Predigt im Festgottesdienst am Gedenktag „500 Jahre Reformation“, 31. Oktober 2017, 10 Uhr, Stadtkirche Wittenberg
Landesbischöfin Ilse Junkermann und Bischof Dr. Gerhard Feige
Landesbischöfin Junkermann:
Liebe Festgemeinde!
Nun ist er da, der Höhepunkt und Abschluss dieses besonderen Jahres ‚500 Jahre Reformation’. In einem weiten Bogen von zehn Jahren haben wir uns vorbereitet.
Von diesen Jahren ist mir ein Abend besonders lebendig vor Augen. Er berührt mich bis heute. Es war im November vor zwei Jahren. Da sind wir hier in der Stadtkirche mit einem Korb voller Scherben angekommen. Scherben, die wir bei den Stationen unseres ‚Pilgerwegs für Versöhnung‘ in den Korb getan haben. So haben wir uns unsere Schuld vor Augen geführt. Die Kehrseite der Reformationsgeschichte: Ja, einen Scherbenhaufen haben wir angerichtet in unserem Miteinander. Wir haben einander verletzt. Mit Bildern, die den anderen entwürdigen; mit Worten, die ihn verächtlich machen; und mit Taten, mit Diskriminierung und Verfolgung. Damit haben wir auch unsere Botschaft beschädigt. Das wog und das wiegt schwer. Wie gut, dass wir die Scherben hier an unserer letzten Station unter dem Kreuz ablegen konnten.
Da habe ich eine große Erleichterung gespürt: Gemeinsam kommen wir mit diesen Scherben zu Christus. Er entlastet uns. Er macht uns frei. Er macht unsere Hände frei zum Friedensgruß. An jenem Abend habe ich die Kraft der Versöhnung handfest gespürt, die Versöhnung, die von Christi Kreuz ausgeht. Dieser Abend berührt mich bis heute.
Wie gut, dass Sie, lieber Bruder Dr. Feige, uns auf diesen Weg gebracht haben. Sie hatten nach Beginn der Lutherdekade – so hieß sie damals noch – Sie hatten in der Vorbereitung auf 500 Jahre Reformation geschwisterlich-kritisch gefragt: Ist das wirklich ein Anlass zum Feiern? Gehört nicht ebenso ein Gedenken hinzu? Diese Frage hat uns auf diesen Pilgerweg der Umkehr und Versöhnung geführt.
Wie gut, liebe Gemeinde, dass solche Umkehr möglich ist. Ja, Martin Luther hat mit seiner 1. These recht, die hier auf der Kanzelseite steht: „1. Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Und auch die 62. These hat an jenem Novemberabend besonders geleuchtet. Sie unterstreicht hier vorne gegenüber der 1. These: Der wahre Schatz der Kirche ist nicht ihre Bedeutung, sind nicht ihre Leistungen, ihre Tradition und Vergangenheit, vielmehr: „Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Diese Herrlichkeit und Gnade hat an jenem Abend hell geleuchtet!
Bischof Dr. Feige:
Ein ähnliches Leuchten habe ich im März dieses Jahres beim zentralen Ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdienst für Deutschland in Hildesheim erlebt. Hierbei kam sichtbar und fühlbar zum Ausdruck, dass wir in der Aufarbeitung unserer Geschichte, der Reinigung des Gedächtnis und der Heilung der Erinnerungen ein entscheidendes Stück vorangekommen sind, ja einen wirklichen Durchbruch erzielt haben. Für mich war es ein besonders berührender Moment, als wir katholische und evangelische Christen Gott für unsere jeweiligen Gaben gedankt haben. Stellvertretend für die katholische Seite sagte damals Kardinal Marx: „Liebe evangelische Glaubensgeschwister: Wir danken Gott, dass es Sie gibt und dass Sie den Namen Jesu Christi tragen.“
Wenn man bedenkt, wie katholische und evangelische Mehrheiten jahrhundertelang mit den jeweils anderen Minderheiten umgegangen sind, wie tief so manche Traumata und Verhärtungen immer noch sitzen können, dann ist es ein unglaubliches Zeichen, sich so etwas sagen zu können.
