„... denn ihr seid selbst Fremde gewesen“ - Vielfalt anerkennen und gestalten
Ein Beitrag der Kommission für Migration und Integration der EKD zur einwanderungspolitischen Debatte, EKD-Texte 108, 2009
V. Ausblick
Mit dem ihr eigenen nüchternen Realitätssinn versteht die Bibel Mobilität und Migration als Grundgegebenheiten in der Geschichte der Menschheit und im menschlichen Zusammenleben. Diese Nüchternheit macht sie aber keineswegs gleichgültig gegenüber dem Schicksal von Menschen, die unterwegs sind und in der Fremde ein neues Zuhause suchen. Im Gegenteil: Das Schutzgebot für Fremde und Flüchtlinge zählt in der Bibel zu den wichtigsten. Das hat seinen Grund in der Gotteserfahrung Israels, wie sie verdichtet im 1. Gebot zur Sprache kommt: "Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir." (Ex 20,2) Auf dem Hintergrund der Erfahrung des Auszugs aus Ägypten mahnt das Alte Testament den Schutz der Rechte der Schwachen an: "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägypten gewesen seid" (Ex 23,9).
"In der Sozialkritik der Propheten zeigt sich die enge Verbindung von sozialer Frage und Gottesfrage. Alle Versuche, den Kult von dem Eintreten für die Armen loszulösen, sind scharfer Kritik ausgesetzt: ‚Das aber ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: ... Brich mit dem Hungrigen dein Brot und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! (...) Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen' (Jes 58,6-8). Im Neuen Testament wird das Auftreten Jesu als Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung an die Armen gedeutet (Lk 4,18-21). Im Gleichnis vom Weltgericht werden die Hungrigen, die Durstigen, die Fremden, die Nackten und die Kranken unmittelbar mit Christus selber identifiziert (Mt 25,31-46)." [122]
Dieser biblische Zusammenhang schärft den Blick für aufscheinende Gefahren, die unterschiedliche Menschengruppen heute und künftig von der Teilhabe an wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen ausschließen, ja, sie ihrer Existenzgrundlage berauben können.
So wirken sich die Folgen des Klimawandels besonders negativ auf arme Länder aus, obwohl diese zu seiner Verursachung am wenigsten beigetragen haben.
In seiner Denkschrift "Umkehr zum Leben" beschreibt der Rat der EKD die möglichen Folgen des Klimawandels für künftige Migrations- und Fluchtbewegungen: "Bereits im Jahr 1990 hat das IPCC (International Panel on Climate Change) darauf hingewiesen, dass die Auswirkungen des Klimawandels ein Hauptbestimmungsfaktor für menschliche Wanderungsbewegungen sein können mit der Folge von Millionen Menschen auf der Flucht vor Überflutungen in küstennahen Gebieten, großen Flussdeltas, Erosion der Uferbegrenzungen und klimawandelbedingter massiver Beeinträchtigung landwirtschaftlicher Produktion. Der Umfang derartiger klimabedingter Migrationsströme wird weltweit, aber insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum über die Jahre ansteigen, mit unvorhersehbaren Auswirkungen für Menschenleben und deren Versorgungsbasis." [123] Daraus folgt für den Rat: "Es muss eine gemeinsame Antwort von Regierungen, internationalen Organisationen, der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor gefunden werden." Durch den Klimawandel bedingte Migrationsströme werden nicht vor nationalen Grenzen Halt machen. Proaktive Politiken auf nationaler und subnationaler Ebene müssen durch internationale und regionale kollektive Aktionen, einschließlich der Verabschiedung entsprechender international vereinbarter Regelwerke, begleitet werden. Nur so kann den Herausforderungen des Klimawandels, die durch grenzüberschreitende Migration entstehen, begegnet werden." [124]
Zudem wird der derzeit hohe Kapitalbedarf der entwickelten Industrieländer dazu führen, dass den Schwellen- und Entwicklungsländern die Kapitalbeschaffung erheblich erschwert wird." [125]
Es geht um den Zusammenhalt der Gesellschaft. Der Grad der Inklusion bemisst sich für alle Glieder der Gesellschaft am jeweiligen Ausmaß der Teilhabe an den für die Lebensführung bedeutsamen gesellschaftlichen Bereichen, also am Zugang zu Bildung, Arbeit, Wohnung, Gesundheit, Freizeit, Recht, Politik und Medien. Diese Teilhabe ist für eine zunehmende Zahl von Mitgliedern der Gesellschaft, die bisher als integriert galten, nicht mehr selbstverständlich, wie zum Beispiel die jüngste Diskussion über das abgehängte Prekariat zeigt. Obwohl die Situation von Migrantinnen und Migranten besondere Herausforderungen in sich birgt, kann Integrationspolitik nicht auf eine Sonderanstrengung für diese Personengruppe reduziert werden, sondern ist als Querschnittsaufgabe der Gesellschaftspolitik zu begreifen. Um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern, muss der soziale Ausschluss der vom Abstieg Bedrohten verhindert werden. Ihre Teilhabemöglichkeiten müssen gewährleistet werden.
