Evangelische Verantwortungseliten
Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011
1. Annäherungen
1.1 Evangelische Eliten in guter Tradition
Wer die Thematik "Evangelische Eliten" erörtert, muss bedenken: Evangelische Eliten hat es immer gegeben.
Der christliche Glaube hat seit seinen Anfängen eine weltzugewandte Seite. Sie ist in der Reformation auf besondere Weise hervorgetreten. Die Konzentration auf den Kern des christlichen Glaubens in der Annahme des Menschen allein durch Gottes Gnade verbindet sich damit, dass der durch diese Gnade geweckte Glaube gute Werke im Alltag des Lebens hervorbringt. Von hier aus prägt der evangelische Glaube die Gestalt und das Leben in der Gesellschaft: nicht nur durch die kirchlichen Institutionen, sondern auch durch die Frömmigkeit und das Ethos der Gläubigen. Dabei treten immer wieder Einzelne in den Vordergrund, die den Glauben in ihrem Denken und Handeln in verantwortlichen und gestaltenden Positionen sichtbar werden lassen. So bilden sich gesellschaftliche Eliten, die von ihrer evangelischen Grundhaltung geprägt sind. Diese Grundhaltung kommt unter Umständen so schlicht zum Ausdruck wie in einer Hausinschrift aus reformierter Tradition: "Frage nicht, was Menschen sagen, tue einfach deine Pflicht. Gott wird nicht die Menschen fragen, wenn er dir dein Urteil spricht." Aus einer solchen Grundhaltung heraus spricht die Reformation allen Menschen unabhängig von ihrem Stand einen "Beruf" zur Nächstenliebe zu. Die Zugehörigkeit zu einer evangelischen Verantwortungselite ist nicht auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt; sie kann in ehrenamtlicher wie in beruflicher Tätigkeit zum Ausdruck kommen. Eine solche Haltung kann sich bei Politikern ebenso zeigen wie bei Unternehmern, bei Wissenschaftlerinnen wie bei Gewerkschafterinnen, bei Angehörigen des Militärs wie bei Künstlern, bei Verantwortlichen in Justiz und Verwaltung, bei Journalistinnen wie bei Aktivistinnen in sozialen Bewegungen. Immer wieder haben sich solche Einzelpersonen und Gruppierungen als bewusst evangelisch verstanden und danach gehandelt. Das geschah zuweilen im mutigen Widerspruch zur herrschenden Meinung und oft zum Segen der ihnen anvertrauten Menschen.
Eine eigenständige und bewusste Kultur evangelischer Eliten ist aber seit einiger Zeit im Rückgang begriffen. Darin wirkt sich neben dem Traditionsabbruch nach 1968 auch eine Eliteskepsis aus, die sich aus den Erfahrungen von erschreckendem Eliteversagen während des Nationalsozialismus und von Blockaden gesellschaftlicher Veränderungsprozesse durch Eliten speiste. Umso wichtiger ist es im Blick zu behalten, wie sich die gesellschaftlichen Konzepte und Leitbilder von "Elite" wandeln, und die Herausforderungen zu sehen, mit denen sich Menschen in verantwortlichen Positionen der Gesellschaft auseinandersetzen müssen auch die Evangelischen unter ihnen.
1.2 Elitenbilder zwischen Exzellenz und Arroganz
Heute ist von Eliten wieder unüberhörbar die Rede; dabei tritt die ganze Ambivalenz des Phänomens "Elite" offen zutage: In Zeiten gesellschaftlichen Wandels und verunsichernden Herausforderungen werden Fehlentwicklungen und Krisenerscheinungen gerne personalisiert und auf das Versagen scheinbar unfähiger und/oder egoistischer Eliten zurückgeführt. Dazu trägt unverantwortliches Handeln von Teilen der Eliten selbst maßgeblich bei. Ein Beispiel hierfür gibt die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, zu der das Versagen Einzelner bzw. bestimmter Gruppen entscheidend beitrug, die "ihre Freiheit allein zur unmittelbaren Verwirklichung von Einzelinteressen" nutzten ("Wie ein Riss in einer hohen Mauer", Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, 2009). Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Vorgängen ist dringend nötig – ein bloßes Ressentiment gegen "die da oben" enthält noch keine Antwort auf die Frage, wie denn gerade komplexe Gesellschaften ohne Eliten gesteuert und gestaltet werden sollen.