Eindrücklich hat sich das auch bei der von unserem Bistum und von den zwei evangelischen Landeskirchen in Mitteldeutschland gemeinsam angeregten ökumenischen Pilgerfahrt „Mit Luther zum Papst“ gezeigt, an der etwa 1000 überwiegend junge evangelische und katholische Gläubige teilgenommen haben. Dabei ist es in Rom auch zu einer persönlichen Begegnung mit Papst Franziskus gekommen. Als ich ihn einige Tage später dann – genau heute vor einem Jahr – bei dem großen Versöhnungsgottesdienst zwischen Lutherischem Weltbund und katholischer Kirche in Lund noch einmal traf, fiel mir nichts Besseres ein, als ihn daran zu erinnern. Bei den Worten „Mit Luther zum Papst“ strahlte sein Gesicht förmlich auf.
Ja, ich bin davon überzeugt: Nach schmerzhaften Auseinandersetzungen und hoffnungsvollen Versöhnungsbemühungen wissen wir inzwischen, „was wir einander angetan haben und was wir aneinander haben“. Jetzt bekommt uns niemand mehr auseinander. Gottes Segen ist mit uns.
Landesbischöfin Junkermann:
Das hat mich ermutigt Sie zu bitten, dass wir heute hier im Gottesdienst gemeinsam predigen. Im Gottesdienst an ‚unserem’ großen evangelischen Festtag? Ihre Zusage ist ein wundervolles Zeichen dafür, wie das Vertrauen zwischen uns und unseren Kirchen gewachsen ist. Das macht mich sehr dankbar. Und das öffnet den Blick: Unsere Verschiedenheit hat nicht nur schmerzvolle Seiten. Unsere unterschiedlichen Traditionen bereichern auch.
Bischof Dr. Feige:
Inzwischen zeigt sich das auch bei mancher gemeinsamen Predigt. Für den heutigen Gedenktag der Reformation ist dazu nach evangelischer Ordnung ein Text aus dem Evangelium nach Matthäus, im 10. Kapitel, vorgeschlagen. Hören wir seine Worte.
Lektor: (Mt 10, 26-33; Luther 2017):
(26) fürchtet euch nicht vor ihnen. Denn es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. (27) Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündigt auf den Dächern. (28) Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet viel mehr den, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. (29) Verkauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. (30) Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Haupt alle gezählt. (31) Darum fürchtet euch nicht; ihr seid kostbarer als viele Sperlinge. (32) Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel. (33) Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem Vater im Himmel.
Landesbischöfin Junkermann:
Drei Mal „Fürchtet euch nicht!“. Das bleibt sofort in meinem Ohr! Welchen Grund zum Fürchten gibt es? Die Jünger werden, so kündigt ihnen Jesus an, auf Widerstand bis hin zu Verfolgung stoßen. Er sendet sie hinaus in die Welt: „Geht und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“1 Und das bringt in Gefahr. „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe.“2 Deshalb gleich drei Mal: „Fürchtet euch nicht!“ Aber nun beruhigt er sie nicht, erst mal nicht. Vielmehr sagt er nüchtern und klar: Nachfolge Jesu kann hart sein. Sie kann sogar das Leben kosten. Christ-Sein heißt nicht, alles geht gut oder gut aus. Ja, das ist zum Fürchten.
Doch damit nicht genug. Jesus spitzt weiter zu: Größere Furcht gebührt dem, der Leib und Seele, der den ganzen Menschen verderben kann. Das ist ein harter Satz. Erst so, so auf die Spitze getrieben, kommt die Wende: Wer Gott so fürchtet, der kann gar nicht anders als ihm, ihm allein zu vertrauen. Vertrauen in den, bei dem Anfang und Ende liegt; der so machtvoll agiert, dass er einen tief stürzen kann. Weil er das kann und weil er so machtvoll herrscht, verlassen wir uns auf ihn.
