Wo Glauben wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen
Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2004. ISBN 3-579-02379-9
6. In Vielfalt leben: Evangelische Erziehung und Bildung in einem interkulturellen Kontext
These: Evangelische Kirchengemeinden und ihre Kindertagesstätten leben inmitten kultureller und religiöser Vielfalt. In dieser Situation möchten sie ihr evangelisches Profil zum Ausdruck bringen. Es gehört zum Selbstverständnis evangelischer Kirchengemeinden und ihrer Kindertagesstätten, in Verbundenheit mit Menschen anderer Herkunft christliches Profil zu zeigen und Gastfreundschaft zu üben. Daraus ergibt sich, dass Kinder anderer Religionen in evangelischen Kindertagesstätten aufgenommen werden können. Die evangelische Kindertagesstätte ist ein Ort, an dem achtungsvolles Miteinander gelebt wird und christliche Erziehung und Bildung in einem interkulturellen Kontext einen hohen Stellenwert haben. Sprachförderung ist eine der grundlegenden Bildungsaufgaben in evangelischen Kindertagesstätten. Dabei sind insbesondere die Benachteiligten, wie beispielsweise Kinder aus Migrantenfamilien, im Blick.
Begründung und Erläuterungen
Die oben (in Abschnitt 3) entfalteten Überlegungen zur Bedeutung der religionspädagogischen Arbeit in evangelischen Kindertagesstätten werden im Folgenden vorausgesetzt. Sie sollen hier an einem wesentlichen Aspekt der Arbeit in Kindertagesstätten fortgeführt und konkretisiert werden, nämlich an dem der Begegnung zwischen unterschiedlichen Religionen und Kulturen, die sich in der alltäglichen Praxis vieler [9] Einrichtungen immer wieder ereignet. Ein evangelisches Bildungsverständnis schließt den Respekt vor anderen Religionen ein. Das Evangelischsein bietet Beheimatung in der eigenen Glaubenstradition und eröffnet gerade so einen angemessenen Umgang mit dem »Anderen« in seinem Anderssein [10].
Wenn Religionen einander begegnen, lernen Menschen einander in ihrer Unterschiedlichkeit kennen. Solche Begegnungen können bei einzelnen Menschen sehr unterschiedliche und ambivalente Gefühle und Befindlichkeiten auslösen. Die Vielfalt der religiösen Traditionen kann Angst vor dem Verlust der eigenen Mitte zur Folge haben oder die Sorge, dass angesichts der religiösen Möglichkeiten eine Beliebigkeit in den Vordergrund tritt. Es gibt in der Bevölkerung auch eine verbreitete Furcht vor religiöser Überfremdung, die seitens der Kirche ernst genommen werden muss. Und Kindertagesstätten in evangelischer Trägerschaft, die überwiegend von muslimischen Kindern besucht werden, wie dies in den Innenstädten einiger Großstädte der Fall ist, sind nicht nur eine besondere pädagogische Herausforderung, sondern stellen darüber hinaus auch vor grundsätzliche Probleme.
Die Vielfalt der religiösen Traditionen kann aber auch deutlicher die Frage nach der Beheimatung in der eigenen Religion wecken und zugleich in der Begegnung mit anderen Religionen die eigene Offenheit erproben lassen. Gegenseitige Einladungen werden gestaltet durch Besuche der Gottesdiensträume und Zentren des religiösen Lebens sowie durch Achtung und Beachtung der Feste der Religionen. Ziel ist es, die eigenen religiösen Wurzeln zu entwickeln und zu pflegen und gleichzeitig Differenzen wahrzunehmen und zu bejahen. Dabei ist eine hohe Sensibilität für den Einzelfall nötig. Die Begegnung der Religionen lebt vom Verständnis des anderen; Verstehen ist eine Reise in das Land eines anderen.
