Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen

EKD-Text Nr. 65, 1999

1. Einführung in das Thema

Die Verstümmelung der weiblichen Geschlechtsorgane, die im englischen Sprachgebrauch Female Genital Mutilation - FGM - genannt wird, "ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung gegenüber Mädchen und Frauen, die nicht mit kulturellen oder religiösen Traditionen gerechtfertigt werden kann".(1) Diese Feststellung traf die Bundesregierung 1997. Zuvor hatte die internationale Staatengemeinschaft diese sogenannten traditionellen Praktiken bereits eindeutig verurteilt und sich verpflichtet, Anstrengungen zur Bekämpfung der "Beschneidung" von Mädchen und Frauen zu unterstützen. Entsprechende Resolutionen gibt es zum Beispiel von der WHO, der UN-Menschenrechtskommission und von UNICEF. Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) wie "Terre des Femmes" oder die "Internationale Aktion gegen die Beschneidung von Mädchen und Frauen" ([I]NTACT) widmen sich dem Thema seit langem. Die Aktionsplattformen der UN-Menschenrechtskommission in Wien (1993), der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (1994) und der vierten Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) griffen das Problem auf und forderten Gegenmaßnahmen. Vor zwei Jahren tat das u.a. auch der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (Jahrestagung 1997). Im Zusammengang mit den Asylrechts- und Asylverfahrensdebatten wurde immer wieder die Berücksichtigung frauenspezifischer Fluchtgründe, zu denen auch FGM gezählt wird, gefordert.

Allerdings gab es nicht von Anfang an ein so eindeutiges Verständnis von Genitalverstümmelung als Gewalt, Menschenrechtsverletzung und schwere Körperverletzung.

FGM wird in vielen Ländern Afrikas und in einigen Ländern Vorderasiens und sowohl von Moslems wie Christen sowie von Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften praktiziert. In manchen Ländern und Regionen sind über 90 Prozent der Frauen "beschnitten". Diese Praktiken sind z.T. tief in den Gesellschaften verwurzelt und werden mit kulturellen und religiösen Traditionen begründet und gerechtfertigt. Es ist nicht belegt, wie und warum sich in einigen Gesellschaften Genitalverstümmelung als traditionelle Praxis entwickelt hat. Deren Begründungen und ihre Wirkungen lassen darauf schließen, daß es um die Kontrolle des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität geht. Dieser Aspekt ist in vielen patriarchal geprägten Kulturen zu finden, wenn auch in höchst unterschiedlichen Ausprägungen. FGM zu thematisieren kommt vielerorts noch immer einem Tabu-Bruch gleich, so daß Interventionen von außen besonders kritisch gesehen werden. Es gab den Vorwurf einer kulturimperialistisch getönten Einmischung. Es war nicht immer unumstritten, ob ein Engagement von westlicher und christlicher Seite geboten sei, oder ob hier nicht kulturelle Unterschiede und ein anderes Verständnis weiblicher Identität zu respektieren seien. Das Erschrecken über die Grausamkeit dieser "traditionellen Praktiken" darf nicht zu einer moralisierenden Bewertung von außen führen. Für die Gesellschaften, in denen FGM praktiziert wird, gehört diese zu ihrer kulturellen Identität. Alle Bemühungen, diese Traditionen zu überwinden, müssen das berücksichtigen. Rigide Verurteilungen von westlicher Seite, u.U. sogar mit einem skandalisierenden Unterton, können von den betroffenen Bevölkerungen als kulturelle Diskriminierung verstanden werden. Gesellschaftlicher Wandel muß sich zuallererst auf die Bewußtseinsveränderungen im jeweiligen Land stützen. Inzwischen ist ein deutlicher Bewußtseinswandel eingetreten. Vor allem gibt es in den betroffenen Ländern selbst zunehmend Initiativen zur Aufklärung über und Verhinderung von FGM und zunehmend zeigen die internationalen Resolutionen Wirkung. So gibt es zum Beispiel in Gambia, Äthiopien, Burkina Faso und Ägypten "nationale Komitees" gegen traditionelle Praktiken, die die Gesundheit von Kindern und Frauen schädigen. (2) Entsprechende Aktivitäten sind i.d.R. eingebettet in Programme zur gesundheitlichen Aufklärung und Vorsorge sowie zur allgemeinen Bildung. Hier ist jetzt auch Unterstützung von außen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit zunehmend erwünscht, sofern sie mit der notwendigen Sensibilität erfolgt.