Bischof Dr. Feige:
Wir dürfen Gottes ganz persönlicher Sorge vertrauen. Wenn ihm schon die Sperlinge der Aufmerksamkeit wert scheinen, um wie viel mehr erst wir Menschen. Jedes einzelne Haar auf unserem Haupt ist gezählt, sagt Jesus. Wie kostbar ist demnach jeder und jede von uns für Gott, mit welch ungeheurer Zuneigung liebt er uns! Gott mehr zu fürchten als die Menschen – recht verstanden: sich eher seiner Schöpfermacht und Liebe anzuvertrauen als sich menschlicher Willkür und Ohnmacht auszuliefern –, das erniedrigt nicht, sondern befreit zu wahrem Leben. Eine solche Gottesfurcht überwindet die Menschenfurcht.
Landesbischöfin Junkermann:
Und das ist kein Selbstzweck. Bei allem geht es darum, laut und öffentlich Gottes Reich zu verkündigen. Darum geht es, wenn Jesus sagt: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das verkündet auf den Dächern.“
Er fordert unser Bekennen heute. Wir sind es, die er nun in die Welt sendet. Wir sind es, die furchtlos gehen sollen zu den Menschen und auf den Dächern furchtlos Gottes Willen verkündigen sollen!
Das lässt mich innehalten. Denn: In diesem Jubiläums- und Gedenkjahr haben wir als evangelische Kirche viel Ehre erfahren; und ein gutes Miteinander: ökumenisch, und mit vielen Menschen vor Ort aus Vereinen, Verbänden, Kultur und Politik haben wir unsere Kräfte zusammengelegt. Widerstand gab es da selten, jedenfalls nicht laut. Aufs Dach sind wir kaum jemandem gestiegen! Widerspruch, der dann das Fürchten lehren könnte, haben wir kaum ausgelöst. Ist das ein Warnhinweis, dass wir nicht klar genug auf Jesu Weg sind? Vielleicht besteht ja unsere Anfeindung als Gemeinde Jesu Christi im 21. Jahrhundert in Europa darin, dass heute kaum einer klare Jesusworte hören mag, zumindest keine, die an Gott erinnern und damit an die menschlichen Grenzen? Und vielleicht sind wir zu wenig draußen, und haben es lieber gemütlich unter uns, in unserer Gemeinde und Kirche? Dann steht für uns wie für die Jünger damals die Frage: Wem gilt es, aufs Dach zu steigen?
Bischof Dr. Feige:
Wenn wir in unsere Welt schauen, dann zeigt sich, wohin es führen kann, wenn Menschen die Furcht vor Gott verloren haben und selbst Gott spielen. Gerade in den Fragen um den Beginn und das Ende des Lebens spüren wir, dass es zunehmend schwerer wird, unsere christliche Überzeugung zu Gehör zu bringen.
Darüber hinaus glauben manche, vollkommen ihres eigenen Glückes Schmied zu sein oder sich wie Baron Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen zu können. Man müsse sich nur intensiv darum bemühen. Nicht selten führt das letztlich zu einer heillosen Überforderung. Es kann uns auch zu gnadenlosen Konkurrenten um „das beste Stück Kuchen“ werden lassen, zu unbarmherzigen Verteidigern unserer Besitzstände. Schon heute leiden deshalb Millionen von Menschen an Hunger und an Ungerechtigkeit, wird die Erde, Gottes gute Schöpfung, ausgebeutet, kommt es zu Krieg und Terrorismus, zu Flucht und Vertreibung.
Und das führt in unserer Gesellschaft wiederum dazu, dass die sozialen und mentalen Gegensätze wachsen und sich wieder neue Mauern in zahlreichen Köpfen entwickeln. Die aktuelle Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen macht auf erschreckende Weise deutlich, wie sehr ein respektvolles Miteinander und damit auch unsere demokratischen Grundlagen gefährdet sind.