Für evangelische Kindertagestätten können Kinder, die in ihrem Leben prägende Erfahrungen mit Migration gemacht haben, eine Herausforderung, aber zugleich auch eine Bereicherung sein. Oft ist die Sicht durch Defizitzuschreibungen bestimmt; solche Kinder werden häufig als benachteiligt, belastet und förderungsbedürftig wahrgenommen. Dem sollte der Blick auf die von ihnen erworbenen Fähigkeiten im Umgang mit kulturellen Herausforderungen gegenübergestellt werden. Denn diese Kinder haben gelernt, sich in den unterschiedlichen kulturellen Räumen zu bewegen. Sie sind vielfach zu geschickten Wanderern zwischen den kulturellen Welten geworden. Sie können Verhaltensmuster und ethische Standards den für sie wichtigen Gruppen und Personen zuordnen. Unter diesem Gesichtspunkt sind sie nicht als Belastung der Kindergruppe, sondern als Impulsgeber für interkulturelle Kompetenz anzusehen.
Evangelische Erziehung und Bildung bedarf begleitender Familienarbeit. Für die Begegnung mit den Familien im interkulturellen Kontext benötigen die Erzieherinnen und Erzieher ein hohes Maß an Offenheit, Kenntnissen und Handlungskompetenzen, besonders auch in solchen Situationen, die nicht unbedingt mit den eigenen Werten und Verhaltensmustern übereinstimmen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, auf andere zu hören, sich auf ihre kulturellen und religiösen Hintergründe einzulassen und auf vorschnelle Bewertungen zu verzichten.
Wer in einer Sprache sicher zu Hause ist oder sogar mehrere Sprachen versteht, dem ist die Welt in spezifischer Weise erschlossen. Vor diesem Hintergrund ist die Förderung der Sprachentwicklung eine der grundlegenden Bildungsaufgaben von Tageseinrichtungen. Durch sie werden die Bildungschancen von Kindern auch aus Migrantenfamilien verbessert. Dabei wird Sprachförderung nicht als isoliertes Training verstanden, sondern im Vordergrund steht die Lust am Kommunizieren sowie der kommunikative Erfolg der Kinder; sie erleben Verstehen und Verstandenwerden. Für Kinder, die Lebenserfahrungen mit Migration gemacht haben, ist der Besuch einer Kindertageseinrichtung eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Laufbahn im deutschen Schulsystem. Die im April 2003 veröffentlichte IGLU-Studie hat im Übrigen belegt, dass auch die Leseleistungen von Kindern mit der Dauer der Kindergartenzeit ansteigen. Die Ergebnisse von IGLU bestärken somit die Wichtigkeit des Besuchs einer vorschulischen Einrichtung.
Kulturelle und religiöse Vielfalt stehen nicht im Widerspruch zum evangelischen Profil der Einrichtung. Unter angemessenen Voraussetzungen muss niemand befürchten, dass die Vielfalt das eigene Profil verblassen lässt. Es muss den Eltern aber von vornherein klar sein, dass sie ihre Kinder in eine Einrichtung mit evangelischem Profil schicken. Es empfiehlt sich, dies möglichst explizit in der Konzeption der jeweiligen Einrichtung zum Ausdruck zu bringen und auf Informations- und Elternabenden darauf hinzuweisen.
Grundsätzlich muss gelten: Die evangelische Kindertagesstätte bietet Raum für Kinder und Eltern aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Sie werden ganz bewusst eingeladen und nicht nur widerwillig, befristet oder kontingentiert geduldet. Vielmehr erwartet man, dass sie den eigenen Horizont bereichern und erweitern können.
Konsequenzen:
- Evangelische Kirchengemeinden und Kindertagesstätten nehmen die kulturelle und religiöse Vielfalt als lebendigen Bestandteil ihrer Arbeit wahr.
- Die Kindertagesstätte bietet Raum für Kinder und Eltern aus verschiedenen Kulturen und Religionen und ist damit ein Ort gelebter Vielfalt.
- Kirchengemeinden und Kindertagesstätten werden bei der konzeptionellen Entwicklung von evangelischer Erziehung und Bildung in einem interkulturellen und interreligiösen Horizont durch ihre Landeskirchen und die Diakonischen Werke ihrer Kirchen ermutigt und unterstützt.
- Das evangelische Profil der Einrichtungen wird vor dem Hintergrund der religiös-kulturellen Vielfalt gestärkt und möglichst deutlich zur Geltung gebracht.