Genitalverstümmelung ist nicht nur ein afrikanisches oder vorderasiatisches Problem. Nach Informationen der WHO soll die Zahl der "Beschneidungen" in ausländischen Bevölkerungsgruppen in Europa, Kanada und den USA zunehmen. Jedoch gibt es keine verläßlichen Zahlen. Einzelfälle werden gelegentlich über die Medien bekannt. So ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin gegen drei Ärzte wegen Genitalverstümmelung an Mädchen (Hannoversche Allgemeine Zeitung [HAZ] vom 25. März 1999). In Frankreich kam es erstmalig zu einem Strafprozeß gegen eine Beschneiderin und Eltern von Opfern. Es wurden mehrjährige Haftstrafen verhängt (HAZ, 18. Februar 1999). Dem TV-Magazin "Report" vom 22. März 1999 zufolge seien derzeit 5.000 ausländische Mädchen in Deutschland in der Gefahr, verstümmelt zu werden. Etwa viermal so viele würden zu diesem Zweck in ihre Herkunftsländer gebracht. Die strafrechtliche Verfolgung von Genitalverstümmelung in Deutschland stößt auf große Schwierigkeiten. Die genannten Zahlen sind nicht belegt und möglicherweise auch nicht belegbar. Es ist nicht bekannt, wer diese Eingriffe wo und wie vornimmt. Die Durchführung von Genitalverstümmelung unter Narkose soll laut "Report" in Nordrhein-Westfalen DM 1.200,- kosten. Die Krankenkassen würden davon nichts erfahren. Obwohl die Eingriffe ein Offizialdelikt sind, also von Amts wegen verfolgt werden müssen, warnen einige vor nicht hinreichend begründeten Ermittlungen, da sie die Chancen von Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit verringern könnten.

Die genitale Verstümmelung liefert die betroffenen Mädchen und Frauen Ängsten und unsäglichen Schmerzen aus und läßt sie ihr Leben lang an den Folgen dieser Mißhandlung leiden. Unser christlicher Glaube gebietet, den Nächsten an deren Leib keinen Schaden noch Leid anzutun, sondern ihnen zu helfen und sie zu fördern in allen Leibesnöten. (3) Wo Menschen leiden, sind Christen zur Linderung des Leids aufgefordert. Sie sind aufgerufen, die Situation zu erkennen, sündiges Verhalten zur Sprache zu bringen und Handlungsstrategien zu entwickeln, um Leiden zu beenden.

In den Kirchen, sowohl auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wie in der Ökumene, entwickelte sich, ähnlich wie im gesellschaftlich-politischen Raum, zunehmend ein Bewußtsein dafür, daß Genitalverstümmelung ein schwerwiegender und folgenschwerer Eingriff in die Unversehrtheit des Körpers und der Psyche von Mädchen und Frauen darstellt. So hat sich zum Beispiel die Kenya Evangelical Lutheran Church (KELC) im September 1999 in einem Beschluß zu "harmful traditions" u.a. gegen die Genitalverstümmelung und das Schlagen von Frauen ausgesprochen. (4) Die Impulse zur bewußteren Behandlung des Problems gingen im wesentlichen von zwei Seiten aus: In der EKD und im ökumenischen Kontext gewann das Thema im Rahmen der Diskussion um Gewalt gegen Frauen an Bedeutung. Der kirchliche Entwicklungsdienst und die Missionswerke waren und sind in ihrer Arbeit oft unmittelbar mit FGM konfrontiert und zu praktischem Handeln herausgefordert.

Nachdem sich die Einsicht, daß Genitalverstümmelung Gewalt gegen Frauen ist, immer mehr durchsetzt, fühlen sich die Kirchen aus christlicher und sozialethischer Verantwortung herausgefordert. Schon die ÖRK-Konsultation von 1974 in Berlin zum Thema "Sexismus in den 70er Jahren" prangerte Gewalt gegen Frauen an. Sie war auch durchgängig ein zentrales Thema während der Ökumenischen Dekade "Solidarität der Kirchen mit den Frauen" (1988-1998). Der während der Dekade im Auftrag des Rates der EKD entstandene Bericht "Gewalt gegen Frauen" klassifiziert Genitalverstümmelung als kulturell verankerte strukturelle Gewalt. Auch in Verlautbarungen der EKD zur Asyl- und Ausländerpolitik(5) wurde immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, frauenspezifische Verfolgung als Asylgrund oder zumindest als Grund für einen Abschiebeschutz anzuerkennen.

