Die letzte Glocke hat noch lange nicht geschlagen
Zwischen Himmel und Erde: der Klang der Glocken im "Europäischen Jahr des Kulturerbes"
Ein mystisch anmutendes Gussverfahren mit Kupfer, Holz und Lehm, Pendelgesetze und Klangfülle: „Glocken sind mit das Atemberaubendste, was es gibt“, findet Walter Schäfer aus Tübingen. Der 79-jährige ehemalige Architekt begann vor mehr als 30 Jahren, eine Liste der imposantesten Glocken Deutschlands zu erstellen. Es gab zwar schon vorher Bemühungen, die geschätzt 100.000 Glocken zu kategorisieren, aber vieles verlief im Sand: „Das Desinteresse an Glocken ist bedauerlich groß.“
Nur wenige wissen über das Geläut von Kirchenglocken und die täglichen Rufe zum Gebet Bescheid, wie Jakob Johannes Koch sagt, Kulturreferent der katholischen Deutschen Bischofskonferenz: „Auch heute noch ertönt mancherorts das dreimalige Glockengeläut, aber den meisten Menschen sagt es nichts mehr.“ Dabei seien Glocken Kulturerbe.
Hilfreiche Unterbrechung des Alltags
Um an ihre religiöse und kulturelle Bedeutung zu erinnern, haben die Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) für das „Europäische Jahr des Kulturerbes“ 2018 nun die Kampagne „Hörst du nicht die Glocken?“ gestartet. Auftakt war der Guss einer Ökumene-Glocke im Dezember in Karlsruhe.
Glocken seien eine hilfreiche Unterbrechung des Alltags, sagt der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Baden, Jochen Cornelius-Bundschuh: „Der Klang der Glocken erinnert daran, dass Gott den Menschen frei macht zu beten und danach zu fragen, was wirklich zählt.“
Die ersten Klangkörper entstanden vor 5.000 Jahren in Asien. Im mittelalterlichen Europa prägten sie den Alltag: Der Glockenklang verkündete die Tageszeit und rief zum Gebet. Zahlreiche Glocken hatten eine eigene Bedeutung: Die eine verkündete Hochzeiten, eine andere erklang bei Feuer und wieder eine andere wurde bei Todesfällen geläutet. Kirchenglocken zeigen durch ihr Läuten die Uhrzeit an, laden zum Gottesdienst, erinnern am Karfreitag an die Todesstunde Jesu oder läuten am 31. Dezember um Mitternacht das neue Jahr ein.
Heute gibt es aber auch viele Kirchenglocken, die nur noch einmal am Tag erschallen. „Teils hängt das mit Sanierungen zusammen, viele Gemeinden läuten ihre Glocken aber aus einem vorauseilenden Lärmschutz seltener“, erklärt Hans Schnieders vom „Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen“. Immer wieder flammten Streitereien rund um Religionsfreiheit und Lärmschutz auf.
In Deutschland urteilen Gerichte in der Regel für den Himmelsklang
Ein Glockengeläut-Streit einer niederländischen Stadt wurde 2012 sogar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt: Ein Priester hatte Beschwerde eingelegt, weil ihn die Stadt unter Androhung einer Geldstrafe von 50.000 Euro verpflichtet hatte, das Glockengeläut nachts einzuschränken. Er wertete dies als einen Eingriff in sein Recht auf Religionsausübung. Der Gerichtshof gab allerdings der Stadt Recht, da in einer Demokratie die Rechte aller berücksichtigt werden müssten.
In Deutschland urteilen die Gerichte in der Regel für den Himmelsklang. „Sie werten Glockengeläut als Kulturgut, so lange es liturgisch begründet und sinnvoll ist“, sagt Martin Kares von der Evangelischen Landeskirche in Baden.
Für die Glockenkampagne haben die Kirchen einen Leitfaden zum Läuten für die Gemeinden herausgegeben: Er regt dazu an, die eigenen Läute-Anlässe auf den Prüfstand zu stellen. So würden viele Glocken aus der Tradition heraus um 11 Uhr läuten, obwohl „es nicht mehr der Lebenswirklichkeit entspricht, den Bauern vom Feld zu rufen“, heißt es darin.
Digitale Glockenkarte geplant
Geplant ist außerdem eine digitale Glockenkarte: Jugendgruppen nehmen Glocken in Bild und Ton auf und veröffentlichen dies auf einer Webseite. Bislang gab es derartige Aktionen vor allem auf regionaler Ebene. So rief das Erzbistum Freiburg 2012 die Homepage „Glockeninspektion“ ins Leben, auf der sie von rund 1.000 Glocken Fotos, Videos und Klänge veröffentlicht hat.
Johannes Wittekind von der Erzbischöflichen Glockeninspektion berichtet, dass es im Sommer viele Zugriffe aus Ferienländern auf ihre Homepage gäbe. „Es sieht so aus, als hätten die Leute im Urlaub Sehnsucht nach ihren heimischen Glocken und hörten sich daher die Tonaufnahmen an.“
Erahnen lässt sich die Verbundenheit vieler Menschen zu Glocken auch auf Youtube. Wer „Glockengeläut“ eingibt, findet unzählige Videos von Glockenstühlen. Das „Kölner Dom Vollgeläut“, hochgeladen 2012, ist inzwischen fast eine Million Mal abgerufen worden. Darunter stehen Kommentare wie „eindrucksvoll“ und „majestätisch“.
Stetig werden neue Glocken gegossen
Der Tübinger Glocken-Fan Walter Schäfer hat inzwischen die 400 größten Glocken Deutschlands auf seiner Homepage veröffentlicht. Angeführt wird die Liste von der rund 24 Tonnen schweren St. Petersglocke im Kölner Dom, dem „dicken Pitter“. Mit fast 15 Tonnen folgt eine Rathausglocke in Bochum, auf dem dritten Platz liegt die Glocke der Stiftskirche in Neustadt an der Weinstraße mit 14 Tonnen.
Doch Schäfers Arbeit hört nicht auf. Regelmäßig steht er mit Glocken-Gießereien in Kontakt, denn es werden stetig neue Klangkörper gegossen. Die letzte Glocke hat noch lange nicht geschlagen.
Leonie Mielke (epd)