Hierzu können wir als Christen unmöglich schweigen. Um der Menschen willen müssen wir Gottes Gnade und Barmherzigkeit ins Spiel bringen. Um der Menschen und um der ganzen Schöpfung willen müssen wir es laut von den Dächern rufen oder auch auf andere vernehmbare Weise kundtun: Habt keine Angst, zu kurz zu kommen! Löst euch von der zwanghaften Vorstellung, immer besser und immer erfolgreicher sein und immer mehr haben zu müssen. Das, wonach ihr euch eigentlich sehnt, könnt ihr euch ohnehin nicht selbst verschaffen. Ihr bekommt es gratis, und zwar von einem liebenden Gott, der auch dann zu euch steht, wenn ihr versagt oder schuldig werdet. Gott ist es, der uns Würde verleiht, wo andere sie missachten, der neue Horizonte eröffnet, wo alles ausweglos erscheint, der zum Handeln beflügelt, wo sonst Lähmung herrscht.
Das ist dann auch die Botschaft, die wir als Christen gemeinsam zu bezeugen haben: Nur wenn wir Menschen wirklich Gott Gott sein lassen, finden wir zu uns selbst und zueinander, können wir barmherzig sein, können wir Vielfalt zulassen, in Frieden und Gerechtigkeit zusammen leben und die Schöpfung bewahren.
Bischöfin Junkermann:
Dafür braucht uns Gott, davon auf den Plätzen und von den Dächern zu reden, was sein Wille ist. Dabei kennt er uns bis in die Haarspitzen. Gerade darum ruft er uns – manchmal so Ängstlichen, Zaghaften, Zaudernden – zu: Fürchtet euch nicht! Mischt euch mutig ein. Streitet. Streitet für eine gerechte Welt. Steigt denen aufs Dach, die politisch Verantwortung tragen. Lasst nicht zu, wenn sie Frieden und Gerechtigkeit auf die hinteren Plätze verweisen. Und steigt euch selbst aufs Dach, dann, wenn ihr zu furchtsam seid. Oder zu müde. Denn Gottes Reich ist nahe! Deshalb kämpft für das Miteinander. Übt Barmherzigkeit. Reicht euch die Hände, auch über nationale Grenzen hinweg. Sucht das Beste für eure jeweilige Stadt und den Erdkreis. Umkehr ist möglich.
Gut, wenn wir dies gemeinsam aus dem Jubiläum und Gedenken mitnehmen!
Bischof Dr. Feige:
Sonderbarerweise haben wir jetzt gar nicht über Martin Luther gesprochen!?
Landesbischöfin Junkermann:
Das hätte ihm bestimmt so gefallen. „Das Evangelium und was Ihr heute damit anfangt, ist wichtiger als ich!", würde er sagen.
Bischof Dr. Feige:
Solche Bescheidenheit ist gut. Aber wir können an diesem Menschen Martin Luther auch sehen, was es heißt, ganz auf Gott zu vertrauen und sich darum nicht vor den Menschen zu fürchten. Mit welcher tiefen Leidenschaft hat er doch sein Leben lang um Gott gerungen und allein auf Christus gesetzt. In der Tat war die grundlegende Erneuerung der Kirche aus ihrem biblischen Ursprung heraus sein entscheidendes Anliegen, nicht die Bedeutung seiner Person. Freilich, in seiner Unerschrockenheit hat er oftmals auch über die Stränge geschlagen und über Gebühr provoziert. Das hindert aber Katholiken inzwischen nicht mehr, ihn gemeinsam mit den Lutheranern als wirklichen „Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung“ zu bezeichnen. Darin fordert er uns auch heute noch enorm heraus.
Landesbischöfin Junkermann:
Und er ist ein Mensch, der in Gott die feste Burg gefunden hat.
Bischof Dr. Feige:
Bitten wir auch für uns um ein solches Gottvertrauen.
Beide:
Amen.
[Es gilt das gesprochene Wort]