Zugleich schärft der - oben aufgezeigte - biblische Zusammenhang den Blick für die "Chancen und Vorzüge" [126] einer vielgestaltigen Gesellschaft. Christinnen und Christen können Vielfalt und Pluralismus aus vollem Herzen bejahen.
"Europa wird das pluralistische Europa bleiben, zu dem es sich in den vergangenen Jahrhunderten entwickelt hat. Christen brauchen diese Entwicklung nicht als eine Tatsache anzusehen, die leider irreversibel und allein deswegen hinzunehmen sei. Sie können sie vielmehr bejahen. Denn Pluralismus steht nicht im Gegensatz zur christlichen Sicht der Welt, sondern muss geradezu als ein Ausdruck des schöpferischen Wirkens des Geistes Gottes verstanden werden. Pluralismus befreit: Er sprengt die geschlossene Welt auf, in der Menschen festgelegt sind auf eine einzige oder jedenfalls eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten des Denkens und Handelns. Pluralismus bereichert: Er deckt die Vielfalt menschlicher Chancen und Entwicklungswege auf. Und Pluralismus schafft Voraussetzungen, unter denen die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche wieder eine wirkliche Entscheidung des Glaubens ist: Solange Menschen in einer kulturell einheitlich geprägten Welt leben und in ihr Mitglieder der christlichen Kirche und Anhänger des christlichen Glaubens sind, handelt es sich gar nicht notwendig um eine Entscheidung des Glaubens. Das Christentum ist in den ersten Jahrzehnten und Jahrhunderten in einer pluralistischen Umgebung entstanden und gewachsen. Antiochien, Korinth, Athen oder Rom waren Orte lebhaftester Konkurrenz der Lebensstile und Weltanschauungen. Darum brauchen sich Christen vor einer pluralistischen Situation keineswegs zu fürchten. Es kommt darauf an, ihre Vorzüge und Chancen zu nutzen." [127]
Die Pfingsterzählung in Apostelgeschichte 2 zeigt, wie Einheit in Vielfalt möglich wird. Gottes Geist wirkt hinein in die Erfahrung der wechselseitigen Fremdheit und Unfähigkeit zur Verständigung, nicht nur zwischen Frauen und Männern, Knechten und Mägden, Alten und Jungen, sondern zwischen einander zuvor ganz Unverbundenen. So könnte die zu Pfingsten entstehende christliche Gemeinde zu einem Zeichen der künftigen Einheit der Menschheit werden. Die einander nicht verstehen - Parther, Meder, Elamiter, Juden, Römer, Kreter, Araber und viele mehr - erfassen zu Pfingsten, was gesagt wird, jede und jeder in der eigenen Muttersprache. Inmitten der Fremdheit bleibt ihre Vertrautheit mit sich selbst erhalten. Ohne Auflösung der Vielfalt und Komplexität ihrer Herkunft, ohne Beseitigung ihrer Äußerungs- und Verstehensformen entstehen Einheit und Gemeinschaft zwischen einander gänzlich Fremden. Dabei wird die Muttersprache nicht verleugnet, die Zugehörigkeit zu einer eigenen Kultur und einer ganz persönlichen Geschichte wird nicht aufgehoben. Alle erfahren zu Pfingsten eine Kraft, die Menschen verschiedener Herkunft, Bildung, Interessenlagen und Erwartungen verbindet und einander verstehen lässt.
Sie machen eine Gemeinschaftserfahrung, die nicht von den Menschen selbst ausgeht und doch solche Menschen sammelt, zwischen denen eine ungehinderte Kommunikation zuvor nicht erwartbar war.
Die "Ökumene Gottes" [128] - wie der frühere Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, sie versteht - reicht weit über das Verhältnis der Kirchen hinaus. Sie übersteigt sogar das Miteinander der Weltreligionen. Die "Ökumene Gottes" eröffnet die Perspektive der durch Gottes Handeln verwandelten Welt. Im Pfingstereignis gewinnt die Vision der von Gott verwandelten Welt konkrete Gestalt. In der Gemeinschaft aller Getauften sind Vereinzelungs- und Isolationserfahrungen bereits aufgehoben. Die Taufe schenkt Anteil am neuen Leben in der Zukunft Gottes und seiner verwandelten Welt.
Ihr angemessen ist eine "Lebensform der Offenheit, die Andere in ihrer Verschiedenheit annimmt, die bereit ist, eigene Interessen zurück zu stellen. Sie gründet in der Einsicht, dass alles Leben eingebunden ist in die Beziehungen zu anderem Leben und findet Ausdruck in der Praxis von Kooperation und Gegenseitigkeit gegenüber einer Kultur, die auf Eigennutz und Wettbewerb ausgerichtet ist." [129] In dieser Perspektive haben wir als Evangelische Kirche in Deutschland guten Grund, die wachsende Vielfalt in unserer Gesellschaft in Verantwortung vor Gott mitzugestalten.