalität der Landwirtschaft und der ländlichen Räume Rechnung tragen. Dies haben der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz bereits in ihrem gemeinsamen Diskussionsbeitrag »Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft« im Jahr 2003 bekräftigt [89]. Mit dem Leitbild einer multifunktionalen und nachhaltigen Landwirtschaft wird auch zum Ausdruck gebracht, dass die Gesellschaft die vielfältigen Leistungen, die die Landwirtschaft und die ländlichen Räume für die Gesamtgesellschaft erbringen, anerkennen und honorieren muss. Auch dem Bericht des Weltagrarrates IAASTD liegt ein Verständnis einer elementaren Multifunktionalität der Landwirtschaft zugrunde, das in den Blick nimmt, dass die Landwirtschaft nicht nur »handelbare Massenerzeugnisse«, sondern zugleich »Umweltleistungen, einzigartige Landschaften und kulturelle Schätze« [90] erzeugt. Das impliziert auch, dass die Landwirtschaft auch Leistungen erbringt, »für die Märkte entweder schlecht funktionieren oder gar nicht existieren« [91].
Agrarpolitik muss der Vielfalt der gesellschaftlichen und ökologischen Funktionen der Landwirtschaft gerecht werden. Sie muss dafür Sorge tragen, dass ihre gesamtgesellschaftlichen Leistungen und die Beiträge zum Schutz oder zur Bereitstellung von Gemeingütern auch in Zukunft in ausreichendem Maße erbracht werden können. Ein Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik tut not: von der bisher dominanten Weltmarkt- und Wettbewerbsorientierung der Agrarwirtschaft hin zum Leitbild einer multifunktionalen nachhaltigen Landwirtschaft, die gesunde Lebensmittel produziert, Arbeitsplätze und Einkommen schafft, eine zukunftsfähige Entwicklung der ländlichen Räume ermöglicht, die Mitgeschöpfe achtet, die natürlichen Ressourcen schont, zur Landschaftspflege und zum Klimaschutz beiträgt sowie in ihren Außenwirkungen die Ziele der weltweiten Ernährungssicherung und der Überwindung der Armut berücksichtigt [92].