Einige Landeskirchen(6) griffen in der Folge das Problem der Genitalverstümmelung auf, mit dem sie u.a. durch Partnerschaften mit afrikanischen Gemeinden konfrontiert wurden. Letzten Anstoß zur Befassung mit dem Thema auf EKD-Ebene gaben ein Beschluß der Bayerischen Landessynode sowie vermehrte Anfragen im Frauenreferat und im Afrika-Referat des Kirchenamtes der EKD. Eine amtsinterne Arbeitsgruppe wurde gebildet, die zunächst eine Umfrage bei kirchlichen Dienststellen und Einrichtungen durchführte, um den Informations- und Sachstand zu erheben und zu erfahren, welche Initiativen von seiten der EKD erwünscht sind und hilfreich sein könnten. Befragt wurden die Ökumene-Referate der Landeskirchen, die Frauenreferate, Einrichtungen des Entwicklungsdienstes, die Missionswerke, kirchliche Beratungsstellen sowie Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen. Eine Auswertung dieser Umfrage liegt vor. Ihre Ergebnisse wurden in einer Expertinnen-Anhörung am 11. Dezember 1998 überprüft und ergänzt.

Die Fachfrauen halten eine kirchlich autorisierte Stellungnahme zur Genitalverstümmelung für eine notwendige und hilfreiche Unterstützung ihrer Bemühungen.

Adressatinnen und Adressaten sind in erster Linie Personen und Einrichtungen, die - sich allgemein über das Thema Genitalverstümmelung informieren,


im Bereich von Mission und Ökumene dieser Problematik besondere Aufmerksamkeit schenken und
sich zusammen mit den im Entwicklungsdienst Tätigen für die Abschaffung der Genitalverstümmelung einsetzen wollen,
im Sozial- und Gesundheitswesen, in der Ausländer/innen- und Flüchtlingsarbeit mit der Thematik befaßt sind.
Die Stellungnahme soll Politik, Verwaltung und Rechtsprechung als Information über die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den Fragen der FGM dienen.

Sie hat das Ziel, den Informationsstand über FGM in den Kirchen und darüber hinaus zu verbreitern und zu vertiefen und Problembewußtsein zu wecken bzw. weiterzuentwickeln.

Die Informationen und Argumente dieses Papiers sollen dazu beitragen, die im Asylverfahren zugrunde gelegten Länderberichte, wenn möglich, zu ergänzen. Vor allem aber will die kirchliche Stellungnahme dazu motivieren, Handlungsmöglichkeiten zur Aufklärung über und Verhinderung von FGM zu entdecken und zu nutzen.

Anmerkungen

1: Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage im Deutschen Bundestag, Bundestags-Drucksache 13/8281 vom 23.07.1997, S. 2.

2: Gambia: "Assoziation zur Förderung von Frauen und Mädchen in Gambia" (Association for Promoting Girls' and Women's Advancement [APGWA]), 1993 schlossen sich einige Hebammen, Krankenschwestern und eine Soziologin zusammen; oberstes Ziel: Abschaffung von Genitalverstümmelung; u.a. durch Aufklärungsworkshops, Aufzeigen von anderen Verdienstmöglichkeiten für Beschneiderinnen (vgl. Die Frauen denken, es sei gut für sie, in: Menschenrechte für die Frau, Terre des Femmes 2/1997). Äthiopien: Nationaler Ausschuß für traditionelle Verfahren in Äthiopien ("National Committee on Traditional Practices in Ethiopia" [NCTPE]), gegründet 1987; Schulungs- und Aufklärungskampagnen; Zielgruppe: Beschneiderinnen, Geburtshelferinnen, religiöse Führer, Dorfälteste (vgl. Ein Video gegen die Tradition, in: Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Flüchtlinge, Heft III-1996, S. 19ff). Burkina Faso: Auf Regierungsebene wurde 1988 ein "Nationales Komitee zum Kampf gegen die Beschneidung" gegründet; das Komitee versucht durch Lieder, Filme und Theater das Thema in den Dörfern zur Sprache zu bringen (vgl. Gaus/Johnson: Aus Kindern richtige Menschen machen, in: TAZ vom 2.6.1995, S. 13). Ägypten: 1994 wurde "Egyptian NGO Task Force" von Organisationen und Einzelpersonen gegründet; ein Schwerpunkt ist u.a. die Abschaffung von Genitalverstümmelung (vgl. Female Genital Mutilation - The Egyptian NGO Task Force Position Paper, newsletter 64, 1998, S. 29ff).