Andererseits wächst in Krisenzeiten und angesichts globalisierten Wettbewerbs die Erwartung, dass die großen Herausforderungen durch frühzeitiges Auswählen, Fördern und Etablieren der Besten bewältigt werden können. Elite und Exzellenz werden dann zu Zauberworten für Krisenbewältigung und erfolgreiche individuelle Selbstbehauptung.
So pendelt die öffentliche Wahrnehmung von Eliten zwischen Exzellenzerwartung und Arroganzfurcht, Erlösungshoffnung und Verteufelung. Darin zeigt sich, dass eine zeit- und sachgemäße Verständigung über Chancen und Grenzen von Eliten noch aussteht.
Entscheidend ist dabei die Orientierung an einem Begriff der Elite, der nicht durch Abgrenzung und Verachtung gegenüber der "Masse" geprägt, sondern an der gleichen Würde jedes Menschen orientiert ist. Die Pluralität von Aufgaben und Verantwortlichkeiten im demokratischen Gemeinwesen begründet keine Überordnung der einen über die anderen. Ein angemessener Begriff der Elite muss deshalb demokratisch eingebunden, legitimiert und kontrolliert sein. Die Wahrnehmung von einflussreichen Positionen ist auf ein ausgeprägtes persönliches Verantwortungsbewusstsein angewiesen; wer solche Positionen innehat, muss zugleich bereit sein, sich öffentlicher Kritik und Kontrolle zu stellen. Was die biblische Tradition und der evangelische Glaube zu einem solchen Verständnis von Elite beitragen können, prüft der dritte Abschnitt dieser Schrift.
1.3 Evangelische Eliten ein dringliches Arbeitsfeld für die Kirche
Natürlich hat auch die evangelische Kirche ein eigenes, spezifisches Interesse an den "evangelischen Eliten"; sie hat diesen Eliten auch Eigenes und Spezifisches anzubieten. Die Angehörigen evangelischer Eliten sind Mitglieder ihrer Kirche wie andere auch, deren Teilnahme am kirchlichen Leben erhofft wird und gestärkt werden sollte. Dabei sollten sich Vertreter der Kirche bewusst machen, dass solche Mitglieder aufgrund ihrer beruflichen Situation und ihrer Lebenskultur eigene Ansprüche, Bedürfnisse und Hoffnungen an ihre Kirche richten. Die Erfahrung, in der evangelischen Kirche mit den eigenen Themen und Fragen nicht genügend vorzukommen, hat evangelische Verantwortungsträger zu ihrer eigenen Kirche in Distanz treten lassen; dabei ist die Bindung an den eigenen Glauben und die Erwartung an die Kirche oft durchaus noch lebendig. Enttäuschungen, die durch kirchliches Reden und Handeln in diesem Bereich gewollt oder ungewollt ausgelöst werden, bewirken oft Blockaden.
Um sie zu überwinden, ist eine neue Kultur des wechselseitigen Ernstnehmens erforderlich. Wenn Gemeinden und kirchliche Institutionen die Erwartungen von Menschen in gesellschaftlichen Verantwortungspositionen aufmerksamer wahrnehmen, wird auch das Interesse aneinander wachsen. Die Kirche kann so den Kontakt zu Menschen erneuern, die mit ihren Potentialen und Gestaltungsmöglichkeiten, aber auch mit ihren herausfordernden Erwartungen an die Qualität kirchlichen Handelns für eine zukunftsfähige evangelische Kirche in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld unverzichtbar ist.
Die Aktivitäten von Kirchenleitungen, Diensten und Einrichtungen, Pfarrer/innen und Gemeinden sollten so weiterentwickelt werden, dass der Kontakt zu den Evangelischen in den Eliten gestärkt wird und deren innere Bindung an die evangelische Kirche wieder wächst. Auch die "Gebildeten unter den Anhängern der Kirche" (um F. D. E. Schleiermachers Diktum über die "Gebildeten unter den Verächtern der Religion" zu variieren) müssen in ihren Erwartungen an Begleitung und ansprechende Formen des Glaubenslebens ernst genommen werden. Dadurch wird das Spektrum protestantischer Glaubensgestaltung in einer Weise bereichert, die der Kirche insgesamt zugute kommt. Dafür versucht der vierte Abschnitt dieser Schrift Impulse zu entwickeln.