Evangelische Verantwortungseliten

Eine Orientierung, EKD-Texte 112, 2011

Einleitung

Über Eliten wird gegenwärtig breit und kontrovers diskutiert: Über Elitenförderung, die Erwartung an Eliten und die Wirkung von Eliten für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die vorliegende Schrift möchte eine kirchliche Diskussion über diese Fragen anregen. Sie will evangelisch geprägten Menschen in den Eliten Achtung und Unterstützung entgegenbringen und ihnen helfen, ihre Aufgaben gut zu erfüllen: durch eine vom Evangelium her getragene und geleitete Wahrnehmung von Gestaltungsverantwortung. Sie will Orientierung darüber geben, was sie von Eliten erwarten kann und evangelische Positionen zu diesem Thema in die gesellschaftliche Debatte tragen.

Eliten gibt es in allen Gesellschaften und zugleich sind sie stets umstritten. Ihr Anspruch wird in Frage gestellt, ihre Verpflichtung wird zugleich unterstrichen. Für manche verbindet sich der Begriff mit der Vorstellung angemaßter Überlegenheit. Zugleich lebt jede Gesellschaft davon, dass Menschen bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere einzustehen. Der Begriff der Eliten kann zunächst soziologisch-beschreibend verstanden werden. Mit Eliten werden dann Gruppen von Menschen bezeichnet, die in herausgehobenen Funktionen und Ämtern tätig sind und auf Entscheidungen und Entwicklungen in der Gesellschaft, in ihren Institutionen sowie in sozialen Bewegungen oder Initiativen maßgeblichen Einfluss haben. Unabhängig davon, ob sie diese Aufgabe gut oder schlecht, gemeinwohlorientiert oder egoistisch, erfolgreich oder scheiternd, verantwortlich oder fahrlässig ausführen, sind sie Teil einer Elite. Denn jede Gesellschaft hat Eliten, die in herausgehobener Weise Verantwortung tragen oder tragen müssten. "Funktionselite" ist dafür ein inzwischen geläufiger, scheinbar neutral verwendeter Begriff.

Aus der Perspektive eines evangelischen Menschenbildes kommt es jedoch nicht nur auf die Funktion an, die jemand ausfüllt, sondern auch auf die Verantwortung, die er oder sie als Person zu übernehmen bereit ist. Solche Verantwortungsbereitschaft zu stärken und diejenigen zusammenzuführen, die dafür aus christlichem Geist einstehen, ist an der Zeit. Deshalb stellt dieser Text den Begriff "Evangelische Verantwortungselite" zur Debatte. Damit ist zunächst ein Zugehörigkeitsmerkmal angesprochen: Jemand ist Mitglied in einer evangelischen Kirche, evangelisch geprägt, bezieht sich auf den christlichen Glauben. Der Begriff "Evangelische Verantwortungselite" zielt somit auf evangelische Christen, die ihre gesellschaftlichen Aufgaben aus einer christlichen Überzeugung heraus wahrnehmen. Das führt jedoch mit innerer Notwendigkeit zu der Frage, was sich aus einer solchen Zugehörigkeit für das Handeln in wichtigen gesellschaftlichen Funktionen ergibt. Diese Frage wird dadurch verstärkt, dass in diesem Text nicht nur von "Funktionseliten", sondern eben von "Verantwortungseliten" die Rede ist. Ausgeschlossen werden damit Vorstellungen von Elite, die nur an Herkunft, Besitz oder Bildungsstand anknüpfen. Dieser Text tritt für eine Vorstellung von Elite ein, die ohne jeden Abstrich an der gleichen Würde und dem gleichen Rang jedes Menschen, am gleichen Zugang von Frauen und Männern zu Verantwortungspositionen in Kirche und Gesellschaft sowie an der Befähigungs- und Beteiligungsgerechtigkeit für sozial Benachteiligte orientiert ist.

Nun könnte gegen eine besondere evangelische Beschäftigung mit Eliten eingewandt werden, der evangelische Glaube sei doch gerade der Gleichheit aller Menschen verpflichtet, wie sie im reformatorischen Gedanken des allgemeinen Priestertums aller Getauften zum Ausdruck komme. Dieser Einwand ist insofern richtig, als alle Getauften "electi" (Auserwählte) und in diesem Sinne wörtlich "Elite" sind, die durch ihren Glauben zur Verantwortung für andere befreit sind. In diesem weiten Sinn ist jeder evangelische Christ, jede evangelische Christin Teil "Evangelischer Verantwortungselite". Doch dabei geht es um einen Auftrag Gottes, der allen Christen gemeinsam ist. Er ist zu unterscheiden von den vielfältigen Aufgaben, die Menschen in der Gesellschaft wahrnehmen. Verantwortung kann nach evangelischem Verständnis an jedem Ort in der Gesellschaft wahrgenommen werden. Das bedeutet aber auch: Sie kann und muss erst recht in Funktionen mit besonders weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Menschen, die dies tun, sind "Evangelische Verantwortungseliten" im engeren Sinn. Deren Verantwortung ist nicht Zeichen eines besseren Glaubens, hat aber besonders weitreichende Folgen für unsere Gesellschaft. Gerade weil die evangelische Kirche sich allen Menschen unserer Gesellschaft verpflichtet weiß, ist es durchaus angemessen, wenn sie sich mit dieser Elite in besonderem Maße beschäftigt.

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