3: Siehe dazu: Luther, Dr. Martin, Der Kleine Katechismus, Erklärung zum 5. Gebot, S. 539, in: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hrsg. vom Lutherischen Kirchenamt, Gütersloh 1991, S. 539, dritte erw. Auflage.

4: Synod of the Kenya Evangelical Lutheran Church, P.O. Box 54128, Nairobi, Kenya.

5: Vgl. EKD-Texte 55 "Asylsuchende und Flüchtlinge. Zweiter Bericht zur Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung", Hannover 1995. "... und der Fremdling, der in deinen Toren ist." Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, Bonn/ Frankfurt am Main/ Hannover 1997.

6: "Genitale Verstümmelung von Mädchen und Frauen", Beschluß der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern vom 27./28. November 1997: "In letzter Zeit hat das Thema 'genitale Verstümmelung von Mädchen und Frauen' im Zusammenhang mit der Diskussion über Gewalt gegen Frauen öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Diese extreme Form der sexuellen Gewalt gegen Frauen ist eindeutig eine Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit. Gleichzeitig ist sie aber auch ein sensibles Thema, da das Vorgehen gegen die alten patriarchalen Traditionen als Einmischung von außen und oft als Diktat westlicher Lebensweise abgelehnt wird. - Die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern erklärt ihre Solidarität mit den Frauen und mit den Frauenorganisationen in den betroffenen Ländern, die Projekte zur Verhinderung von genitaler Verstümmelung durchführen. - Sie bittet das Missionswerk und den Kirchlichen Entwicklungsdienst, die Arbeit vor Ort zur Abschaffung derartiger Praktiken zu unterstützen und entsprechende Projekte, möglichst auch finanziell, zu fördern. Sie bittet aber auch, im Dialog mit Christen vor Ort immer wieder aufs Neue darauf hinzuweisen, daß nach biblischem Verständnis Mann und Frau gleichwertig sind und dieselbe Würde besitzen. - Die Landessynode erklärt ihre Solidarität mit den Frauen, die an den Folgen genitaler Verstümmelung leiden, und mit denen, die diesen Frauen - auch Migrantinnen in Deutschland - medizinischen und psychosozialen Beistand leisten. Die Landessynode fordert, daß Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen und Sozialdienst, in Flüchtlingsheimen und -beratungsstellen sowie in den Beratungs- und Begegnungszentren für Migrantinnen umfassend über genitale Verstümmelung informiert und fortgebildet werden, damit sie kompetent beraten können. - Die Landessynode bittet den Gesetzgeber, die rituelle Verstümmelung weiblicher Genitalien explizit (nicht nur als Körperverletzung nach §§ 223 bis 225 Strafgesetzbuch) unter Strafe zu stellen." In der Nordelbischen Kirche wird zum Thema FGM gearbeitet; die Ergebnisse der EKD sollen berücksichtigt werden. In der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers hat das Ev.-luth. Missionswerk eine Thesenreihe erarbeitet, nachdem es den Fragebogen des Kirchenamtes der EKD erhalten hatte. Die Landessynode der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers hat in ihrer 59. Sitzung am 4.6.1999 einen Beschluß zur genitalen Verstümmelung von Mädchen und Frauen gefaßt, in dem sie ihre Solidarität mit allen Partnerkirchen und Organisationen bezeugt, die gegen solche Praktiken vorgehen. Sie gibt eine kurze theologische Begründung, "... da derartige Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der christlichen Ethik und ihrem Menschenbild widersprechen." Die Landessynode gibt konkrete Empfehlungen an kirchliche und staatliche Stellen im Inland und an entwicklungspolitische Träger für die Arbeit im Ausland. Im November 1999 hat die Synode der Evangelischen Kirche von Westfalen in ihrem Beschluß "Genitale Verstümmelung von Mädchen und Frauen" ihre "Solidarität mit Frauen und Frauenorganisationen, die Projekte in verschiedenen Ländern zur Verhinderung genitaler Verstümmelung durchführen", erklärt.

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